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"Ich verweigere, was man Pathos nennt"

In "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen" hat Robert Bober seine Anfänge als Filmemacher beschrieben: seine Zeit als Assistent des weltberühmten Regisseurs François Truffaut Anfang der 60er. Auch beim Kultfilm "Jules und Jim" war er dabei. Christoph Vormweg traf Robert Bober in Paris.

Von Christoph Vormweg |
    Spät mit dem Schreiben zu beginnen, muss kein Nachteil sein - zumal, wenn man sich, wie Robert Bober, bereits im Filmgeschäft ästhetische Kriterien erarbeitet hat. Trotzdem musste der 1931 in Berlin geborene, 1933 nach Paris emigrierte Sohn polnischer Juden eine innere Hürde überspringen. Entscheidend dafür war die Begegnung mit einem anderen Sohn polnischer Juden, einem der wichtigsten Schriftsteller der französischen Nachkriegsliteratur.

    "Georges Perec ist einfach für enorm viele Leute wichtig. Perec hat mich zum Schreiben ermuntert. Da hatte ich schon viele Filme gedreht, darunter "Berichte über Ellis Island" nach seinem Text. Als wir 1980 zusammen nach Brüssel fuhren, um den Film vorzustellen, sagte ich ihm, mir ginge schon seit einiger Zeit die Idee zu einer Novelle durch den Kopf. Ich schilderte sie ihm. Und er sagte: "Das ist gut, schreib sie!" - "Aber nein", entgegnete ich, "ich bin doch kein Schriftsteller". - "Doch, doch, du musst sie schreiben", beharrte Perec, "das ist eine schöne Novelle." Und ich: "Also wenn du sie schön findest, dann schenke ich sie dir." Denn er würde das perfekt machen, ich aber sei einfach kein Schriftsteller. "Aber du schreibst doch die Texte zu deinen Dokumentarfilmen", hakte er nach. "Ja", sagte ich, "ich schreibe sie, aber ich fühle mich da von den Bildern beschützt." Und das Wort `beschützt´ ist kein Zufall, wenn man kein Abitur hat. Ich hatte eine Heidenangst davor, vor einem weißen Blatt Papier zu sitzen – ohne die Bilder. Viel später, schon nach Perecs Tod, kam mir diese Geschichte manchmal wieder in den Sinn. Ich wusste: Um sie loszuwerden, musste ich sie aufschreiben. Also schrieb ich die Novelle, acht Seiten, steckte sie in eine Schublade und vergaß sie. Beim Aufräumen fand ich sie dann irgendwann wieder und sagte mir: "Die ist ja gar nicht so schlecht." So gab ich sie einem befreundeten Verleger. Und der rief mich gleich am nächsten Tag an und sagte: "Ich will die Fortsetzung." - "Es gibt keine Fortsetzung", entgegnete ich, "das ist eine Novelle mit einem Anfang und einem Ende." Aber er sagte: "Doch, doch, es gibt eine Fortsetzung." Und ich: "Das ist nicht möglich! Wie können Sie wissen, dass es eine Fortsetzung gibt, wenn ich sie nicht kenne." Und er sagte: "Weil ich Verleger bin."

    Die achtseitige Novelle wurde zum Anfangskapitel von Robert Bobers erstem Roman "Was gibt's Neues vom Krieg?" Er war schon über 60, als das Buch 1993 in Frankreich erschien und zwei Jahre später auch bei uns für Aufsehen sorgte. Schon damals verarbeitete Robert Bober persönliche Erfahrungen, die er als Schneider in einem Pariser Atelier nach Ende des Zweiten Weltkriegs gemacht hatte. Es herrschte Euphorie unter den Überlebenden des Holocaust. Doch dabei blieb es nicht, wie Robert Bober, der mit seinen Eltern in einem Versteck überlebte, in seinem zweiten Roman "Berg und Beck" beschrieb. Die Arbeit in einem Heim für jüdische Waisenkinder konfrontierte ihn mit den Langzeitwirkungen des Holocaust. Auch in seinem neuen Roman "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen" sind die Abwesenden in den jüdischen Familien allgegenwärtig. Doch zu Beginn der 1960er-Jahre hat der Alltag wieder die Oberhand gewonnen. Per Zufall begegnet Ich-Erzähler Bernard einem alten Bekannten: seinem ehemaligen Betreuer aus der Ferienkolonie für jüdische Kinder, einem gewissen Robert, der mittlerweile als Assistent für den Filmregisseur François Truffaut arbeitet.

    "In den drei Büchern zuvor bin ich nicht namentlich gegenwärtig. Ich sage bewusst: namentlich. Der Schriftsteller, der Ihnen sagt, er wäre in seinen Figuren nicht präsent, ist ein Lügner. Immer gibt es hier und da etwas von einem selbst. Letztendlich ist man die Addition verschiedener Figuren. Von den einen hat man mehr, von den anderen weniger. Und da der Film 'Jules und Jim' in dem Buch eine Rolle spielt, habe ich mir gesagt: Ich werde jetzt keinen anderen Truffaut-Assistenten erfinden. Denn ich war ja sein Assistent. Aber ich wollte auf keinen Fall die Hauptfigur sein. Ich bin als Nebenfigur präsent: als ein Fährmann, der es Bernard erlaubt, mit seinen Recherchen zu beginnen."

    Bernard, auch er Sohn polnisch-jüdischer Eltern, trifft Robert, als er gerade Fotos von potenziellen Drehorten schießt. So lernt er nicht nur versteckte, ungemein pariserische, heute meist verschwundene Ecken im 19. und 20. Arrondissement kennen, sondern er erfährt auch, wie man ohne praktische Vorkenntnisse zum Assistenten des großen François Truffaut werden konnte. Alles begann mit einer Zeitungsanzeige. Truffaut suchte für seinen nächsten Film jugendliche Statisten. Da bewarb sich Robert, um sie zu betreuen, wurde aber abgelehnt. Als sie beim Drehen zu sehr lärmten, erinnerte sich Truffaut an die Bewerbung und stellte Robert ein. Seine stille Passion für die Filmarbeit ermöglichte ihm den Aufstieg zum Assistenten.

    "Truffaut war sehr verschwiegen. Man musste seine Arbeit tun. Aber ab und zu gab es ein Gespräch. Eines Tages fragte er mich im Auto: 'Was halten Sie von den Dreharbeiten?' Für mich war das eine weit reichende Frage. Ich sagte: 'Ich weiß nicht genau, was ich dazu sagen kann. Aber ich habe bemerkt, dass Sie sich beim Drehen zuerst den moralischen Problemen stellen - und erst dann den technischen.' Ich hatte also nichts zu Kamerafahrten, Panorama-Einstellungen, Vogel- und Froschperspektiven oder anderen technischen Fragen gesagt. Sein Gesicht zeigte jedoch, dass er zufrieden mit meiner Antwort war. Und noch eine andere Sache: Ich hatte eine riesige Dokumentation möglicher Drehorte in Paris zusammengestellt, weil ich einfach gern spazieren gehe. Truffaut aber berücksichtigte sie kaum. Während der Montage schnitt er sogar noch etliche Einstellungen von Örtlichkeiten heraus. Ich sagte mir damals: Bei dem Film, den wir drehten, hatte er Recht. Denn Orte können eine bloß dekorative Seite haben. Und Truffaut wollte ganz auf die Figuren bauen. Die Figuren gingen für ihn vor. Für mich war das eine Lektion. Wenn ich Bücher wie das vorliegende schreibe, arbeite auch ich vor allem mit meiner Vorstellung von den Figuren. Für jede Figur stelle ich ein Dossier mit Karteikarten zusammen: von Bernard, seiner Mutter, seiner Großmutter, seinem kleinen Bruder et cetera. Und irgendwann, wenn sie anfangen zu existieren, wenn sie Fleisch und Blut annehmen, wenn ich ihnen nichts mehr vorschreiben kann, sie zu nichts mehr zwingen kann, weil sie Widerstand leisten würden, sage ich mir: So, jetzt kann ich anfangen zu schreiben."

    Für den Ich-Erzähler Bernard bringt die Begegnung mit Robert Bewegung in den Alltag. Denn er bekommt eine Statistenrolle in Truffauts Film "Jules und Jim". So trifft er nach sieben Jahren Laura aus der Ferienkolonie wieder. Mit ihr soll er ein Liebespaar im Café spielen, was ihm gehörig den Kopf verdreht. Weit wichtiger aber ist für ihn, dass er die geheime Seite seiner Mutter kennenlernt. Nachdem sie "Jules und Jim" zusammen im Kino angeschaut haben, gesteht sie, dass auch ihr Leben von einer Dreiecksgeschichte bestimmt ist. Bernard erfährt, dass sein Vater, der nicht aus Auschwitz zurückkehrte, und sein späterer Stiefvater, der bei einem Flugzeugunglück umkam, in der polnischen Heimat Freunde und beide in seine Mutter verliebt waren. Der Film "Jules und Jim" wird so zum Spiegel der eigenen Familiengeschichte. Mehr noch: Die Recherche, die Bernard beginnt, wird zum Motor des Plots. Die Abwesenden befeuern seine Fantasie. Doch ist Bernard – genauso wie sein Freund Robert - ein überaus genauer Spuren- und Faktensucher. Wenn er sich zum Beispiel vorstellt, wie sein Vater den Judenjägern in die Hände fiel, möchte er, dass der Ablauf der vorgestellten Ereignisse allen gesammelten Indizien standhält. Mit einem Wort: Jedes Detail zählt.

    "Es ist schon merkwürdig. Bei diesem Buch fragen mich viele, was wahr ist und was nicht. Für mich ist das eine falsche Fragestellung. Selbst wenn ich es sagen würde, bliebe doch der Eindruck, den das Buch hinterlassen hat. Wichtig ist, dass sich der Leser nicht bewusst wird, was wahr ist und was nicht. Wenn ich das Buch Roman nenne, muss man sich sagen, dass es Erfundenes darin gibt. Sonst würde ich es Bericht oder Tagebuch nennen. Ein Bericht muss wahr sein, sage ich immer, ein Roman zutreffend. Das ist eine kleine Nuance, die wichtig ist."

    "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen" ist ein unprätentiöser, in seinen alltäglichen Beobachtungen feinsinniger, bewegender Roman. In der deutschen Übersetzung hat Tobias Scheffel Robert Bober zum dritten Mal seinen sensiblen, leisen, immer genauen, detailverliebten Erzählton gegeben. Ein Realismus, der auf grelle Effekte abzielt, ist ihm fremd.

    "Ich verweigere, was man Pathos nennt. Je mehr Dinge man erzählt, die schmerzlich sein können, desto mehr muss man auf Distanz gehen. Was nicht heißt, dass man neutral ist. Aber ich rufe kein Violinen-Orchester herbei, wenn ich schreibe: aus Respekt vor meinen Figuren - und auch aus Respekt vor dem Leser. Ich will nicht, dass er alle drei Minuten das Taschentuch zückt, um sich die Tränen abzuwischen – obwohl ich selbst, wenn ich ins Kino gehe, immer der Erste bin, der weint, und der Erste, der lacht. Deshalb gibt es in allen meinen Büchern auch lustige Momente. Doch folgt auf ein lustiges Kapitel nicht automatisch ein trauriges. Beides muss sich gleichzeitig abspielen. Manchmal gibt es dramatische Situationen, die einen zum Lachen bringen, manchmal Lächerliches mit einer gewissen Tiefe. All das muss sich vermischen."

    Die tragikomischen Momente, die Robert Bobers Erstling "Was gibt's Neues vom Krieg?" auszeichneten, sind in seinem neuen Roman seltener anzutreffen - etwa, als die Großmutter den im Salat gefundenen Frosch entsorgen will und Bernards kleiner Bruder Alex aufschreit: Oma sei "antisemitisch zu Fröschen".

    "Begegnungen" - so hätte man den Roman "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen" auch nennen können, sagte mir Robert Bober. Denn die menschliche Existenz kenne keinen ausgetüftelten Plot. Vieles bleibe folgenlos, wie der Moment inniger, ahnungsvoller, aber körperloser Nähe mit einer Unbekannten, die im Kino neben Bernard sitzt. Andere Begegnungen wieder besäßen Zukunftspotenzial: so die mit Ruth, einer jungen Deutschen, die sich für die französischen Lager interessiert, in denen Juden und politische Emigranten aus Nazi-Deutschland nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs interniert wurden. Ruth hat, wie Bernard erfährt, mit ihrem Elternhaus gebrochen, weil ihr Vater nicht zugeben will, wie er zur Nazi-Größe wurde.

    Bernards Besuch bei Ruth in Berlin bleibt aber nicht ohne Hindernisse. Denn die Judenvernichtung und ihre lange Vorgeschichte wirken weiter. Am Ende des Romans, als er in die Heimat seiner Eltern und nach Auschwitz aufbricht, wo sein Vater starb, fasst Bernard das Dilemma in dem paradoxen Satz zusammen: "Heute fahre ich nach Polen zurück, ohne jemals dort gewesen zu sein."

    Robert Bober: Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Kunstmann Verlag, München 2011. 258 Seiten, 19,90 Euro.