Wer darf was sagen? Wer hat das Recht, worüber zu sprechen? Darüber wird gestritten - und das so heftig, dass man denken könnte, da gibt es nur noch wenig, was die Gesellschaft zusammenhält. Sie scheint auseinanderzufallen, in verschiedene Gruppen: Autofahrer und Klimaschützer, alte weiße Männer und junge, kritische Frauen, Veganer und Steak-Freunde, Querdenker und Aufklärer, Gasheizer und Solar-Anhänger. Man wirft sich gegenseitig Ausschluss und Zensur vor - "Cancel Culture".
Aber woher kommt das überhaupt? Wie ist die Vorstellung von Identität und Individualität überhaupt entstanden? Und was sagt uns das für die heutige Debatte?
Was ist Identitätspolitik?
Darunter versteht man, dass Menschen sich als Gruppe erkennen und sich für die eigene Anerkennung einsetzen. Sie wollen als Gruppe wahrgenommen und gehört werden. Der Begriff kommt aus den USA und geht zurück auf das Manifest einer Gruppe schwarzer Feministinnen aus dem Jahr 1977. Im "Combahee River Collective Statement" heißt es:
"Wir haben erkannt, dass die Einzigen, denen wir wichtig genug sind, um konsequent für unsere Befreiung zu arbeiten, wir selbst sind. Unsere Politik entwickelt sich aus einer gesunden Liebe zu uns selbst, unseren Schwestern und unserer Gemeinschaft, die es uns ermöglicht, unseren Kampf und unsere Arbeit fortzusetzen. Diese Konzentration auf unsere eigene Unterdrückung wird durch das Konzept der Identitätspolitik verkörpert. Wir glauben, dass die tiefgreifendste und potenziell radikalste Politik direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht, im Gegensatz zur Arbeit für die Beendigung der Unterdrückung durch jemand anderen."
Es geht also darum, jemand zu sein, anerkannt zu werden, mitreden zu dürfen und nicht im Extremfall den Rassismus der anderen hinnehmen zu müssen.
Wie ist die Vorstellung von Identität entstanden?
Im Mittelalter gab es außer bei ganz herausgehobenen Leuten noch keine richtige Vorstellung von Individualität. Es gab Kleriker und Adelige - der Großteil der Menschen waren aber Bauern oder Handwerker. Jeder hatte seinen Platz in der göttlichen Ordnung. Daraus auszubrechen, war kaum möglich.
In der frühen Neuzeit setzte ein Wandel ein, man entdeckte den Menschen als Individuum, man entdeckt das Ich. Etwa in der Kunst: Es gab mehr Porträts, die nicht mehr auf Repräsentation aus waren, sondern den individuellen Menschen zeigten. Es entstanden erste Autobiographien und Tagebücher, und auch die Wissenschaft nahm das Individuum in den Blick. Ganz neu waren Anatomie, Physiognomie, Anthropologie, Psychologie und Pädagogik.
"Ich denke, also bin ich", schrieb der Philosoph René Descartes im 17. Jahrhundert. Es ist also eher das Innere als das Äußere, das den Menschen ausmacht, seine Fähigkeiten und nicht seine Stellung in der Gesellschaft. Im 18. Jahrhundert begann dann die Aufklärung. Sie ist, laut Immanuel Kant, die "Befreiung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". Der Mensch kann mündig werden, Entscheidungen für sich selbst treffen, die Welt verstehen - und das alles aus sich heraus.
In der "Kritik der praktischen Vernunft" schrieb Kant 1788: "Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir". Mehr also ist da nicht als ein Mensch, ein Individuum mit Moral und Verstand, keine Vorschriften, kein vorherbestimmtes Schicksal. Im Prinzip kann sich jeder die Welt selbst erschließen. Das unterscheidet die Menschen von den Dingen. Die haben keinen Wert an sich, der Mensch aber schon, eine Menschenwürde, die unantastbar ist. So sagt es heute Artikel eins des Grundgesetzes. "Sapere aude" war Kants Motto: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.
Kant meinte aber noch nicht alle Menschen. Zwar heißt es in seiner "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" (1785): "Handle so, dass du die Menschheit sowohl hinter einer Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck niemals bloß als Mittel brauchst." Allerdings hatte er mit dem Sklavenhandel seiner Zeit keine Probleme.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel führte den Individualismus noch weiter: Ihm war klar geworden, dass es den einen Blick auf die Welt nicht gibt. Die Welt ist vielschichtig und widersprüchlich, und wenn man ihr gerecht werden will, dann geht das nur, wenn man diese Widersprüche anerkennt und versucht, das Ganze zu sehen. Und genau das kann der Mensch nach Hegel: die Welt als Ganzes erfassen, inklusive Widersprüche. Besonders gut kann das die Kunst oder besser der Künstler, die Künstlerin, also das Individuum. Philosophieren heißt, frei leben zu lernen, sagt Hegel.
Außenseiter: Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard
Radikale Selbstbefreier waren dann drei Philosophen im 19. Jahrhundert: Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard - allesamt Außenseiter, die nur für sich und ihr schriftstellerisches Werk lebten und sich die Frage stellten, wer darüber entscheidet, wer sie sind. Das Ich wird zur zentralen Instanz. "Sie waren die ersten, die aus ihrem Selbstgefühl heraus eine Philosophie entwickelt haben - und das ist revolutionär gewesen", sagt Autor Eberhard Rathgeb, der über die drei Denker ein Buch geschrieben hat. "Sie sind auf jeden Fall die ersten, die sich gewehrt haben gegen Zuschreibungen und Entscheidungen aus dem Topf des Allgemeinen, aus unterschiedlichsten Gründen." Sie wandten sich gegen die zunehmende Vergesellschaftung und setzten ganz auf Individualität, um dem Selbstverlust zu entgehen.
Damit waren Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard ihrer Zeit voraus - sie sahen die Gefahren der "Vermassung", die im 20. Jahrhundert im Nationalsozialismus ihren grausamen Höhepunkt erreichte. Auf jede Abweichung wurde mit schärfsten Maßnahmen reagiert, die eigenen Ziele wurden über das Leben von Millionen von Menschen gestellt. Ein Verbrechen wie die Shoah wäre wohl nicht denkbar, ohne dass Propaganda den Blick auf das Individuum und dessen Würde eliminiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man nichts mehr von Massenbewegungen wissen und setzte auf Individualität. In den 1960er- und 70er-Jahren kam es zur Psychologisierung der Gesellschaft. Durch Kritik am Selbst und an der Gesellschaft sollte Fortschritt möglich werden.
Aber manche sind noch immer gleicher als andere. Und das sehen viele heute kritisch. Deswegen wird gestritten über Identitäten und Privilegien. Gerade gesellschaftliche Minderheiten wollen nicht mehr hinnehmen, dass sie klassifiziert und beschrieben werden von denen, die in der Mehrheit das Sagen haben.
Wo steht die Identitätsdebatte heute?
Die Schriftstellerin Mithu Sanyal hat sich mit dem Thema auseinandergesetzt, nicht nur wegen ihrer eigenen Herkunft (ihr Vater stammt aus Indien), sondern auch für ihren Roman "Identitti" (2021). Sie weist darauf hin, dass sich die Wortbedeutung von Identität gewandelt habe. Früher habe sie den Sinn "Individualität" gehabt, heute bedeute Identität die Zugehörigkeit zu einer Gruppe.
Wichtige Faktoren für unsere Identität und damit auch für die Identitätspolitik sind Hautfarbe und sexuelle Orientierung, außerdem die soziale und nationale Herkunft - und all das natürlich in jeder und jedem vielfach kombiniert. Wenn heute unterschiedliche Identitäten aufeinanderprallen, ist das für manchen und manche oft schwer auszuhalten.
Mithu Sanyal kennt diese Spannung aus eigener Erfahrung. Sie ist dennoch überzeugt , dass der Streit über Identität gut für uns ist: "Ich glaube nämlich, dass hier alle unglaublich viel gewinnen können." Noch stelle man sich die Frage: Wer darf jetzt so etwas sagen? "Ich glaube aber, das wird sich lösen. Und im Endeffekt werden wir alle viel, viel mehr sagen können, wenn wir da durch sind."
"Natürlich gibt es Leute die sagen: Weiße können überhaupt niemals nachfühlen, wie es sich anfühlt, für egal wen. Das glaube ich überhaupt nicht", so Sanyal. "Ich glaube, dass die Fähigkeit von Menschen ist, dass wir uns extrem gut einfühlen können. Aber zu lange ging Einfühlung nur in eine Richtung."
Es gehe in den aktuellen Debatten nicht ums "Canceln", sondern um Kritik und Aushandlungsprozesse, nicht über die Vergangenheit, sondern über die Zukunft. Es gehe um die Frage: Wie wollen wir in Zukunft Bücher schreiben? Aber das müsse man anhand der Vergangenheit führen. "Ich persönlich würde kein einziges Buch umschreiben. Ich würde aber in ganz vielen Büchern lange Vor- und Nachworte schreiben."
Mithu Sanyal glaube nicht an einen Gegensatz von Redefreiheit und Sicherheit, dass die einen sich zurücknehmen müssten, damit andere sich sicher fühlten. Ihr liege viel an Redefreiheit, sagt sie, das sei ein ganz großer Wert. "Aber dass wir es als Gesamtgesellschaft diskutieren, finde ich erst mal ein total positives Zeichen."
Jörg Biesler, leg