Twitter, TikTok und Co. – die moderne Medienlandschaft eröffnet marginalisierten Gruppen neue Wege. Sie können sich online organisieren, gewinnen eigene Lobbys und finanzielle Unterstützung. Doch auch Hasskommentare finden sich zuhauf. Eine Folge von radikalen Identitätspolitiken?
Zwischen Bedrohung und Empowerment
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse kritisierte im Deutschlandfunk die Dynamiken von rechter sowie linker Identitätspolitik: Von einer Seite führe sie zu Gewalt und Ausschließung, von der anderen zur sogenannten Cancel Culture.
Doch die beiden politischen Extreme sollten dabei nicht vorschnell gleichgesetzt werden: Jörg Scheller macht darauf aufmerksam, dass es sich um zwei grundverschiedene Strömungen handelt. Die rechte Identitätspolitik profitiert vor allem vom Narrativ eines bedrohten Großkollektivs, beispielweise durch eine Minderheit. Diese Form der Identitätspolitik gibt es schon immer, besonders fatal brach sie sich im nationalsozialistischen Deutschland Bahn.
Werdendes vs. Bestehendes
Die linke Identitätspolitik formte sich erst in den 1970er-Jahren in den USA, angestoßen durch queere und afroamerikanische Aktivisten und Aktivistinnen. Hier standen Solidarität, Empowerment und die Sichtbarmachung marginalisierter Gruppen im Vordergrund. Jörg Scheller sieht einen entscheidenden Unterschied: "Die linke Identitätspolitik bezieht sich eigentlich auf das Werdende und die rechte Identitätspolitik, die bezieht sich auf das bereits Bestehende." Beides kann problematisch sein, je nachdem in welcher Form die jeweiligen Gruppen aktiv werden und sich Gehör verschaffen. Aufmerksamkeitsökonomische Ausbeutung und demagogische Verzerrung kann es auf beiden Seiten geben.
Identitätspolitik als Chance
Auch Jörg Scheller ist sich bewusst: Über die Kategorisierung des Gegenübers kann verloren gehen, dass der Mensch im Grunde ein mit Fantasie ausgestattetes Möglichkeitswesen ist und simple Einordnungen nicht ausreichen, um dies zu erfassen. Viele Gruppen wurden im Laufe der Geschichte durch andere identifiziert und damit auf- oder abgewertet. Diese Identitäten müssen thematisiert werden, sagt Scheller. Wichtig ist es jedoch, weiterzugehen und den Blick zu schärfen für die Komplexität des Anderen. Anschließend können dann Verbindungen zueinander entstehen.
Den Anderen imaginieren
Dazu ist es ebenso nötig, die eigene Komplexität anzuerkennen - kein leichtes Unterfangen, denn Kategorisierungen bieten Sicherheit. Jörg Scheller nimmt sich den Philosophen John Rawls zum Vorbild: Wenn wir eine gerechte Gesellschaft denken wollen, müssen wir von unserer Identität Abstand nehmen und uns als Andere imaginieren. Mit diesem Hineinversetzen in unsere Mitmenschen birgt Identitätspolitik ein großes Potential, findet Jörg Scheller: "Das brauchen wir. Aber – wie gesagt – wir dürfen nicht dabei stehenbleiben."
Jörg Scheller, geboren 1979, ist ein deutscher Kunstwissenschaftler, Journalist und Musiker. Er lehrt an der Zürcher Hochschule der Künste. Sein Buch "Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft" erschien im Mai 2021.