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Identitätsstiftung
"Im Heimatmuseum wird Vergangenheit oft verklärt"

Heimatmuseen böten in der Regel ein nur monokausales Identifikationsangebot für die Menschen einer bestimmten Region, sagte Elisabeth Tietmeyer im Deutschlandfunk. Zudem erläuterte die Leiterin des Museums Europäischer Kulturen in Berlin, wie sich ihr Haus vom klassischen Heimatmuseum unterscheidet.

Elisabeth Tietmeyer im Gespräch mit Beatrix Novy |
    Eine Mann geht am 21.07.2016 in Berlin an der Gemeinschaftsarbeit "Boot" in der Ausstellung "daHeim: Einsichten in das flüchtige Leben" vorbei. Die Ausstellung im Museum Europäischer Kulturen wurde von der Flüchtlingsinitiative Kunstasyl gestaltet und nimmt Bezug auf Zuwanderer durch Flucht in Deutschland und Europa. Die Arbeiten entstanden in der Zusammenarbeit von Künstlern mit den Flüchtenden. Die Ausstellung eröffnet am 22.07.2016 ist bis 02.07.2017 geöffnet. Foto: Wolfram Kastl/dpa | Verwendung weltweit
    Ausstellung "daHeim: Einsichten in das flüchtige Leben" (picture alliance / Wolfram Kastl)
    Beatrix Novy: Heimatmuseum - das hat so wie der Begriff Heimat selbst einen etwas unzeitgemäßen Klang. Und deshalb wollte ich von Elisabeth Tietmeyer zuerst einmal wissen: Warum und seit wann gibt es eigentlich diese Museen?
    Elisabeth Tietmeyer: Das Heimatmuseum ist im landläufigen Sinne eine Institution, die die Geschichte eines Ortes zeigt. Oft wird die eigene Vergangenheit dort verklärt. Früher in jedem Fall, heute ist es zum Teil auch noch so. Man gibt also in diesem Ort oder in diesem Museum ein monokausales Identifikationsangebot. Das Museum, das Heimatmuseum ist ein identitätsstiftender Ort.
    Novy: Seit wann gibt es denn Heimatmuseen?
    Tietmeyer: Die Heimatmuseen wurden in den 1920er-Jahren entdeckt beziehungsweise initiiert, und das hing natürlich mit der Krise der Moderne zusammen, die ein bisschen eher natürlich anfing, während der Industrialisierung war man irritiert. Es war eine große Wende im gesellschaftlichen Leben, und da hat man versucht, etwas dagegenzuhalten, indem man eine gewisse Agrarromantik verfolgte, und eine Großstadtfeindlichkeit hing damit natürlich auch zusammen. Und man versuchte, die Erinnerung an das frühere Leben, an die gute alte Zeit aufrechtzuerhalten beziehungsweise zu initiieren.
    Novy: Also früher war alles besser, da haben die Frauen noch am Spinnrocken gesessen?
    Tietmeyer: Ganz genau. Da war die Welt noch in Ordnung, im Gegensatz zu der damaligen Welt, die ja gerade in einem großen Umbruch war mit der Industrialisierung.
    Novy: Aber die sozialen Bewegungen der 70er haben da ja doch schon einiges erreicht, indem man nämlich die negativen Seiten dieser Vergangenheit herausgestellt hat.
    Tietmeyer: Ja, man ist wirklich sozialhistorisch vorgegangen, da hat sich wirklich was getan. Es war auch ein weiterer Museumsboom, gerade in den 70er- und 80er-Jahren. Und das hing natürlich auch ein Stück weit mit der kommunalen Neuordnung in Deutschland, besonders auch NRW, zusammen. Dort wurden dann aufgrund dessen wieder viele Museen gegründet.
    Novy: Kommen wir doch einmal auf das Museum zu sprechen, das Sie leiten, das Museum Europäischer Kulturen in Berlin. Das ist ja entstanden aus dem ehemaligen Volkskundemuseum, auch wahrscheinlich ein erweitertes Heimatmuseum, Unterabteilung Europa im Museum für Völkerkunde. Was machen Sie mit der Möglichkeit, Europa darzustellen in Ihrem Museum, und wie machen Sie es anders als das, was früher passiert ist?
    Menschen sollen sich selbst repräsentieren
    Tietmeyer: Wir stellen nicht Europa dar, das ist mal klar. Wir sind auch kein Europa-Museum, und wir machen auch keine europäische Völkerkunde – also dass wir das Volk der Griechen oder der Franzosen oder der Deutschen darstellen. Das ist unmöglich mit Objekten zu machen. Darum nennen wir uns ja auch Museum Europäischer Kulturen – nicht die europäische Kultur, sondern Kulturen, denn wir betrachten den Kulturbegriff sehr differenziert. Er ist nicht statisch, er ist dynamisch. Und es gibt eben verschiedene Gruppierungen mit unterschiedlichen Kulturen. Und dem wollen wir Rechnung tragen. Wir definieren Europa auch nicht. Europa lässt sich aus verschiedenen Perspektiven definieren, und dem wollen wir eben Rechnung tragen, indem wir verschiedene Kulturen vorstellen beziehungsweise Menschen einladen, sich selbst auch vorzustellen. Und das ist im Vergleich zum Museum für Deutsche Volkskunde wirklich anders. Wir legen sehr viel Wert auf Partizipation, die Menschen sollen sich selbst repräsentieren, indem wir eben auch verschiedene Geschichten erzählen.
    Novy: Wie geht das konkret vor sich?
    Tietmeyer: Ein Beispiel: Wir sitzen ja in Berlin, und Europa befindet sich in Berlin. Die Welt befindet sich in Berlin. Das heißt, wir versuchen, mit Communities aus Europa, die hier in Berlin leben, zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel: Es gibt eine Vereinigung italienischer Frauen, "Rete Donne" heißt die. Das sind jüngere Migrantinnen, die also vor einigen Jahren nach Berlin und Deutschland gekommen sind, um hier zu arbeiten, Grund war nicht zuletzt auch die Wirtschaftskrise in Italien. Einige davon kannten unser Museum, weil wir schon öfter mit italienischen Communities zusammengearbeitet hatten, und wollten sich selbst, also ihre Erfahrung mit ihrer Migration, vorstellen. Und das war relativ ungewöhnlich für uns, dass die Leute auf uns zukommen und sagen, das ist unser Museum, das ist Europäische Kulturen, und wir wollen mit euch zusammenarbeiten. Und dann hatten wir die Idee, mit Installationen innerhalb der Dauerausstellung "Kulturkontakte – Leben in Europa" die Migrationserfahrungen der einzelnen Damen vorzustellen. Das haben die also selbst gemacht. Sie haben ihre Objekte mitgebracht, mit denen sie an ihre Heimat erinnern, mit denen sie ihre Migrationserfahrungen darstellen. Und es war eine fantastische Zusammenarbeit. Die Ausstellung ist immer noch zu sehen.
    Novy: Das ist also eine besondere Ausstellung. Wie sieht es mit der Dauerausstellung aus? Wie werten Sie da, wie gewichten Sie? Die ethnologischen Museen, das wissen wir mittlerweile, haben sich ja sehr geändert in den letzten Jahren. Da ging es darum, das geistige Erbe des Kolonialismus abzuschütteln, also der eigene Blick auf das Exotische wurde kritisch gewendet. Was hat ein Museum für die Geschichte der Alltagskultur sagen wir der näheren Umgebung an sich selbst geändert?
    Alte Objekte in die heutige Zeit transferieren
    Tietmeyer: Sie dürfen nicht vergessen, ein Museum kann nur das ausstellen, was es hat, es sei denn, es arbeitet mit anderen Gruppierungen zusammen, die ihre Objekte und ihre Ideen mitbringen. Unsere Objekte stammen meistenteils aus dem 19. Jahrhundert und repräsentieren Leben aus der Alltagskultur der mittleren und unteren Schichten. Das heißt, wir haben eben die Trachten, wir haben Bauernschränke, wir haben Keramik, wir haben Masken und so weiter. Wir wollen aber nicht mehr positivistisch darstellen, sondern haben uns vorgenommen, andere Fragen, aktuelle Fragen an alte Objekte zu stellen. Und zu unserem Profil gehören eben die Kulturkontakte, die Formen und vor allem die Folgen der Kulturkontakte, und so haben wir dann versucht, anhand von verschiedenen Beispielen Formen und Folgen von Kulturkontakten darzustellen, zum Beispiel aufgrund von Handel, von Reisen, von Migration, von Medien. Und haben dann die Objekte danach befragt. Zum Beispiel gibt es Trachtenteile mit Kaurischneckengehäuse, die kommen aus Russland. Und wenn man nicht weiß, woher diese Kaurischneckengehäuse kommen, dann spielt das keine Rolle, aber diese Kaurischneckengehäuse stammen vom Indischen Ozean und wurden im 18. Jahrhundert in Russland gehandelt und sind dann als Schmuckelement in die Tracht eingeflossen. Und diese Fragen stellen wir an Objekte. Wir nehmen die Objekte wirklich auseinander. Oder Objekte aus Seide – wo kommt die Seide her? Wo kommt das Know-how her der Seidenherstellung? Aus China, über die Seidenstraße, über Venedig nach Deutschland, nach Europa. Und so stellen wir dann die Objekte in einem anderen Narrativ dar. So können wir eben mit den alten Objekten aus dem 19. Jahrhundert umgehen, indem wir sie in die heutige Zeit transferieren sozusagen.
    Novy: Sind das Gedanken, die auch nützlich werden könnten auf der kleineren Ebene des Heimatmuseums, so wie wir es kennen, das immer in der Bronzezeit anfängt und dann bestenfalls in der Nachkriegszeit endet. Viele sind ja auch noch so. Wie sollte Ihrer Meinung nach das Heimatmuseum, das vorbildliche Heimatmuseum einer Kleinstadt aussehen? Wie könnte es aussehen?
    Man braucht keine Chronologie
    Tietmeyer: Das ist wirklich sehr, sehr schwer. Man muss auch nicht alles darstellen, was man hat, man muss auch nicht beim Punkt Null anfangen und dann irgendwie in den 50er-Jahren enden. Man kann mit einzelnen Objekten umgehen, indem man verschiedene Fragen an die Objekte stellt. Für mich ist ein vorbildliches Heimatmuseum, das sich aber nicht mehr so nennt, das ist das Museum Neukölln in Berlin. Sie wissen vielleicht, es gibt verschiedene Bezirksmuseen hier, die man früher Heimatmuseum genannt hat, aber die haben jetzt auch ihren Namen geändert zum Teil. Dieses Museum Neukölln stellt an verschiedenen Objekten Geschichten dar, die auch mit der Geschichte des Bezirks Neukölln oder Rixdorf zu tun haben, aber auch mit Geschichten der damaligen sogenannten Gastarbeiter zu tun haben. Also, wenn man sich einzelne Objekte vornimmt, kann man verschiedene Geschichten erzählen, unter anderem auch die Geschichte eines Bezirks, eines Ortes. Oder die Geschichte von Zuwanderung zum Beispiel.
    Novy: Und man braucht dann nicht die ganze Chronologie, meinen Sie?
    Tietmeyer: Nein, braucht man nicht. Finde ich nicht. Das kann man auch lesen. Ich muss nicht alles zeigen, was ich habe. Das ist wirklich nicht nötig. Aber anhand von bestimmten Objekten kann man Geschichten erzählen. Das kann ich dann auch mit archäologischen Objekten natürlich machen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.