Kleine Kinder finden nach wie vor leere Tränengaskartuschen oder Golfballgroße Gummigeschosse der mazedonischen Polizei auf dem Feld direkt vor dem Grenzzaun. Es sind die Reste der gewaltsamen Auseinandersetzungen vom vergangenen Wochenende und der ganzen Woche über, in der Flüchtlinge den Grenzzaun zum Teil eingerissen hatten. In der Zeltstadt Idomeni leben nach wie vor rund 11.000 Menschen. Wisam, 26, aus Syrien, ist seit 57 Tagen mit ihrer Familie hier. Sie zeigt auf ein selbstgemaltes Bild:
"Das ist Idomeni. Ich stecke fest, wie in einem Gefängnis", sagt sie über sich, die abgebildete Frau mit Tentakel-Kopf. Während Wisam weiter erklärt, üben mehrere Hubschrauber des griechischen Militärs Manöver über den Köpfen der Flüchtlinge. Viele sind irritiert, fühlen sich erinnert an Krieg in ihren Ländern. Wisam zuckt mit den Schultern und zeigt auf ihr Kunstwerk:
"Schau auf meine Hände, ich stecke fest, ich kann mich nicht bewegen. Hier sind ganz viele Gedanken und das Rote da auf meinem Nacken. Es ist das Gefährlichste, es kann mich töten, mit der Farbe, die ich am meisten gesehen habe: Blut."
Zurzeit kann sie nicht weitermalen, es fehlen ihr Pinsel und Acrylfarben, um aus dem schwierigen Alltag auszubrechen:
"Ich fühle mich glücklich, wenn ich male, denn dadurch fühle ich mich einsam und ich vergesse meine derzeitige Situation."
Die derzeitige Situation in Idomeni: Eine Mischung aus Verzweiflung und Warten. Auf das, was kommt und wohl auch: wann geräumt wird.
Paula Lehnert, 26 Jahre alt, ist seit zwei Monaten in Idomeni, um zu helfen. Sie gehört keiner großen Nichtregierungsorganisation an. Sie kocht gemeinsam mit anderen täglich rund 6.000 Mahlzeiten oder verteilt Lebensmittel zum Selbstkochen an die Flüchtlinge. Ihre Arbeit werde seit kurzem aber erschwert, berichtet sie. Auf allen Zufahrtsstraßen stünden Polizisten, die jedes Auto kontrollierten. Die griechische Regierung bereite langsam eine Räumung vor, befürchtet sie:
"Niemand will die Verantwortung dafür tragen, was da passiert und deswegen soll es so still und leise wie möglich passieren und es passiert am besten, wenn niemand da ist, der es sehen kann. Und so lange die Repression eben steigt, werden immer mehr Leute hier weggehen und sich zurückziehen und Angst kriegen, um ihre eigene Haut - völlig verständlicherweise. Und das ist das, was gerade passiert. Es werden random Leute festgenommen, Papiere kontrolliert, Autos massiv durchsucht. Ja klar ist das eine strategische Maßnahme."
Laut Polizeiangaben wurden diese Woche mehrere Menschen vorübergehend in Gewahrsam genommen und mindestens zwölf Personen festgenommen. Eine Deutsche soll wegen des Besitzes von Pfefferspray vor Gericht kommen, weil es in Griechenland als Waffe gilt. Berichte, Aktivisten würden Flüchtlinge zum Grenzübertritt anstacheln, weist Paula Lehnert zurück:
"Es braucht keine Paula die sagt: Leute springt mal gegen den Zaun, weil die Leute sehr sehr gute Gründe haben, auf der Flucht zu sein. Und es wird ihnen nicht mal zugestanden etwas zu wollen, sie werden viktimisiert, sie werden ins Lächerliche gezogen als unbeholfene, manipulierbare, handlungsunfähige Nicht-Mal-Menschen."
Mensch sein, das möchte auch die 36-jährige Sherin Brahim aus Syrien:
"Alle hier in Idomeni sind nach Europa gekommen, weil wir einen Job brauchen, eine Arbeit und weil wir lernen wollen. Warum sollen wir hier bleiben? Wir wollen hier nicht sitzen und darauf warten, dass man uns was zu Essen und Kleidung gibt."
Presseberichte: Griechische Regierung will Idomeni räumen
Sherin Brahim will weiterreisen, fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Laut der griechischen Zeitung "Eleftheros Typos", plant die griechische Regierung in fünf Schritten, das Camp in Idomeni zu räumen.
Der erste Schritt: Mehr Polizeikontrollen und Einschränkung der Aktivitäten von NGOs. Danach Durchsuchungen von Ehrenamtlichen, die den Behörden "verdächtig" vorkommen. Als Drittes soll laut der Zeitung der freiwillige Transport von Kindern und Familien weiter forciert werden. Vierter Schritt: Kein Zugang mehr für Journalisten. Und Fünftens: Räumung am Morgen und so laut Zeitung die "Entfernung" aller restlichen Flüchtlinge.
Ein Polizeisprecher sagte auf Anfrage, dass eine gewaltsame Räumung des Camps, das zum größten Teil aus Familien und Kindern besteht, niemand möchte. Ausschließen wollte er es aber auch nicht.
Ob dieser sogenannte Fünf-Punkte-Plan tatsächlich gelten soll, ist unklar. Die meisten in Idomeni halten ihn aber für realistisch.