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Emile Zolas Brief "J'accuse"
Gründungsurkunde der französischen Demokratie

Mit seinem Brief „J’accuse – Ich klage an“, veröffentlicht heute vor 125 Jahren in einer Pariser Zeitung, machte der Schriftsteller Emile Zola die Dreyfus-Affäre zum Skandal – und sorgte für die Rehabilitierung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus.

Von Jochen Stöckmann |
Der Artikel "J'accuse", der in der Zeitung "L'Aurore", ausgestellt im Dreyfus-Museum im Haus von Emile Zola in Medan, nahe Paris,
Originale des Briefs und Zeitungartikels "J'accuse": seit 2021 ausgestellt im Dreyfus-Museum im Haus Emile Zolas (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Ludovic Marin)
„Den ganzen Tag lang schrien die Zeitungsverkäufer mit heiserer Stimme 'L'Aurore'. Allein in der Hauptstadt wurden an die 300 000 Exemplare verkauft. Der Schock war gewaltig, Paris stand Kopf.“
Für den französischen Sozialisten Charles Péguy ist das liberale Blatt „L’Aurore“ ein Rettungsanker. Mit seiner eigenen Partei hadert der angehende Schriftsteller, weil sie sich in der Affäre Dreyfus peinlich wegduckt. Alfred Dreyfus, der erste jüdische Offizier im Generalstab, ist wegen Spionage auf die Teufelsinsel deportiert worden. Der Prozess war begleitet von antisemitischer Hetze, das Urteil beruht auf fragwürdigen Indizien.

Emile Zola durchbricht das Schweigen

Aber der Sozialistischen Partei gilt die Rehabilitierung eines jüdischen Hauptmanns als belanglos, ohne Bedeutung für die Sache des Proletariats. Die bürgerliche Presse hält sich bedeckt. Dieses Schweigen bricht Emile Zola, erfahrener Journalist und erfolgreicher Romancier, am 13. Januar 1898 mit seinem Aufmacher im „L‘Aurore“. Der offene Brief an den Präsidenten der Republik steht unter der übergroßen Schlagzeile „J’accuse" – Ich klage an“:
"Ich klage an: Oberstleutnant du Paty de Clam. Ich klage an: General Mercier. Ich klage an: General de Boisdeffre und General Gonse. Ich klage an: General de Pellieux und Major Ravary. Ich klage an: das Kriegsministerium.“

Juristische Volten der Dreyfus-Affäre

"Mit der Überschrift „ J’accuse“ hat „L’Aurore“-Herausgeber Georges Clemenceau in einer Zeile zusammengefasst, was seinen Autor antreibt: Zola hat davon gehört, dass hohe Militärs und Minister einen Oberstleutnant kaltstellen, weil er Dreyfus entlastet und einen anderen Generalstabsoffizier als Spion überführt hat. Der Major Esterhazy wird denn auch prompt von einem Militärgericht freigesprochen.

Die Geburt des Begriffs "Intellektueller"

Damit ist der Instanzenweg versperrt für eine Revision des Dreyfus-Urteils, die eine Schar von Politikern, Künstlern und Literaten fordert. Deshalb entschließt sich Zola zu seinem spektakulären Schachzug. Als „Intellektueller“, wie es von nun an heißen wird, engagiert sich der parteipolitisch unabhängige Journalist und hochgeschätzte Schriftsteller im besten Sinne persönlich für die Sache Dreyfus.
„Diese Anklage ist nur ein radikales Mittel, um den Ausbruch der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu beschleunigen. Man wage es also, mich vor ein Schwurgericht zu stellen! Ich warte darauf.“

Unheilvolle Mélange von Korpsgeist und Antisemitismus

Zola provoziert einen Prozess, in dem er wegen Beleidigung des Kriegsministers verurteilt wird. Aber vor Gericht steht der versierte Journalist auf seiner, auf der öffentlichen Tribüne. Als Autor sozialkritischer Romane zieht er alle Register, recherchiert möglichst objektiv die Wahrheit, spricht aber auch die Emotionen des Publikums an. Und so verteidigt Zola mit seiner Darstellung des Falles Dreyfus die Werte der Republik gegen eine unheilvolle Mélange von militärischem Korpsgeist und antisemitischen Ressentiments. „J’accuse“ wird zur Gründungsurkunde der Demokratie. Als das Manuskript 1987 bei Sotheby’s versteigert werden soll, untersagt der Kulturminister die Ausfuhr dieses nationalen Kulturguts. Der Literaturwissenschaftler Jean-Louis Forestier begrüßt diese Entscheidung:
„Dieser Text ist Geschichte der französischen Nation und zugleich Literatur. Zola beschreibt als Romancier einen Moment im Leben unserer Nation mit Wärme, mit Herz, mit seiner lyrischen Betonung des rhythmisch wiederholten „J’accuse“. Das ist ein Roman und eine mutige Parteinahme.“
Wie mutig, weil heftig umstritten diese Parteinahme war, zeigte sich 1906, als Clemenceau, nunmehr Ministerpräsident, ein Ehrengrab für Zola im Pariser Pantheon forderte. Ein katholisch-konservativer Abgeordneter beschimpfte den 1902 gestorbenen Intellektuellen als „Übeltäter“. Gegen solche Tiraden ging Clemenceau schließlich selbst ans Rednerpult und setzte seinen Antrag durch mit den Worten:
„Für Gerechtigkeit und Wahrheit hätte Zola selbst der ganzen Menschheit die Stirn geboten. Ein solches Handeln findet sich auch in der Geschichte anderer Völker nur selten.“