Das föderale Bildungssystem in Deutschland sorgt regelmäßig für Diskussionen. Im Mittelpunkt steht die Sorge, ob Kinder in allen Bundesländern die gleichen Chancen auf eine qualitativ hochwertige Bildung haben. Die einen fordern deshalb vergleichbare Abschlüsse an allen weiterführenden Schulen und damit verbunden ein stärkeres Engagement des Bundes. Die anderen befürworten die Kulturhoheit der Länder und weisen auf die Chancen hin, die im Bildungsföderalismus liegen. Dazu gehört die Möglichkeit, in einem so großen Land wie Deutschland jeweils auf regionale Besonderheiten der 16 Bundesländer zu reagieren. Hier können viele Ideen ausprobiert werden - die erfolgreichsten können dann dazu beitragen, das Bildungssystem weiterzuentwickeln.
Soweit die Theorie, die immer wieder an ihre Grenzen stößt. Gerade in der Coronakrise werden beispielsweise die unterschiedlichen Regelungen bei Schulschließungen, Maskenpflicht und anderen Maßnahmen kritisiert.
Das aktuelle ifo-Bildungsbarometer 2020 kommt zu dem Schluss, dass sich die Mehrheit der Deutschen für mehr Engagement des Bundes ausspricht. Die wichtigsten bildungspolitischen Entscheidungen sollen demnach vom Bund und nicht von den Ländern getroffen werden."Die Deutschen wollen, dass mehr Kompetenzen auf Bundesebene verlagert werden", sagte Philipp Lergetporer vom ifo-Institut für Bildungsökonomie im Deutschlandfunk. Es gebe einen Trend zu etwas mehr Zentralismus. Viele wünschen sich zudem, dass der Bund eine größere Rolle in der Finanzierung der Bildung einnehmen soll.
Wichtigste Ergebnisse der ifo-Umfrage
Die föderale Bildungspolitik mit deutlichen Unterschieden zum Beispiel bei Lehrplänen, Schulformen oder Abschlussprüfungen sieht die Mehrheit der Deutschen kritisch. "Es ist für den Normalbürger schwer verständlich, warum wir 16 verschiedene Bildungssysteme in Deutschland brauchen", sagte Lergetporer.
60 Prozent der Deutschen wollen, dass die wichtigsten bildungspolitischen Entscheidungen nicht weiter von den Ländern, sondern von der Bundesregierung getroffen werden. So sollen Rahmenregelungen wie Lehrpläne eher in der Zuständigkeit des Bundes liegen, sagen die Befragten. Eine große Mehrheit gibt es auch dafür, dass die Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen vereinheitlicht und in allen Bundesländern vollwertig anerkannt werden soll. Wenn es dagegen um die Auswahl der Lehrkräfte und Verwendung der Mittel geht, sehen die Deutschen die Autonomie bei den Schulen.
In Großbritannien oder den USA werden die Bildungsleistungen der Schülerinnen und Schüler regelmäßig mit Vergleichstests überprüft. "Diese können dazu beitragen, dass qualitätsorientierte Weiterentwicklungen im Bildungssystem vorgenommen werden können", sagte Lergetporer vom ifo-Institut für Bildungsökonomie. In Deutschland werden Vergleichstests zwischen den einzelnen Bundesländern eher selten durchgeführt, dabei sprechen sich 75 Prozent der Befragten dafür aus. Auch Abiturprüfungen lassen sich schwer miteinander vergleichen. "Fast alle Befragten finden es wichtig, dass Bildungsleistungen zwischen den verschiedenen Ländern vergleichbar sind", sagte Lergetporer.
"Ein Wettbewerb der Ideen, der oft im föderalen System angesprochen wird, funktioniert nur, wenn man vergleichen kann, welche Bundesländer Maßnahmen einführen, die zu besseren Leistungen führen und welche zu schlechteren Leistungen führen", so Lergetporer. Mit einem am durchschnittlichen Abiturniveau orientierten Zentralabitur oder einem gemeinsamen Kernabitur könnten die Abschlüsse besser verglichen werden. Das könnte zum Beispiel gemeinsame Prüfungsbestandteile in den Kernfächern Mathematik, Deutsch und Englisch bedeuten. Dafür findet sich eine fast so breite Zustimmung (84 Prozent) wie für einheitliche Lehrpläne für die gymnasiale Oberstufe (88 Prozent).
Beim Thema Einheitlichkeit im Bildungswesen gibt oder gab es bereits einige politische Initiativen: zum Beispiel der Nationale Bildungsrat, der mit Vertretern aus Wissenschaft und Praxis, Bund und Landespolitik Empfehlungen für die Bundesländer erarbeiten sollte. Die Initiative ist vorerst gescheitert, weil Bayern und Baden-Württemberg im vergangenen Jahr dagegen waren. Diese Idee stößt aber bei den Deutschen mit 70 Prozent auf große Zustimmung.
Auch der Abschluss eines Bildungsstaatsvertrags wird von der Mehrheit der Deutschen begrüßt. Dieser soll von allen Bundesländern gemeinsam beschlossen werden und für alle Länder verbindliche Vorgaben enthalten. Die Kultusministerkonferenz berät aktuell dazu. "Fast alle Bundesbürger sind dafür - und zwar in der bindenden Form", sagte Lergetporer. "Das ist ein Lichtblick, dass es so eine große Mehrheit gibt für die erhöhte Vergleichbarkeit und Einheitlichkeit im Bildungssystem."
Die Bildungshoheit der Bundesländer hat auch Auswirkungen auf die Finanzierung. So stemmen sie die Kosten für Schulen und Hochschulen zu jeweils über 80 Prozent. Den meisten Deutschen ist dies nicht bewusst. Sie unterschätzen den Finanzierungsanteil der Länder um bis zu 45 Prozent und überschätzen die Rolle des Bundes um ein Drittel. Trotz dieser Überschätzung des Bundesengagements wünscht sich die Mehrheit eine noch größere Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Bildung.
Das Münchener ifo-Institut - ifo steht für Information und Forschung - ist eines der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Europa und befasst sich vorwiegend mit Finanzen, zum Beispiel beim ifo-Geschäftsklimaindex. Auch die Bildungsökonomik mit Fragen wie "Wie kommen Veränderungen im Bildungsniveau zustande, und wie wirken sie sich auf die ökonomische Entwicklung aus?" gehört zu seinen Forschungsfeldern.
Das ifo-Bildungsbarometer wurde vom ifo-Zentrum für Bildungs- und Innovationsökonomik in Zusammenarbeit mit der Leibniz-Gemeinschaft entwickelt und wird seit 2014 jährlich durchgeführt. Schwerpunkt des aktuellen Bildungsbarometers war der Föderalismus in der Bildungspolitik. Dazu wurden vom 3. Juni bis zum 1. Juli in einer repräsentativen Umfrage des Befragungsinstituts Respondi 10.338 Erwachsene zwischen 18 und 69 Jahren befragt. Eine zufällig ausgewählte Teilgruppe der Befragten bekam Zusatzinformationen. "Das haben wir gemacht, um zu sehen, inwiefern Informations-Bereitstellung Einfluss auf die Mehrheitsfähigkeit von Bildungsmaßnahmen hat", erläuterte Lergetporer.
(Quellen: Philipp Lergetporer, ifo Institut, Leibniz-Gemeinschaft, Thekla Jahn, Olivia Gerstenberger)