Die aktuellen Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) zeigen erneut eine Verschlechterung der Leseleistungen deutscher Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich. Besorgniserregend ist, dass ein Viertel aller Viertklässler den festgelegten Mindeststandard nicht erreicht.
Seitdem es die Studie gibt, nimmt die Lesekompetenz deutscher Viertklässler immer mehr ab. Deutschland hat bisher fünfmal teilgenommen: in den Jahren 2001, 2006, 2011, 2016 und 2021. Und in Hinblick auf die Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit hat sich in den letzten 20 Jahren in Deutschland praktisch nichts verändert, lautet ein Ergebnis der Studie.
- Was sind die Hauptergebnisse der IGLU-Studie aus deutscher Sicht?
- Wie schneiden die deutschen Schüler im internationalen Vergleich ab?
- Was sind mögliche Gründe für das schlechte Abschneiden in der IGLU-Studie?
- Was wird auf Seiten der Bildungspolitik getan?
- Was machen andere Länder besser in der Leseförderung?
Was sind die Hauptergebnisse der IGLU-Studie aus deutscher Sicht?
Die Leseleistungen deutscher Kinder nehmen seit Beginn der Studie 2001 kontinuierlich ab, die Studienautoren verzeichnen sogar einen signifikanten Rückgang der Lesekompetenz in diesem langen Zeitraum von über 20 Jahren.
2001 hatte nur jedes sechste deutsche Viertklässlerkind Probleme mit dem Lesen, 2016 war es jedes fünfte und 2021 schon jedes vierte. Das heißt konkret: Jedes vierte Kind kann nach vier Grundschuljahren nicht richtig lesen und erreicht nicht das Mindestniveau beim internationalen Standard. Dieses wird als Voraussetzung gesehen, um die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit bewältigen zu können.
Daraus entstehen nicht nur individuelle Probleme, sondern auch Probleme für die gesamte Gesellschaft. Wer nicht gut lesen kann, kann auch keine Ausbildung erfolgreich abschließen und ist anfälliger für Fake-News.
Außerdem gibt es in Deutschland große Unterschiede zwischen guten und schwachen Lesenden. Diese sind seit 2016 zwar nicht größer geworden, aber auch nicht kleiner. Die Gründe liegen dabei noch immer im Elternhaus; der Bildungserfolg in Deutschland ist weiterhin von der familiären Herkunft der Kinder abhängig, so die Studienautoren. Systematische Unterschiede gibt es dabei zwischen unterschiedlichen Gruppen: Mädchen und Jungen, Kindern mit oder ohne Migrationshintergrund, Kindern aus unterschiedlichen sozialen Schichten.
Ein positives Ergebnis: Laut der Studie sind deutsche Viertklässler insgesamt mit der Schule zufrieden. Sie haben Lust zu lesen und zu lernen. Die Schule ist für sie ein mit positiven Emotionen besetzter Lernort. Deutsche Kinder sagen in der Studie außerdem überdurchschnittlich oft, dass sie zu Hause auch weiterlesen. Doch das sind meistens diejenigen, die ohnehin gut lesen können und die ihren Vorsprung dann noch vergrößern.
Wie schneiden die deutschen Schüler im internationalen Vergleich ab?
Auch im globalen Kontext ist eine allgemeine Verschlechterung der Lesekompetenz festzustellen, Deutschland steht nicht allein da. Im Vergleich mit den weiteren Teilnehmerstaaten und -regionen landet Deutschland erneut im Mittelfeld und unterscheidet sich nicht signifikant vom Mittelfeld der Teilnehmer der EU oder OECD.
Schülerinnen und Schüler aus 18 Staaten und Regionen (darunter Spitzenreiter Singapur, Hongkong, England, Schweden, Australien, Österreich und die Slowakei) schnitten beim Leseverständnis allerdings besser ab. Singapur hatte bei der ersten Erhebung 2001 noch deutlich hinter Deutschland gelegen.
Teilgenommen haben in Deutschland gut 4.600 Schülerinnen und Schüler aus 252 vierten Klassen. International beteiligten sich rund 400.000 Schülerinnen und Schüler aus 65 Staaten und Regionen.
Was sind mögliche Gründe für das schlechte Abschneiden in der IGLU-Studie?
Studienleiterin Nele McElvany vom Institut für Schulentwicklungsforschung betonte im Dlf, dass es eine ganze Reihe von Gründen für die negative Entwicklung gebe. Dass zum Beispiel Deutschland im Vergleich zu 2016 schlechter abschneidet als erwartet, liege auch an der Corona-Pandemie mit dem eingeschränkten und dem nicht überall optimal gestalteten digitalen Unterricht. Doch das sei nur einer der Gründe, denn wenn man den Corona-Effekt rausrechnen würde, hätten die Deutschen trotzdem schlechter abgeschnitten.
Die Veränderung der Zusammensetzung der Schülerschaft in den letzten Jahren und problematische Entwicklungen im Bildungssystem seien weitere Gründe. Dazu kommen die unterschiedlichen Voraussetzungen schon vor dem Schulstart, also die Sprachkompetenzen im Elternhaus. Durch die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft herrscht dort nicht immer Deutsch als Muttersprache.
In der Schule wende Deutschland zudem im internationalen Vergleich deutlich weniger Zeit für Leseunterricht und lesebezogene Aktivitäten auf. Die IGLU-Studie zeigt deutlich, dass deutsche Schulen immer noch schlecht ausgestattet sind, beispielsweise im Bereich digitale Infrastruktur. Zudem müssen die Schülerinnen und Schüler häufig Stoff lernen, der älter als 20 Jahre ist und mit ihrer Lebensrealität nicht mehr viel gemein hat.
Was wird auf Seiten der Bildungspolitik getan?
Der hessische Kultusminister Alexander Lorz (CDU) forderte im Dlf neue Strategien für Kinder, deren Eltern nicht deutsche Muttersprachler seien. Positive Beispiele dafür seien Hessen und Hamburg, die als einzige Bundesländer verpflichtende Vorlaufkurse für Kinder ohne deutsche Sprachkenntnisse hätten. Es brauche zudem zusätzliche Lehrkräfte, eine bessere Besoldung der Grundschullehrkräfte und weitere Maßnahmen wie Leitlinien.
Das Thema Bildungsföderalismus will Lorz in diesem Kontext nicht angehen, obwohl ein bundeseinheitliches Vorgehen bei Schulfragen zum Beispiel die Umsetzung von Konzepten beschleunigen könnte. Das jetzige föderale Bildungsystem habe ebenfalls seine Vorteile, so Lorz, zum Beispiel das Lernen aus Fehlern eines Bundeslandes, bevor der Fehler deutschlandweit geschieht. Zudem gibt es Bundesländer, die bei Bildungsthemen gut abschneiden, wie zum Beispiel Bayern und Sachsen.
"Wenn Sie sich die Evidenz gerade aus den internationalen Studien anschauen, dann finden Sie zentralistische Systeme, die deutlich schlechter funktionieren als unseres. Es verlangt ja komischerweise auch niemand von uns, wir sollten jetzt das französische Bildungssystem übernehmen, obwohl das das Paradebeispiel für ein zentralistisch organisiertes System wäre."
In der internationalen IGLU-Studie liegt Frankreich hinter Deutschland, während Kanada als Land, in dem Bildung nicht zentral gesteuert wird, sehr gut abschneidet.
Was machen andere Länder besser in der Leseförderung?
Deutschland wendet im internationalen Vergleich deutlich weniger Zeit für Leseunterricht auf: im Durchschnitt 141 Minuten pro Woche, während OECD- und EU-Länder im Schnitt etwa 200 Minuten dafür einplanen. England, das beste der europäischen Länder, wendet viel Zeit für das Lesen auf und kümmert sich seit Jahren darum, dass Kinder mit Sprachproblemen schon in der Vorschule stark gefördert werden.
Zum Lesenlernen gehöre viel Übungszeit und Routine und es gehört zu den Grundkompetenzen, die an der Schule vermittelt werden, betont Studienautorin McElvany im Dlf: "Das ist ein zentraler Punkt in der Grundschule: Lesen zu lernen, damit danach gelesen werden kann, um zu lernen."
Bei den vielen Anforderungen an die deutschen Grundschulen und durch gesellschaftliche Veränderungen seien die Grundkompetenzen wie das Lesenlernen aus dem Blickfeld geraten, so McElvany. "Sie müssen meines Erachtens jetzt wieder stark in den Fokus kommen."
og, Institut für Schulentwicklungsforschung IFS, Thekla Jahn, Martin Schütz, dpa