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"Ihre tägliche Dosis Drama!"

Szenische Intervention heißt die Sache im Theater, im Internet und in der Werbung Flashmob. Wenn viele Menschen sich im öffentlichen Raum versammeln und dort dasselbe tun, kann das sowohl verkaufsfördernd, künstlerisch oder politisch wertvoll sein. Im Idealfall vielleicht sogar alles zusammen.

Von Michael Laages |
    Die eigentlich für Bildschirm oder Leinwand produzierten Mini-Dramen sind so abstrakt wie absurd – ein Hersteller von Pfefferminz-Drops lässt eine ganze Stadt in Ohnmacht fallen auf Grund von offenbar forciert miesem Mundgeruch; als ein junger Mann nach dem Weg fragt, brechen bei der Antwort des oder der Befragten nicht nur der junge Mann selbst, sondern gleich auch alle anderen auf dem großen Platz zusammen … und Videos zeigen, dass sich der Zusammenbruch in allen Ecken und Winkeln, Läden, Sporthallen und Büros der Stadt fortsetzt.

    Ein belgischer Fernsehsender setzt noch drastischer auf die Solo-Kundschaft – drückt die auf den in der Mitte eines Kleinstadtplatzes montierten roten Knopf, rollt vor König oder Königin Kunde ein abstruser Krimi im Geschwindschritt ab. Erst scheint ein Krankenwagen einen Patienten abzuholen, lässt den aber mehrfach aus dem Wagen purzeln. Gegen die offene Wagentür knallt ein Radfahrer, der sich prompt mit dem Fahrer prügelt; parallel flitzt eine Motorradfahrerin in roten Dessous vorbei. Dann biegen zwei Fahrzeuge um die Ecke: Gangster und Polizei. Schüsse hin, Schüsse her – die Gangster flüchten, Krankenwagenbesatzung und Patient inklusive. Baseballspieler holen den bewusstlosen Radfahrer ins Haus hinter der Szene zurück – an dessen Front jetzt als Plakat die Werbung des Senders entrollt wird: "Ihre tägliche Dosis Drama!" … und dann der Name vom Privat-Fernsehen, in dessen Programm dann übrigens Theater nicht weiter vorkommt, nicht mal solches, wie auf der rasant bespielten Werbebühne, diesem Straßentheater der zeit-genössischen Art.

    Zur Erinnerung: Alle spielen für einen – Theater für nur einen einzelnen Zuschauer (ob mit oder ohne Mundgeruch) stand zum Beispiel im Zentrum gleich zweier Produktionen beim "Young Directors Project", dem Wettbewerb der Nachwuchsregisseure im Rahmen der Salzburger Festspiele des vorigen Sommers. Und ähnlich wie die belgischen Fernseh-Werber hatte die höchst erfolgreiche Gruppe "Rimini Protokoll" eher noch am Beginn der Karriere mal die Innenstadt von Hannover bespielt – mit dem Publikum fernglasbewehrt in der oberen Etage eines Hochhauses und unten, auf Straßen und Plätzen, szenischen "Interventionen" (wie so etwas heutzutage heißt), die den normalen Passanten, nicht informiert über die Tatsache, dass hier "Theater" gespielt wird, vollkommen absurd und idiotisch erschienen sein müssen. In die Konfrontation mit dem "wirklichen Leben" in unterschiedlichsten Formen drängt das Theater mittlerweile immer wieder so intensiv wie in dieser beispielhaften Produktion, damals in Hannover beim Festival "Theaterformen" zu sehen; speziell für Festivals, die sich ja meist dem jeweils möglichst allerletzten Schrei ver-pflichtet fühlen, ist inzwischen kaum etwas weniger interessant als eine Produktion, die einfach nur im Theater stattfindet.

    Aber selbst die auch kommerziell recht geschickten Strategen vom "Rimini Protokoll" zog es dann jenseits aller hochmodernen "Interventionen" ja gerne doch auch in die eigent-lichen Theater- und Bühnen-Häuser zurück. Und die klügeren Kreativ-Köpfe aus der Wer-bung folgen ja oft auch nur den Motiven, deren Wirksamkeit und Erfolg sich andernorts schon erwiesen hat. Entscheidend ist doch, welche Werbe-Ästhetik wohl zu welcher ins Visier genommen Zielgruppe am allerbesten passen könnte … und da beweisen die beiden aktuellen Beispiele von Werbe-Theater im Grunde nur, wie zuversichtlich die Werbung auf die ganz und gar selbstverständliche, für Familie Jedermann samt Kind und Kegel zugäng-liche und verständliche Spiel-Form der Quasi-Theatervorstellung setzt. Die ist und bleibt halt der sicherste Garant für den konzentrierten Blick des Menschen auf den Menschen, auf das Gegenüber, das auf einer Bühne steht; und sei die Bühne auch der Marktplatz einer kleinen Stadt in Belgien.

    Insofern muss sich niemand Sorgen machen – das Theater kommt dem Theater nicht ab-handen, wenn es in die "Cannes-Rolle" der besten Werbespots gelangen könnte. Im Gegenteil: Werbung mit Theater beweist nur des Theaters Stärke.