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Ikonografie
Aktdarstellung im Wandel der Zeit

Eine Gesamtdarstellung zum Akt in der Kunstgeschichte hat die Kunsthistorikerin Sabine Poeschel vorgelegt. Unter dem Titel "Starke Männer, schöne Frauen" regt das Buch zu interessanten ästhetischen Vergleichen über die Epochen hinweg an. Es wirft aber auch Fragen nach der Funktionalität des Aktes auf, die vor dem Hintergrund aktueller Pornografie-Skandale an Brisanz gewonnen haben.

Von Martina Wehlte | 22.10.2014
    Eine Frau bindet sich den Büsternhalter zu
    Manche Bilder aus vergangenen Zeiten vermitteln den Eindruck, dass die gezeichnete Person unfreiwillig posierte. (dpa / picture alliance / Laurent Hamels)
    Sie liegen da wie hingegossen: Giorgones schlafende Venus in der Dresdener Gemäldegalerie, die Ariadne von Sebastiano Ricci, auf die ein jugendlicher Bacchus entzückt zueilt oder Gustav Klimts Danae, die zwischen ihren angezogenen Schenkeln den Goldregen des Göttervaters Zeus empfängt. Was für Huldigungen an die Sinnlichkeit, welches Fest für die Sinne sind diese einzigartigen Gemälde mit ihren weichen, plastischen Körperformen, dem schimmernden Inkarnat, der hingebungsvollen Ruhe ihrer Protagonistinnen. Demgegenüber sind Michelangelos Marmorstatue des David, der Herkules Farnese oder jeglicher Perseus selbst in ruhiger Haltung noch Ausdruck angespannter Kraft und Entschlossenheit, wie man es von Helden erwartet. Und wie erst der sich windende Laokoon im Musei Vaticani, der sich mit seinen beiden Söhnen verzweifelt gegen die tödlichen Schlangen wehrt und - dabei ein herrlich muskulöser Akt ist.
    Und doch gibt es auch hingegossene Helden, glücklich erschöpft von welchen Siegen auch immer und wie die ruhenden Göttinnen mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund, sei es Sandro Botticellis schlafender Kriegsgott in Venus und Mars von 1493 oder der Barberinische Faun in der Münchner Glyptothek, die über drei Meter hohe Skulptur des Fauns, der mit gespreizten, angewinkelten Beinen auf einem Löwenfell liegt, lenkt von der Schauseite her den Blick frontal auf das Geschlecht und erst von da über den Sixpack zu dem weich modellierten, von Locken umrahmten Gesicht. Für diese wie für viele der idealtypischen Darstellungen von Mann und Frau taugt kein mythologischer Vorwand. Hier wird mit vollem Recht der pure Eros zelebriert.
    Wandel der Aktdarstellung
    Es ist äußerst spannend, den Wandel der Aktdarstellungen im Laufe der Zeit zu verfolgen, höchst aufschlussreich hier sozialästhetisch zu vergleichen. Das ermöglicht Sabine Poeschels Band "Starke Männer, schöne Frauen". Die Geschichte des Aktes sowohl durch die kluge Auswahl von Werken als auch durch die kenntnisreichen Beschreibungen, in denen es der Autorin gelingt, klar und zielgerichtet charakteristische Gestaltungsprinzipien und kompositorische Besonderheiten herauszuarbeiten und sie im zeitgeschichtlichen Kontext zu bewerten. So werden dem Betrachter an der nachdenklichen Pose des Helden in Antonio Canovas Marmorstatue "Theseus besiegt den Minotaurus" (1782) die klassizistischen Stilvorgaben Winckelmanns deutlich, wenn die Autorin den Blick auf die Verschränkung der Zweiergruppe lenkt, auf die gegensätzlichen Oberflächen der Körper oder auf formale Korrespondenzen in der Drapierung des Lendentuchs und der Ariadnefäden.
    Sabine Poeschel hat einen weiten Bogen geschlagen: von der elf Zentimeter hohen steinernen Venus von Willendorf (25.000 v. Chr.) bis zu den Aktfotografien Robert Mapplethorpes; vom rituellen Kultobjekt über die undifferenzierte Darstellung von Nacktheit im Mittelalter, den idealtypischen Akt seit Beginn der Neuzeit bis zur ungeschönten Körperlichkeit realistischer Akte in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Methodisch setzt sie sich von dem Briten Kenneth Clark ab, der sich aus dem Geist der 50er-Jahre mit dem Thema beschäftigte und als Maßstab für den Akt einen unbekleideten idealschönen Körper voraussetzte:
    "Kenneth Clark hat einzelne Aspekte berührt als bestimmte ästhetische Ausrichtung, nicht eine chronologische Entwicklung und auch nicht unbedingt vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, und speziell was die Position einer Frau in einer bestimmten Zeit betrifft und auch den Blick eines Künstlers auf sie."
    Dass die Abbildungen von Kunstwerken ersten Ranges auch ein delikater Augenschmaus sind, ist durchaus kein Nachteil. Allerdings stellt sich in Anbetracht dieses geballten Aufgebots an Venus, Herkules und Co. die Frage nach der Funktion von Aktdarstellungen im Einzelfall nicht nur unter kunstgeschichtlichem Aspekt. Der Körper eines Jungen an der Schwelle zum Mann, wie Donatellos lebensgroße Bronzestatue des David von 1444 ihn zeigt, war sozialästhetisch gesehen das künstlerische Ideal der Frührenaissance; er war in seiner erotischen Ausstrahlung zweifellos für den Betrachter auch ein Stimulans.
    Homoerotische Darstellungen
    Eine Herausforderung an die Moral sowohl des Barock als auch der Gegenwart ist zweifellos Caravaggios Gemälde von Amor als Sieger: Es zeigt einen sanft lächelnden nackten, noch unbehaarten Jungen in gleißendem Licht. Zu seinen Füßen Noten und Musikinstrumente als Symbole für die besiegte Wissenschaft und Kunst, lehnt er ostentativ auf einem Seidentuch und der homoerotische Charakter des künstlerisch hervorragenden Bildes wirkt angesichts des dargestellten Kindes beklemmend. Denn ob es die sogenannte Edathy-Affäre um den Besitz kinderpornografischer Bilder ist; die Meldung von Anfang Mai, dass die Polizei einen bundesweit operierenden Pädophilen-Ring in Sachsen-Anhalt gesprengt habe, oder ob es die neuesten Zahlen über Zwangsprostitution und amtliche Spurensuche nach einschlägigen Internetseiten sind: Vor dem Hintergrund dieses florierenden Marktes fragt man sich nach entsprechenden Geschäftsmodellen früherer Zeiten und nach der Motivation der Auftraggeber von derartigen Werken.
    "Es ist ganz klar, dass der männliche Körper oder die Liebe unter Männern die bevorzugte war, auch in der griechischen Kultur, selbstverständlich, die Frau war in der Gesellschaft nicht anwesend und man kann es natürlich auch sehen, wenn man etliche nackte Jünglinge betrachtet, dass diese selbstverständlich eine erotische Anspielung und Ausrichtung sind auf ein männliches Ideal."
    Ist die homoerotische Sicht in der Darstellung des männlichen Aktes zum Beispiel bei Praxiteles aus dieser Kenntnis heraus nur kulturgeschichtlich abgeleitet oder ist sie unmittelbar anschaulich? Mithin: Wirkt der lasziv an einem Baum lehnende Satyr auf männliche und weibliche Betrachter gleichermaßen? Die griechische Antike, insbesondere die Verlebendigung in der Spätklassik, wurde zur künstlerischen Norm in Renaissance und Klassizismus. So waren der Apoll von Belvedere in seiner heroischen, raumgreifenden Pose und die Aphrodite von Knidos des Praxiteles, ca. 340 v. Chr., in ihrer schamhaften Haltung mit der rechten Hand vor dem Schoß bis ins 19. Jahrhundert normativ. Einzelne drastische Gegenbeispiele gibt es aus dem 16. Jahrhundert beispielsweis in Hans Baldungs, genannt Grien, Hexenbildern, die in geradezu obszöner Weise das Treiben schöner junger Hexen und gieriger Drachen unter dem Deckmantel der Abschreckung vor sündhafter Verführung inszenieren.
    Ungewöhnliche Bildvergleiche
    Sabine Poeschels Auswahl regt zu ganz ungewöhnlichen Bildvergleichen an, etwa zwischen Jacques Louis Davids Gemälde des muskulösen Patroklos, eines durch gekonnte Lichtregie modellierten Rückenaktes, mit Robert Mapplethorpes kraftvollem, angespanntem Derrick Cross, einer 1985 entstandenen Schwarz-Weiß-Fotografie von klassischer Schönheit. Gerade im Hinblick auf Mapplethorpe stellt sich im Kontext seines Oeuvres mit homosexuellen Sujets und sadomasochistischen Praktiken die Frage, wo die Grenze zwischen reiner Ästhetik, vielversprechender Verlockung und decouvrierender Schaustellung ist? Gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen künstlerischer Aktdarstellung und Pornografie, klare Kriterien oder nur fließende Übergänge? Ist etwa die Qualität eines Werkes entscheidend? Die Intention dessen, der's gemacht hat oder die Erwartungshaltung des Betrachters? Was gibt den Entscheidungsmaßstab vor?
    "Das war ja auch ein großer Teil der Qualität, der historischen Qualität von Akten, dass sie anregten. Es heißt also bei einem Tizian, jeder Mann, der einigermaßen gesund ist und bei Verstand, dem rauscht das Blut in den Adern, wenn man eine bestimmte Venus von ihm anschaut. Einmal ist es natürlich auch ein Topos der Kunstgeschichtsschreibung, um die Qualität eines Werkes zu bewerten, zum anderen sagte es eben auch, dass diese Werke ihre erotische Wirkung nicht verfehlten."
    Bei Goyas Maja - in der bekleideten fast ebenso wie in der nackten Fassung - wäre zusammen mit der schamlosen Selbstpräsentation die herausfordernde Blickrichtung ein Kriterium für primär stimulierende Wirkung, mithin Pornografie. Doch spätestens bei diesem Bildbeispiel dürfte klar werden, dass hier auch das subjektive Empfinden des Betrachters über die Bewertung als pornografisches oder ästhetisch-erotisches Werk entscheidet, abgesehen vom zeitgeschichtlichen und kulturellen Kontext, ja sogar vom Lebensalter des Urteilenden. Auch die Frage, für wen ein Werk bestimmt war, darf nicht außer Acht bleiben. Sowohl Courbets Gemälde "Der Schlaf", das zwei nackte, ineinander verschlungene Frauen zeigt, als auch sein Ursprung der Welt, eine behaarte Vulva, waren Auftragsarbeiten für einen Privatsammler. Wir diskutieren also öffentlich über Werke, die niemals für die Öffentlichkeit bestimmt waren.
    Aktdarstellung und Pornografie
    Geht man der Frage nach, wo etwa für heutige Betrachter die Grenze zwischen Aktdarstellung und Pornografie zu ziehen sei, so bietet sich in Sabine Poschels Buch der Vergleich zwischen dem schon beschriebenen Barberinischen Faun aus der Münchner Glyptothek und einer Gouachezeichnung von Egon Schiele an, seinem 1914 entstandenen Weiblichen liegenden Akt mit gespreizten Beinen. Denn ungeachtet des Zeitsprungs und der unterschiedlichen Gattungen zeigt die Darbietung des nackten Körpers in beiden Werken eine grundlegende Übereinstimmung: die auf Untersicht angelegte Darstellung mit direktem Blick auf die Scham. Sabine Poeschel sieht hier einen grundsätzlichen Unterschied. Während der Faun nach einem ekstatischen Rausch entspannt und lasziv daliege, merke man dem weiblichen Modell bei Schiele die Anspannung und Gezwungenheit an.
    "So würde sich eine Frau einem ihr unbekannten Künstler nicht freiwillig präsentieren und das merkt man ihr an."
    Trotzdem hat die Autorin eine ambivalente Meinung über die kleinformatige Auftragsarbeit des österreichischen Malers, der gegen die heuchlerisch prüde Gesellschaft seiner Zeit aufbegehrte und mit vielen seiner Modelle ein Verhältnis hatte, was den Eindruck vom unfreiwilligen Posieren des Modells relativieren dürfte.
    "Das Kriterium für Pornografie ist ja primär stimulierend. Wenn etwas darüber hinaus transportiert wird, dann haben wir es sehr stark mit dem künstlerischen Akt zu tun. Das ist eine Position, eine Haltung, eine Lebenseinstellung, eine gesellschaftliche Kritik, wie wir sie bei Schiele durchaus verstehen können. Wenn sie reine Stimulanz zeigen, dann ist es primär pornografisch. Die können natürlich auch wunderbar künstlerisch verpackt werden oder auch von Künstlern rein pornografisch gestaltet werden wie zum Beispiel diese köstlichen Pornos von Picasso."
    Heute ist der Akt in seiner idealisierten Form für Maler und Bildhauer offenbar kein Thema mehr. Denn Stimulantien bieten digital bearbeitete Fotos in Magazinen, Kalendern und im Internet sowie Pornofilme, deren überwiegend männliche Klientel aus allen Gesellschaftsschichten stammt.
    "Und zum anderen ist es eben die neue Akzeptanz auch des nicht perfekten Körpers, oder sagen wir mal des nicht dem zeitgenössischen Ideal entsprechenden Körpers; dieser Aspekt liegt eigentlich nur noch in der Werbefotografie vor, wo wir den perfekten Körper sehen, während die bildenden Künstler uns nun ganz andere Akte vorstellen."
    Welche?, fragt sich der Leser allerdings ratlos, wenn er am Ende des Buches nur auf das friedlich ruhende Freundespaar von Lucian Freud oder auf Bettina Rheims' koketten Nackedei aus einer Fotoserie als Beispiele für Gegenwartskunst blickt, seit deren Entstehung allerdings auch schon zweieinhalb bis drei Jahrzehnte vergangen sind. Auch heute gibt es nicht nur Pamela Anderson als Venus oder stark abstrahierte Körpersilhouetten, sondern durchaus noch Künstler, die den Akt thematisieren, wie das unter anderen Norbert Tadeusz gemacht hat. Sicher zu Recht führt Sabine Poeschel schwierige urheberrechtliche Bedingungen für die Reproduktion der Werke an, z. B. im Falle Francis Bacons. Zum anderen stellt sie resümierend - und das dürfte der gewichtigere Grund sein -, die Frage, ob der profane, demokratisierte und seiner Aura enthobene Akt überhaupt noch die Erwartungen des heutigen Betrachters erfülle, wenn sie schreibt: "Ist der Bruch immer weiterer Tabus der einzige Weg zur Erneuerung beziehungsweise Weiterentwicklung des Aktes? Oder hat sich das Thema gar erschöpft, wenn die Nacktheit in einer Gesellschaft nicht mehr sein kann als banal oder - noch schlimmer - langweilig? Mit Sicherheit werden wir eine überraschende und aufregende Antwort bekommen."
    Sabine Poeschel: "Starke Männer, schöne Frauen. Die Geschichte des Aktes"
    Verlag Philipp von Zabern, 160 Seiten, 39,95 Euro.