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Ilisu - Illusion eines Vorzeigeprojekts

Der Bau des Ilisu-Staudamms in der Türkei wird von der Regierung mit allen Mitteln vorangetrieben. Nach dem finanziellen Ausstieg Deutschlands, Österreichs und der Schweiz wurden neue Kreditgeber gesucht. Untergehen werden ganze Siedlungen, Kulturgüter - und Vertrauen.

Von Susanne Güsten |
    Der Tigris, so wie er seit Menschengedenken durch Ilisu floss, dem Dorf in einem entlegenen Tal in Südostanatolien. Bis vor wenigen Monaten jedenfalls - heute hört sich das so an …

    Mit Hochdruck rauschen die Wassermassen durch drei Betontunnel, in die der uralte Fluss umgeleitet worden ist. Im alten Flussbett manövrieren Lastwagen und Baumaschinen, schaffen Kalkstein, Basalt und Lehm auf die riesige Staumauer, die dort in den Himmel wächst. 140 Meter hoch und zweieinhalb Kilometer breit wird der Damm, und er werde bald fertig sein, sagt Bauleiter Mahmut Dündar von den staatlichen Wasserbauwerken:

    "Wir haben den Kofferdamm bereits fertiggestellt, die Umleitungssstollen sind fertig, der Fluss ist umgeleitet. Die Staumauer soll noch in diesem Jahr fertig werden. Auch am Hochwasserüberlauf und am Wasserkraftwerk gehen die Arbeiten planmäßig voran."

    Die Großbaustelle füllt mit ihren Kasernen, Kantinen und Maschinenparks das ganze Tal. 1500 Arbeiter arbeiten im Schichtbetrieb rund um die Uhr, bei gleißender Sonne und bei Scheinwerferlicht. Das Ilisu-Projekt hat oberste Priorität für die türkische Regierung, sagt der Bauleiter. Er kann von seinem Büro aus jeden Winkel der Baustelle mit Kameras überwachen:

    "Diese Live-Bilder werden direkt ins Büro des Ministerpräsidenten in Ankara übertragen. Er kann 24 Stunden am Tag sehen, wie die Bauarbeiten vorangehen. Die Behörden unterstützen uns. Wenn ein Problem auftaucht, wird es sofort aus dem Weg geräumt."

    Ein solches Problem gab es vor vier Jahren, als Deutschland, Österreich und die Schweiz ihre Kreditgarantien für den Ilisu-Staudamm strichen und sich vom Projekt zurückzogen, weil die Türkei ihre Auflagen zum Schutz von Menschen, Natur und Kulturgüter im Flutungsgebiet nicht erfüllte. Binnen weniger Monate hatte Ankara die Finanzierung mit türkischen Privatbanken reorganisiert und ein neues Konsortium aufgestellt. Nun dürfte der Ilisu-Staudamm sogar früher als geplant in Betrieb gehen: Bereits im nächsten Jahr soll mit der Flutung des Tigris-Tals begonnen werden. Nahezu 200 Siedlungen werden dann in den Fluten versinken, rund 55.000 Menschen von den Wassermassen vertrieben. Das Dörfchen Ilisu direkt am Staudamm ist von den Behörden bereits umgesiedelt worden, in ein eigens errichtetes Musterdorf am Berghang.

    "In unserem alten Dorf war es besser"
    Gastfreundlich führt die Bauersfrau Zekine durch ihr neues Häuschen, zeigt Wohnzimmer, Küche, Bad und Kinderzimmer. Einbauküche, modernes Bad und fließendes Wasser hat das neue Haus - alles Komfort, den es im alten Dorf nicht gab. Trotzdem ist die Bäuerin unglücklich:

    "In unserem alten Dorf war es besser. Dort hatten wir unsere Felder und Obstgärten. Die sind nun alle weg. Und wir können niemals zurück."

    Die meisten Dorfbewohner denken ähnlich, sagt ein junger Mann namens Mehmet:

    "Wir arbeiten jetzt alle auf der Baustelle, aber wenn der Staudamm einmal fertig ist, wird es keine Arbeitsplätze mehr geben. Und die Häuser hier im neuen Dorf mögen gut aussehen, aber die Türen schließen nicht, und die Fensterbretter fallen ab. Das nennt sich Musterdorf, aber leider taugt das Muster nichts."

    Statt in angemessene neue Ortschaften umgesiedelt zu werden, wie es die europäischen Kreditgeber vorgesehen hatten, werden die meisten Bewohner des Flutungsgebiets nun einfach ausgezahlt und in die nächste Großstadt fortgeschickt, wo sie erfahrungsgemäß in den Elendsvierteln landen. Ähnlich wie den Menschen ergeht es Natur und Kultur im Flutungsgebiet: Die mittelalterlichen Brücken, Minarette und Mausoleen der historischen Kleinstadt Hasankeyf werden kurzerhand in einen Kulturpark versetzt, und für die Fledermauskolonien in den Höhlen am Tigris gibt es gar keine Zuflucht. Projektleiter Dündar weist die Folgen nicht von der Hand:

    "Jedes Großprojekt, jede Anlage zur Energiewinnung hat unerwünschte Nebenwirkungen. Aber unser Land braucht Energie, um die Wirtschaft zu entwickeln und den Lebensstandard unseres Volkes zu heben."