Jahrzehntelang ist über den Ilisu-Staudamm gestritten worden – in der Türkei selbst wie in Europa. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ließ es sich jetzt nicht nehmen, das Ergebnis persönlich zu verkünden: "Ich möchte der Öffentlichkeit die Freudenbotschaft verkünden: Wir nehmen am 19. Mai die erste von sechs Turbinen des Ilisu-Wasserkraftwerks in Betrieb - eines der größten Energie- und Bewässerungsprojekte unseres Landes."
Doch nicht alle in der Türkei freuen sich über diese Botschaft. Für das Wasserkraftwerk wurde das obere Tigris-Tal geflutet, das zu den ältesten Siedlungsorten der Menschheit zählt.
Zehntausend Jahre vor Christus ließen sich die ersten Menschen hier nieder und wurden sesshaft, also vor rund zwölftausend Jahren. Bei Rettungsgrabungen für den Damm förderten Archäologen in den letzten Jahren neue Erkenntnisse über die Zivilisationsgeschichte zutage.
Diese Entdeckungen seien dem Ilisu-Projekt zu verdanken, argumentierte die türkische Regierung in einem Werbefilm: "Beim Bau des Ilisu-Damms wurden die am Tigris angesiedelten Stätten von Zivilisationen aus Jahrtausenden ans Tageslicht geholt. 286 archäologische Grabungen und 54 Oberflächensurveys wurden gemacht."
Rettungsgrabungen unter Zeitdruck
Viele Experten sehen das kritischer. Durch den Staudamm sei der Wissenschaft mehr Schaden entstanden als Nutzen, sagt Zeynep Ahunbay, eine Professorin für Architekturgeschichte, die jahrzehntelang gegen den Staudamm gekämpft hat:
"Archäologie muss langsam und geduldig betrieben werden. Wenn ein Damm gebaut wird, muss alles ganz schnell gehen, das schränkt die Wissenschaft ein. Die Grabung steht dann unter Zeitdruck, unter Finanzierungsdruck, unter Personaldruck – was soll sie da schaffen können? Eine Rettungsgrabung ist etwas anderes als eine wirklich wissenschaftliche Ausgrabung."
Zusammen mit Gleichgesinnten hat Zeynep Ahunbay bis hinauf zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gegen den Staudamm geklagt, um die Zerstörung des kulturellen Menschheitserbes zu verhindern.
Das Tigris-Tal sei universelles Kulturerbe, argumentierte der Anwalt Murat Cano in der Klage: "Dieses kulturelle Erbe gehört nicht mir oder dir, es gehört uns allen. Die Türkei mag hier die Hoheit haben, Deutschland hat sie über andere Stätten, die USA über wieder andere. Aber sie alle sind nur Hüter dieses kulturellen Erbes, nur Bewahrer und Beschützer."
Keine Hilfe vom Europäischen Menschengerichtshof
Das sahen die Gerichte anders – auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, der die Klage im vergangenen Jahr abschmetterte. Der Gerichtshof sehe zwar einen europäischen und internationalen Trend, das Recht auf Zugang zum kulturellen Erbe zu schützen, erklärten die Straßburger Richter in ihrer Entscheidung vom Februar 2019:
"Dieser Schutz konzentriert sich jedoch auf das Recht der Minderheiten auf freie Ausübung ihrer eigenen Kultur und das Recht der indigenen Völker auf Bewahrung und Schutz ihres kulturellen Erbes. Dagegen hat das Gericht bisher keinen europäischen Konsens oder auch nur eine Tendenz unter den Mitgliedstaaten des Europarates wahrgenommen, aus der Menschenrechtskonvention ein universelles Individualrecht auf den Schutz des kulturellen Erbes abzuleiten, wie in der vorliegenden Klageschrift gefordert."
Von Europa enttäuscht
Mit anderen Worten: Hätte Cano als Angehöriger einer Minderheit geklagt, die ihre Grabstätten oder Volkstänze durch den Damm gefährdet sieht, hätte er vielleicht eine Chance gehabt. Aber ein Recht auf Erhaltung des kulturellen Menschheitserbes, so stellt sich heraus, gibt es in Europa nicht.
Die türkischen Kläger hat das in ihrer Hoffnung auf Europa schwer enttäuscht, sagt Zeynep Ahunbay: "Es ist einfach niederschmetternd, dass die Richter den Menschenrechtsbegriff immer noch so eng definieren. Sie hätten diese Gelegenheit ergreifen können, um eine breitere Perspektive zu eröffnen, aber leider haben sie die Chance nicht genutzt."
Jahrzehntelang hat die heute 73-jährige Professorin gekämpft, um das kulturelle Menschheitserbe am Tigris zu retten – am Ende vergeblich.