"Wer hat vollbracht all die Taten, Die uns befreit von der Fron? Es waren die Sowjetsoldaten, Die Helden der Sowjetunion. Dank euch, ihr Sowjetsoldaten ! Euch Helden der Sowjetunion!"
Strophe eins aus einem Hymnus an die Sowjetarmee von Johannes R. Becher ? gesungen von Ernst Busch. Nachlesbar ist dies eigenwillige Zeitdokument wie so manches andere in dem von Ilko-Sascha Kowalczuk und Stefan Wolle verfassten Buch ?Roter Stern über Deutschland?, einem bei Links in Berlin erschienenen Sachbuch über die Rote Armee in der DDR. Bis zu ihrem Rückzug in die Heimat hatten russische Truppen fast fünf Jahrzehnte lang auf Wacht zwischen Ostsee und Fichtelgebirge gestanden ? in den achtziger Jahren als eine mit atomaren Mittelstrecken-Raketen auf mobilen Abschussrampen ausgerüstete Streitmacht. Zu ihrer Stärke schreiben die Autoren:
"Die Besatzungstruppen verfügten bei Kriegsende im Frühjahr 1945 über 1,5 Millionen Soldaten und Offiziere. Bis Ende 1947 war die Armee auf 350 000 Mann reduziert und in die Sowjetunion zurückverlegt worden. Ab 1948 erfolgte eine Aufstockung (...) auf etwa 500 000 Mann, Ende der fünfziger Jahre soll die durchschnittliche Stärke bei 400 000 ? 500 000 Mann und seit den späten siebziger Jahren bei etwa 380 000 ? 450 000 Soldaten gelegen haben."
Das war ein militärisches Potential an der Nahtstelle des Kalten Krieges, mit dem Moskau im internationalen Machtpoker durchaus Politik zu machen verstand.
"Die sowjetische Besatzungsarmee erhielt den Charakter einer Angriffsarmee, wozu nicht zuletzt starke Luftlandeeinheiten, Luftsturmeinheiten, Panzerverbände, Brückenbaueinheiten und andere offensive Kampfverbände beitrugen. Im Westen musste die sowjetische Besatzungsarmee als potentielle Invasionsarmee wahrgenommen werden."
Die Autoren, beide Historiker aus dem regimekritischen Wissenschaftsmilieu der ehemaligen DDR, bieten in ihrem Buch den ersten Gesamtüberblick über die sowjetisch-russische Besatzungszeit von 1945 bis 1994 mit allen Höhepunkten und Krisen, die mit Stichworten wie Berliner Blockade, Niederschlagung des Juni-Aufstands, Absicherung des Berliner Mauerbau und Raketen-Nachrüstung gekennzeichnet sind. Über das rein Militärische hinaus betten sie ihre Darstellung in den Kontext der politischen Entwicklung ein. Ihr erstes Kapitel ?Die Russen kommen!? blendet zurück in die Endzeit des Zweiten Weltkrieges. Geschildert werden der opferreiche Vormarsch der russischen Armeen ins Deutsche Reich, die blutige Schlacht um die Seelower Höhen, die allein in sechs mörderischen Tagen 80 000 deutschen und 30 000 russischen Soldaten den Tod brachte, und der erbitterte Kampf um Berlin. Kowalczuk und Wolle werden der Roten Armee historisch durchaus gerecht, sie dämonisieren sie nicht, sie verschweigen aber auch böses Erleben aus dem Frühjahr 1945 nicht, die furchtbaren Exzesse, zu denen sich die sowjetische Soldateska hinreißen ließ.
"Vergewaltigungen, Raubüberfälle, wahllose Erschießungen und sinnlose Brandstiftungen gehörten im April 1945, aber auch darüber hinaus, zum Alltag des russischen Vormarschs. (...) Der Hass wurde zumeist exzessiv ausgelebt, wenn Alkohol im Spiel war. (...) Insgesamt wird geschätzt, dass beim Vormarsch der Roten Armee von Ostpreußen bis nach Berlin und später an die Demarkationslinie annähernd 1,9 Millionen Mädchen und Frauen missbraucht worden sind, davon in der Sowjetischen Besatzungszone etwa 500 000."
"Demokratische Erneuerung oder Sowjetisierung?" lautet die Alternative, die die Autoren im zweiten Kapitel thematisieren. Sie referieren nicht nur die sowjetische Reparations- und Demontagepolitik, sondern auch den inneren Aufbau und die Umwälzungen in Herrschaft und Gesellschaft in der sowjetischen Besatzungszone, die schon in der Nachkriegszeit zur Diktatur der SED führen sollten. Sie existierte so lange, wie sie sich auf die Bajonette der Sowjetarmee stützen konnte. In der DDR weckte das freilich kaum Gefühle, wie der Parteibarde sie in Strophe zwei seines Hymnus? einst beschworen hatte:
"Wem dankt all das Gute und Schöne Der deutsche Arbeitersohn? Er dankt es dem Blute der Söhne, Der Söhne der Revolution. Vergesst nicht das Blut der Söhne, Der Söhne der Revolution."
Das Verhältnis zwischen der DDR-Bevölkerung und den sowjetischen Streitkräften war lange Zeit von Furcht und Angst, später von Misstrauen und kritischer Distanz bestimmt ? auf beiden Seiten. Wie Kowalczuk und Wolle vor Augen führen, wirkte sich das auch auf den Alltag der Sowjetsoldaten in ihren DDR-Garnisonen aus. Sie wurden in totaler Isolierung gehalten, ihre Kasernen glichen Ghettos, allein erhielten einfache Soldaten niemals Ausgang. Auch das Verhältnis der Nationalen Volksarmee zu den sowjetischen Truppenteilen, zum ?Regiment neben an?, war eher kritisch als kameradschaftlich. ?Waffenbrüder ? Klassenbrüder?: die griffige Losung der SED entsprach der Realität mitnichten. Indes war mit dem Ende des DDR-Sozialismus und der deutschen Wiedervereinigung der Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland eine Frage der Zeit geworden. Am 31. August 1994, nach einer logistischen Meisterleistung von vier Monaten, kehrte der letzte russische Soldat in seine Heimat zurück. Generaloberst Matwej Burlakow, letzter Oberkommandierender der Westgruppe der russischen Truppen in Deutschland, erstattete Boris Jelzin, seinem zur Verabschiedung aus Moskau nach Berlin angereisten Präsidenten, auf dem Gendarmenmarkt in Gegenwart des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl militärisch knapp die Meldung:
"Ich melde: Der zwischenstaatliche Vertrag über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzuges der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist erfüllt."
Der westliche Brückenkopf der östlichen Großmacht von ehedem war friedlich geräumt. Der Kanzler traf damals den richtigen Ton in seiner Abschiedsrede auf einem Festakt im Schauspielhaus:
"Der Tag, an dem wir heute hier zusammenkommen in Berlin, ragt unter den denkwürdigen Ereignissen als ein Schlusspunkt der Nachkriegsgeschichte Europas heraus. Fast fünfzig Jahre, nachdem die sowjetische Armee das Gebiet des damaligen Deutschen Reiches erreichte, verlassen heute russische Soldaten unser Land. Sie gehen nicht als Besatzung, sie gehen als Partner, sie gehen als Freunde."
Jelzin deutete die historische Stunde als Zäsur:
"Die Nachkriegszeit in den russisch-deutschen Beziehungen ist vorbei. Sie wird ersetzt durch die Periode der Freundschaft und Zusammenarbeit."
Mit dem Abzug der russischen Streitkräfte lassen Kowalczuk und Wolle ihr Buch ausklingen. Es ist eindringlich und anschaulich geschrieben, sachlich fundiert und informativ, reich illustriert mit historische Fotos, die allerdings in miserabler Qualität wiedergegeben werden, es offeriert erstmals veröffentlichte Dokumente und Zeitzeugenberichte, die Quellen werden korrekt ausgewiesen. Ein rundum gelungenes Werk, das seine Leserschaft vor allem in den neuen Bundesländern finden dürfte.
Karl Wilhelm Fricke über Ilko Sascha Kowalczuk und Stefan Wolle: Roter Stern über Deutschland. Sowjetische Truppen in der DDR. Erschienen im Christoph Links Verlag Berlin Das Buch umfasst 256 Seiten und kostet 15 Euro und 50 Cent. Die dreiteilige Fernsehdokumentation ist zum Preis von etwa 35 Euro ebenfalls über den Buchhandel, den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg oder auch direkt beim Links Verlag zu beziehen.