"Ich blieb unter dem LKW. Als er von der Schiffsrampe fuhr, klammerte ich mich weiterhin am Reserverad fest. Und während ich unter dem LKW hing, zog die Straße nur Zentimeter unter meinem Körper immer schneller vorbei."
Ajar ist zu fast allem bereit. Auf der Flucht aus seiner Heimatstadt Kirkuk im Nordirak über Griechenland bis in die Schweiz riskiert er mehrfach sein Leben. In Zürich stellt er einen Asylantrag, der jedoch abgelehnt wird, da man seinen Angaben keinen Glauben schenkt. Daraufhin taucht er unter. Das Leben in der Illegalität ist den Protagonisten des Buches "Nowhere Men" gemeinsam. Christoph Miler versammelt darin die oft erschütternden Schicksale von Frauen und Männern, die allesamt auf ein Leben in Sicherheit und Wohlstand in Westeuropa hoffen, stattdessen aber mit dessen unerbittlicher Bürokratie konfrontiert werden. Als etwa die Nigerianerin Bidemi, der in ihrer Heimat die Steinigung droht, von ihrer bevorstehenden Abschiebung aus der Schweiz erfährt, verliert sie die Beherrschung. Unter Tränen schreit sie den Beamten an, er schicke sie direkt in den Tod, woraufhin er ungerührt reagiert:
"Er sagte zuerst nichts. Erst ein paar Sekunden später erklärte er mir, dass es ihm leidtue. Er glaube mir, aber er würde nur seine Pflicht tun. Das Gesetz durchsetzen, das sei sein Job, auch wenn es ihm nicht immer gefalle. Ich würde bestimmt einen sicheren Ort zum Leben finden."
Bei diesen Erfahrungsberichten handelt es um die Essenz zahlreicher Gespräche, die der Österreicher Christoph Miler über mehrere Jahre mit illegalen Einwanderern in Zürich geführt hat. In drei großen Kapiteln, die das Leben in der Heimat, die Flucht nach Europa und den Neuanfang in der Schweiz beleuchten, erzählt Miler völlig schmucklos sechs exemplarische Geschichten. Geschildert werden sie rein subjektiv aus Sicht des jeweiligen Flüchtlings; stilistisch erinnern sie an Gesprächsmitschriften. So fehlt dem Leser, anders als bei literarisch aufwendiger gestalteten Schicksalen, beinahe jede Möglichkeit zur Distanzierung. Was die Protagonisten durchleiden, vermittelt sich direkt, roh, ohne fiktionale Abfederung. Wie Ajars Fluchtetappe im überfüllten Laderaum eines Lastwagens, die gespenstisch an den Tod von 71 Menschen in einem ungarischen Schlepperfahrzeug im August dieses Jahres erinnert:
"Ich konnte die heiße Luft kaum einatmen. Eine Klimaanlage gab es nicht, Fenster auch nicht. Die Plane durfte aus Sicherheitsgründen nicht hochgezogen werden. Ich bekam kaum Luft, mir wurde schwindlig – wir hatten alle Angst davor, zu ersticken, hielten uns das T-Shirt vor den Mund und atmeten so flach wie möglich. Die Menschen schwitzten, irgendwo in der hinteren Ecke schrie ein kleines Kind, eine Frau weinte, manche beteten laut. Ich fragte mich, wie viele in diesem LKW wohl in den nächsten Tagen sterben würden."
Miler bildet nicht nur ab - er bezieht auch Stellung
Mehr als die Hälfte des Buches bildet Recherchematerial, das der studierte Grafikdesigner Christoph Miler zu den Themenkomplexen Migration und Globalisierung zusammengetragen hat. Immer wieder unterbrechen den Text Statistiken, Zitate und Grafiken, die schwer fassbare Zusammenhänge visualisieren: So stellt Miler auf einer Doppelseite das Zusammenspiel von Agrarsubventionen, transkontinentalen Handelsabkommen, Börsenspekulationen und Geschäftsmethoden multinationaler Konzerne bei der Verelendung ganzer Völker in der südlichen Hemisphäre dar. Und er bildet nicht nur ab, er bezieht auch Stellung – indem er Bezüge herstellt: So führen seine Materialcollagen beispielsweise klar vor Augen, dass unter dem zynischen Begriff "Wirtschaftsflüchtling" subsummierte Migranten deshalb nach Europa aufbrechen, weil sich die Industriestaaten seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten auf ihre Kosten bereichern und ein menschenwürdiges Leben in ihren Herkunftsregionen nahezu unmöglich machen. Auch unter den Protagonisten in "Nowhere Men" sind solche, die der Armut in ihrer Heimat entfliehen. Sissoko aus Mali etwa, der in der Schweiz sein Geld schwarz als Küchenhilfe verdient. Davon kann er sich nur kurze Telefongespräche mit seiner Frau in der Heimat leisten, wie Christoph Miler ihn erzählen lässt:
"Alles wurde zwar vom Rauschen übertönt, das durch die Entfernung entstand, aber im Hintergrund hörte man, trotz all des Lärms, auf der Straße spielende Kinder, man hörte den Wind und ich hörte den Atem meiner Frau. Und immer, wenn sie mir von Mali, von den staubigen Straßen, den geschlossenen Geschäften und unserem Nachbarn in der Goldmine erzählte, wurde mir klar, wofür ich das alles tat. In ein paar Jahren sollten wir es besser haben. Ich hoffte, dass sich all die Strapazen am Ende lohnen würden."
Die große Tragik besteht darin, dass auch das neue Leben der illegalen Einwanderer in der Schweiz von Entbehrung, Unsicherheit und Krankheit geprägt ist. Und doch gehören die Protagonisten dieses Buchs ohne Frage zu den Glücklichen, die es geschafft haben, die auf dem Weg in den "goldenen Westen" nicht in der Wüste verdurstet, im Mittelmeer ertrunken oder auf unabsehbare Zeit in einem überfüllten Lager gestrandet sind. All diesen Gefahren zum Trotz werden sich auch weiterhin jeden Tag Menschen rund um den Globus auf den Weg machen. Denn selbst die allergeringste Aussicht auf Glück, das verdeutlicht Christoph Milers Buch, ist besser als gar keine Perspektive. Auch für Sissoko gab es an der libyschen Küste vor der Überfahrt ins Ungewisse kein Zurück mehr.
Christoph Miler: "Nowhere Men. Illegale Migranten im Strom der Globalisierung"
Luftschacht Verlag. Wien 2015. 320 Seiten. 23,20 Euro
Luftschacht Verlag. Wien 2015. 320 Seiten. 23,20 Euro