Im Oktober 2021 ist es Journalisten gelungen, das gewaltsame Vorgehen bei Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze zu filmen. Das ARD-Studio Wien hatte zuvor gemeinsam mit Medienpartnern von Lighthouse Reports, dem ARD-Magazin Monitor, SRF-Rundschau, Spiegel, Novosti und RTL aus Kroatien, der Zeitung Libération knapp neun Monate lang Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze untersucht. Eine E-Mail gibt nun erneut Anlass zu Spekulationen, dass die Pushbacks weitergehen - mit Deckung der Regierung in Zagreb.
- Was genau hat das Journalisten-Team gefilmt?
- Was sind Pushbacks und warum sind sie illegal?
- Wie ist die Situation an der kroatisch-bosnischen Grenze?
- Wer führt die illegalen Abschiebungen in Kroatien durch?
- Wer gibt die Befehle für die Pushbacks?
- Warum eine Mail Zagreb unter Druck setzt?
- Welche Rolle spielen die Bemühungen Kroatiens, Schengen-Mitglied zu werden?
Was genau hat das Journalisten-Team gefilmt?
Zu sehen sind maskierte uniformierte Männer, die mit Schlagstöcken eine Gruppe von Flüchtenden aus Kroatien in den kroatisch-bosnischen Grenzfluss Korana nach Bosnien und Herzegowina treiben. Aus dem Wald sind Schläge und Schmerzensschreie zu hören, denn die Flüchtenden müssen offensichtlich durch ein Spalier maskierter Uniformierter.
Die Reporterinnen und Reporter legten sich dafür auf die Lauer, verkleideten sich als Fischer, saßen in Jägerkleidung im Gebüsch, ließen Drohnen aufsteigen, werteten Satellitenaufnahmen und hunderte Social-Media-Accounts kroatischer Polizisten aus und sprachen mit einem Dutzend Quellen, die nah legen, dass die Befehle für die Pushbacks von der Regierung kommen. An fünf verschiedenen Orten an der bosnisch-kroatischen Grenze filmten sie zwischen Mai und September 2021 insgesamt elf Pushbacks. Zu sehen sind 38 Polizisten – darunter zwei Frauen – die insgesamt 148 Menschen illegal über die grüne Grenze abschieben.
Was sind Pushbacks und warum sind sie illegal?
"Pushbacks sind staatliche Maßnahmen, bei denen flüchtende und migrierende Menschen – meist unmittelbar nach Grenzübertritt – zurückgeschoben werden, ohne die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen oder deren Rechtmäßigkeit gerichtlich überprüfen zu lassen."
European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)
European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR)
Pushbacks und Polizeigewalt an der kroatischen EU-Grenze mit Bosnien sind nach diesen Recherchen nicht zu leugnen. Die NGO Danish Refugee Council registrierte 16.000 Pushback-Fälle von Kroatien nach Bosnien und Herzegowina für 2020 - und allein 1.245 im August 2021. Ein Viertel der Betroffenen gab an, dabei Gewalt erlebt zu haben. Mehr als die Hälfte sagte, ihnen seien persönliche Gegenstände abgenommen oder zerstört worden.
Das verstößt gegen geltendes Recht. Es ist zudem illegal, Menschen inoffiziell über eine grüne Grenze abzuschieben und ihre Asylgesuche zu ignorieren – auch wenn sie keine gültigen Papiere für einen Grenzübertritt haben. Das verstößt gegen kroatisches Recht und fundamentale Vorgaben des Völkerrechts sowie des Europarechts: EU-Recht, Europäische Menschenrechtskonvention und Genfer Flüchtlingskonvention. "Pushbacks sind schlicht und einfach illegal", erklärt Gillian Triggs, stellvertretende UN-Flüchtlingshochkommissarin.
Wie ist die Situation an der kroatisch-bosnischen Grenze?
Nachdem die "alte Balkanroute" im März 2016 durch die Stacheldrahtzäune an der ungarisch-serbischen und ungarisch-kroatischen Grenze unterbrochen wurde, ist längst eine "neue Balkanroute" entstanden - weiter westlich. Nun wählen die Menschen den Weg über Albanien, Montenegro und Bosnien, um nach Kroatien und damit in die EU zu gelangen.
Im Juni 2021 waren laut UNO-Flüchtlingshilfswerk etwa 12.000 Menschen in den Ländern entlang der Balkanroute unterwegs - 45 Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Der größte Teil von ihnen kommt aus Afghanistan, gefolgt von Pakistan, Bangladesch und Syrien. Die meisten von ihnen verharren in Lagern auf der bosnischen Seite und hoffen auf eine Gelegenheit, um die schwer zu passierende Grenze zu überwinden.
Der Fluss Korana bildet eine "grüne Grenze" zwischen Kroatien und Bosnien - also eine international anerkannte Landesgrenze mit einem Grenzverlauf durch ein Binnengewässer. An diesem Grenzfluss sind die Aufnahmen des Rechercheverbands entstanden - auf der bosnischen Seite. Die Migranten, die von den Vermummten geschlagen und über den Fluss getrieben wurden, kamen also aus Kroatien und waren nicht gerade auf dem Weg dorthin.
Wie die Recherchen zudem ergeben haben, werden Flüchtende auch weit im Landesinneren aufgegriffen, viele sogar illegal von Italien, Slowenien oder Österreich aus wieder nach Kroatien abgeschoben und landen dann in Bosnien.
Die Praxis der Pushbacks verändert auch die Landschaft im Grenzgebiet der Krajina um die bosnischen Städte Bihać und Velika Kladuša: Satellitenbilder zeigen eine rege Bautätigkeit in der abgelegenen und dünn besiedelten Gegend im Nordwesten des Landes. Zwischen 2019 und September 2021 wurden in Grenznähe sieben neue Straßen gebaut. Sie enden teilweise direkt an der Grenze in Bereichen, in denen die Pushbacks von den Reportern und Reporterinnen dokumentiert wurden. Somit können die Menschen an die grüne Grenze gefahren und dort abgeschoben werden.
Wer führt die illegalen Abschiebungen in Kroatien durch?
In dem Filmmaterial des Journalistennetzwerks sind maskierte Uniformierte zu sehen, die Menschen mit Schlagstöcken traktieren, in den Grenzfluss Korana treiben und dabei "Go to Bosnia" rufen. Sie tragen Sturmhauben, einer hat einen Tonfa-Knüppel mit dem charakteristischen Quergriff in seiner rechten Hand. Die Uniformen der vier maskierten Männer an der Korana haben keine Abzeichen.
Doch die Recherchen und der Abgleich der Kleidung legen nahe, dass es sich um Angehörige der kroatischen Polizei handelt. Sechs aktive und ehemalige Polizisten bestätigen, dass die Vermummten offizielle Ausrüstung der kroatischen Interventionspolizei tragen (Jacke, Gurt, Dienstpistole, Pistolenhalfter, Handschellenhalter, Tonfa-Schlagstock).
Die Maskierten gehören offensichtlich zur kroatischen Interventionspolizei. Das sind Einheiten mit insgesamt ca. 2.000 Mitgliedern, die zum Beispiel bei Demonstrationen und an der kroatisch-bosnischen Grenze eingesetzt werden. Alle 20 kroatischen Polizeiverwaltungen haben solche Einheiten - das Kommando auf nationaler Ebene gibt die Polizeidirektion in Zagreb.
Dass die Interventionspolizei an illegalen Abschiebungen beteiligt ist, zeigen auch die Drohnen-Aufnahmen eines weiteren Pushbacks nahe Šturlić im Mai 2021, den das Rechercheteam gefilmt hat. Drei der beteiligten Männer tragen die Uniform der Interventionspolizei, bei einem steht sogar "Interventna Policija" auf dem Jackenrücken.
Željko Cvrtila ist ein ausgewiesener Experte für die kroatische Polizei. Mehr als 22 Jahre arbeitete der 49-jährige für das kroatische Innenministerium. Der Polizist stieg dort auf bis zur hochrangigen Führungskraft, leitete die Abteilung für Interne Ermittlungen und Zeugenschutz, war Chef der Kriminalpolizei und stellvertretender Polizeichef. Auch er hält es für wahrscheinlich, dass es sich im Video um Mitglieder der kroatischen Interventionspolizei handelt:
"Ein Grund ist, dass ich kein Motiv sehe, warum jemand in dieses Gebiet vordringen und Migranten abschieben würde und sich überhaupt mit ihnen beschäftigen würde. Und der zweite Grund ist, dass dort alles sehr gut überwacht wird, im technischen, wie im physischen Sinn. Es ist schwer zu glauben, dass irgendeine andere Gruppe außer offiziellen Polizeikräften auf diesem Gebiet existieren könnte."
Wer gibt die Befehle für die Pushbacks?
Bislang haben die kroatischen Behörden stets alle Vorwürfe zurückgewiesen, dass sie Menschen illegal über die "grüne Grenze" nach Bosnien und Herzegowina zurückschicken und dass Polizisten dabei Gewalt anwenden - obwohl zahlreiche Aussagen von Betroffenen davon berichten und Menschenrechtsorganisationen wie Border Violence Monitoring oder Amnesty International Pushback-Gewalt akribisch dokumentiert haben.
Die Polizei untersteht dem Innenministerium in Zagreb. Dass die Befehle für die Pushbacks von dort kommen, bestätigen dem Rechercheverband drei voneinander unabhängige Quellen aus den Reihen der kroatischen Polizei. Aus Angst vor Repressalien möchten sie anonym bleiben. Einer formuliert es so: "Man weiß, dass es illegal ist, aber wer kann schon nein zu einer Weisung von ganz oben sagen – von der Regierung und von Innenminister Božinović."
Das kroatische Innenministerium hat auf Nachfrage des Rechercheverbunds ankündigt, den Vorfall untersuchen zu wollen. Man werde rasch ein Expertenteam an den entsprechenden Ort an der Grenze entsenden. Sollte sich herausstellen, dass es sich um kroatische Beamte handelt, werde man diese zur Verantwortung ziehen, so eine Sprecherin.
Warum eine Mail Zagreb unter Druck setzt
Eine E-Mail wirft jetzt erneut ein schlechtes Licht auf die Rolle der Behörden. Darin steht in Großbuchstaben: Wenn eine Gruppe Migranten außer Landes geschafft würde, sollten die Beamten sie künftig an mehreren verschiedenen Orten abschieben. Vorher sei die Umgebung "gründlich zu inspizieren", um sicherzustellen, dass niemand filmt. Falls Kollegen Migranten "unnötig schikanieren und körperlich misshandeln" würden, heißt es in der E-Mail weiter, sollten die betreffenden Beamten "ermahnt" und ihre Vorgesetzten informiert werden. Wo genau die Grenze zwischen unnötiger und notwendiger Schikane verläuft, wird nicht genauer ausgeführt.
Die E-Mail stammt von Zlatko Čačić, dem stellvertretenden Leiter der Grenzwache in Bajakovo, einer kroatischen Stadt an der Grenze zu Serbien. Gedacht war sie als interne Anweisung für die Kollegen. Doch nun wurde sie dem kroatischen Onlinemedium "Index.hr" zugespielt - und bringt die kroatische Regierung erneut in Erklärungsnot -, denn sie wurde acht Tage nach der Veröffentlichung der Recherche verschickt. Heißt im Klartext: Die Regierung wusste und weiß Bescheid.
Das Dokument sei der erste schriftliche Beweis dafür, dass die Pushbacks von den Behörden angeordnet würden, sagt Sara Kekus vom Zagreber Zentrum für Friedensstudien. Die Haltung, die in der E-Mail zum Ausdruck komme, sei besorgniserregend.
Bereits im Oktober hatten mehrere Polizeibeamte dem "Spiegel" geschildert, dass die Befehle für die systematischen Pushbacks direkt aus dem Innenministerium kämen. Mitglieder der kroatischen Interventionspolizei würden an die Landesgrenzen geschickt und arbeiteten dort mit ortskundigen Beamten zusammen. Intern würden die Aktionen unter dem Titel "Operation Korridor" zusammengefasst.
Beobachter und Polizei-Insider halten die Formulierungen der Mail für eine Schutzbehauptung - zumal die Anweisung direkt nach der Veröffentlichung der "Spiegel"-Recherchen verschickt wurde. In der E-Mail gebe die kroatische Polizei "unumwunden zu, dass sie Pushbacks durchführt", sagt ein ehemaliger kroatischer Polizist, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben möchte. "Ich lese die E-Mail als eine Genehmigung für Pushbacks. Und wenn es genehmigt ist, machst du es auch." Ein weiterer Insider berichtet, dass Vorgesetzte in letzter Zeit oft warnen würden, sich nicht filmen zu lassen.
Die Recherchen zeigen außerdem, dass diese Praxis indirekt von der EU mit viel Geld unterstützt wird. Die Europäische Union zahlt zum Beispiel Überstunden, Zuschläge, Ausrüstung und Unterkünfte für kroatische Polizei an der Grenze. Zwischen 2014 und 2021 hat die EU-Kommission Kroatien – nach eigenen Angaben – 177 Millionen Euro zugewiesen: aus dem Asyl-/Migrations- und Integrationsfonds AMIF und dem Inneren Sicherheitsfonds ISF.
Welche Rolle spielen die Bemühungen Kroatiens, Schengen-Mitglied zu werden?
Wahrscheinlich eine große. Kroatien ist seit 2013 EU-Mitglied und will unbedingt auch Mitglied des Schengen-Raums werden. Und deshalb hat Kroatien durchaus Motive dafür, die EU-Außengrenzen sichtbar zu schützen - mit allen Mitteln.
Der Grüne EU-Abgeordnete Erik Marquardt kommentiert das Korana-Video daher so: "Es ist offenbar eine staatlich organisierte Gewalt, wo man die Rechte der Menschen, aber auch ihre Würde überhaupt nicht mehr achtet, wo man sie entmenschlicht und am Ende eben, ohne dass sie etwas verbrochen haben, auf ungeheure Art und Weise verprügelt und entwürdigt." Solange die systematischen Menschenrechtsverletzungen stattfänden, könne Kroatien nicht Mitglied des Schengenraums werden, betont der Grünen-Politiker. Das müsse auch die neue Bundesregierung sehr klar machen.
Lena Düpont, Innen- und Migrationsexpertin der EVP-Fraktion im Europaparlament, verwies
im Deutschlandfunk
auf das Problem, dass es keine europäische, gemeinsame Vorgehensweise beim Thema Grenzschutz, Asyl und Migration gebe. Düpont warb für das "Asyl- und Migrationspaket" der EU, das Fragen behandele wie: "Wie können wir effektiven Grenzschutz gewährleisten? Wie können wir aber gleichzeitig nicht nur unsere Werte, unsere Ansprüche aufrecht erhalten, sondern wie können wir vor allen Dingen auch europäische internationale Verpflichtungen wie Genfer Flüchtlingskonvention, das Staaten, das Non-Refoulement-Prinzip in Einklang miteinander bringen?" Doch komme die EU bei der Verhandlung dieser Fragen im Asyl- und Migrationspaket nicht weiter voran.
Quellen: ARD-Studio Wien (Andrea Beer, Srdjan Govedarica, Eldina Jasarevic, Lamia Sabis, Jan Heier, Daniel Dzyak), Lighthouse Reports, ARD-Magazin Monitor, SRF-Rundschau, Spiegel, Novosti, RTL, Libération, Statista, UNHCR, Frontex, og