"Neunzehnhundertsechsundsechzig roch nach nichts. Da gab es weder Fußbodenheizungen noch isolierte Fenster oder einladende Kamine; die Einwohner der kleinen Stadt froren, sie waren schlecht gelaunt und hatten steife Finger. Fast meinte man, den kalten Krieg zu spüren. ( ... ) Es war das Leben vor dem Internet und den Medien, es gab nur die Tageszeitung, und Journalisten trugen zerknitterte Anzüge. Die Welt gehörte den Männern, und hier, im Ostteil des in Gut und Böse geteilten Landes, wunderte sich darüber keiner. Farbige gab es nur in Afrika und in Büchern, man musste ausschließlich das begreifen, was in der kleinen Stadt, im kleinen Land passierte, und das war wenig, es stand in der Tageszeitung."
Sibylle Berg lässt ihre Leser im neuen Buch an keiner Stelle im Unklaren, in welchen Zeiten und an welchem Ort wir uns befinden: "Vielen Dank für das Leben" beginnt 1966 in der DDR, setzt sich in den späten achtziger Jahren fort im kapitalistischen Westen und endet 2030 in einem Europa, das die Finanzkrise, aber auch jede Zukunft schon längst hinter sich hat. Diese 64 Jahre sind die Zeitspanne ihres Romans – und die Lebensjahre ihrer Hauptfigur Toto.
"Es war der Versuch, ein Menschenleben von Anfang bis zum Ende durchzuerzählen, das ja, gerade in Totos Fall - Zerfall des Sozialismus, Untergang oder Veränderung des Kapitalismus und ein bisschen Zukunft - dann irgendwann Geschichte wird. Das war die Geschichte. Das war die Geschichte von den 1970er-Jahren bis 2030. Und in diesen Passagen – die von außen erzählt werden, die protokollieren die Zeit - wird zusammengefasst, was passiert da jetzt gerade. Das kriegen wir in unserem Alltagsleben, oder Toto kriegt das in seinem Leben, das täglich aus Nahrungsbeschaffung und Schlafen und Ausscheidung besteht, ja nicht mit. Man hat ja nicht das Gefühl, oh, ich bin Teil einer Geschichte, oder Teil von einer geschichtlich interessanten Zeit."
Es ist allerdings nicht nur ein beiläufiges Protokoll der laufenden Ereignisse, sondern die Illustration eines Verfalls. In diese Dekadenzgeschichte wird Toto hineingeworfen – ein Menschenwesen ohne Arg und auch mit wenig Fantasie, sich die Grausamkeiten seiner Umwelt ausmalen zu können.
"Toto war keiner, der sich aufdrängte, niemand, der Situationen verändern wollte. Er war kein Kämpfer und kein Mensch, der ein Interesse daran hatte, sich selber zu erforschen. Toto untersuchte, in welchen Momenten ihm wohl war und welche es zu vermeiden galt; mehr, so dachte er, braucht es doch nicht, um elegant durch dieses Leben zu kommen, dessen Länge er sich nicht vorstellen konnte."
Toto wird geboren als ein "Nichts": Er oder sie ist nicht nur ein unbeschriebenes Blatt, und wird es auf gewisse Weise auch immer bleiben. Er oder sie ist außerdem ein Wesen, das eine eindeutige Zuordnung in männlich oder weiblich nicht zulässt. Er wächst zunächst als Junge auf, später soll sie zur Frau werden – aber Totos Körper bietet keinen rechten Anhaltspunkt, welcher Weg der richtige sein könnte. Es ist von Anfang an ein überdimensioniertes Menschenkind, das von der Mutter verachtet, später im Kinderheim verspottet, von der Wärterin gequält und ohnehin von jedem missverstanden wird. Toto ist der Sonderling schlechthin, eine hochliterarische, auch künstliche Figur, die ins Getriebe der Welt gestoßen wird:
"Einmal wollte ich das einfach durchexerzieren, das Leben eines Außenseiters. Und Toto hätte jetzt auch, was weiß ich, einfach nur – es langt ja wenig, um Außenseiter zu sein – rote Haare haben können, schwul sein, lesbisch sein, behindert sein. Es sind alle die, die sich nicht anpassen wollen oder können, denen wird in dem Buch ein Denkmal gesetzt. Und diese Figur des Intersexuellen kam, weil ich mich auch nicht auf ein Geschlecht festlegen wollte, das war das eine. Ich wollte nicht, dass der Leser denkt: Ah, typisch Frau, sie muss ja so und so sein, oder typisch Mann. Ich wollte, dass man vielleicht auch über diese Geschlechterzuweisung nachdenkt: Was ist denn typisch Mann, typisch Frau, ist es eine Frage der Kleidung, oder ist es eine Frage der Sozialisation."
"Toto interessierte sich nicht besonders für sich selbst, und er hoffte, es werde ihm gelingen, das immer beizubehalten. Wenn er traurig war, versuchte er, den Zustand durch Handlungen zu ändern. Dann betrachtete er Bäume oder den Himmel, versuchte andere Kinder zu trösten, die das aber leider nur selten wollten. Toto dachte nicht an sich selbst, er hatte nur den Grundsatz, anderen nie zur Last zu fallen, sie nicht zu belästigen."
Toto kann ja mit der Welt eigentlich ganz gut umgehen, sie wertet nicht, und sie – guck, jetzt komm ich ins Schleudern, weil schon die Sprache schränkt es ein, es ist weder ein sie noch ein er noch ein es, unsere Sprache ist ein bisschen dürftig für das - Toto wertet die Welt nicht und die Menschen nicht und bezieht eigentlich keine Aktion der Welt gegen sich. Das ist ja eigentlich ein sehr, sehr weiser Standpunkt, also wenn du nicht persönlich gekränkt bist durch den Verlauf deines Lebens. Dazu kommt, dass sie nichts will, also nicht irgendwie die Welt verändern, nicht sich verändern, nicht irgendwie eine Karriere machen oder Geld machen, sondern Toto ist einfach ziemlich froh, dass er da ist.
Dass dieser stets um andere sich sorgende Toto froh ist, hat vielleicht auch ein wenig mit seiner Holzschnittartigkeit zu tun: So engelsgleich und auch ein wenig einfältig muss man schon sein, um unbeeindruckt all die Brutalität zu ertragen, die ihm entgegenschlägt. Er scheint als pummelige Raffael-Putte in eine Goya-Szenerie geraten. Sibylle Berg lässt in ihrem modernen Märchen, das auch eine Passionsgeschichte ist, kaum eine Leidensstation aus: ob Toto in die Obhut grausamer Pflegeeltern oder in die Fänge windiger Westlinker gerät, missbraucht oder verraten wird, verprügelt oder ausgenutzt. Vom Osten geht es in den Westen, und der Weg endet schließlich in einem Paris, dem man seine Robert Doisneau-hafte Romantikfolklore nicht mehr ansehen kann. So abgebrannt wie diese Stadt ist am Ende auch der traurige Held, dem Sibylle Berg alles zumutet, dem sie zugleich aber auch nah und verbunden bleibt bis aufs Totenbett. Ist das nicht ein trostloser Roman darüber, dass der Mensch in einer verkommenen Welt eigentlich kaum anständig bleiben kann?
"Ich fand's eher wie die große Anleitung zum Glücklichsein. Die Widrigkeiten, die Toto begegnen, also Krankheit, und das Leben funktioniert nicht, man wird entlassen, man verliert die Wohnung, man verliert die Freunde, die man nicht hat, das passiert uns ja allen, es gibt ja keinen, der sagen könnte, mein Leben verläuft völlig glatt und reibungslos, und die Frage ist nur: Wie geht man damit um? Verb ttert man? Hat man das Gefühl, ich allein bin ein Opfer, und allen andern geht's prächtig? Und dann kriegt man wirklich böse Laune und läuft Amok."
Toto hat einen großen Gegenspieler: Kasimir. Die beiden begegnen sich schon im Kinderheim. Kasimir ist ein teuflisches Wesen, das gewaltigen Ehrgeiz entwickelt, Toto zu zerstören – ihn zur Strecke zu bringen. Berg überhöht auch diese Figur in ihren mephistophelischen Zügen. Fast wird aus dem Buch eine Parabel über das Gute und Böse schlechthin; es geht hier auf Leben und Tod. Aber dieser Kasimir, der nur das Unheil will, wird dann doch auch korrumpiert von der Reinheit und der Unbeirrbarkeit dieses Anderen. Er verliebt sich – auf eine allerdings fast schon perverse Weise – in Toto, den er zu verachten sich vorgenommen hat.
"Zum einen ist Kasimir wütend, weil er durch Toto merkt, dass er anscheinend homosexuell ist – obwohl das ja auch nicht so klar wäre in dem Fall. Und ja, dass er Gefühle für einen anderen Menschen hat, weil Kasimir eigentlich so dieser Prototyp von Manager ist. Wobei ich nicht Managern Gefühle absprechen möchte, aber manchmal frage ich mich bei diesen Top-CEOs, wo sind denn die Gefühle? Können CEOs lieben? Das ist die Überschrift! Wie kannst du jemanden lieben und vielleicht Nachwuchs produzieren und dann wissend die Welt versauen? Wie geht das? Das sind so die Kasimir-Gedanken"
"Die Männer, die Kasimir bewunderte, arbeiteten in einer immer irrer werdenden Geschwindigkeit am Verfall der Zivilisation. Sie waren die Kannibalen der Neuzeit, ohne jede Intelligenz, die sie befähigt hätte, über ihr Leben hinauszudenken. Die Welt abnagen würden sie, wie ein appetitliches Rippchen.
Toto verkörpert das ganz Andere; er ist einer, der niemals pokern würde, nichts Berechnendes, nichts Spekulierendes hat. Die Welt, will uns das sagen, wäre eine bessere, wenn jeder ein bisschen so wäre wie dieses geschlechtslose Wesen. Sibylle Berg ist vielleicht, auch wenn man es nicht sofort merkt, die moralischste Autorin in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Fast ein bisschen zu vordergründig stellt sie neben die Lebensgeschichte ihres Helden das Versagen der Politik, die Sünden des Neoliberalismus, die Verrohung einer hedonistischen Gesellschaft. Steuern wir auf eine Endzeit zu?
"Ich denke, so doll sind wir nicht, dass wir jetzt unbedingt das Ende der Welt mitbekommen werden. Das haben die Menschen zu jeder Zeit gedacht, vermute ich. Weil es immer eine Veränderung gibt, und die ist schwierig zu schlucken. Ich glaube einfach, dass es anders weiter geht, vielleicht für manche auch besser, für andere nicht. Wenn man Hurrikane und Überschwemmungen mag, dann wird es eine gute Zeit, und wenn man Bankenkrisen mag, auch. Ich glaube, das hört auch nicht so schnell auf, dazu müsste man das ganze System Kapitalismus neu überdenken, und das wollen, glaube ich, die Menschen nicht."
Eine Rettung aus dem ganzen Schlamassel, in dem Toto fortwährend steckt, gibt es dann doch: Er - oder sie - hat ein Talent, eine Begabung, sich ganz an den eigenen Gesang zu verlieren und sich an ihm zu erfreuen. Reüssieren kann Toto damit zwar nicht, aber doch so etwas wie Glück empfinden beim simplen Erzeugen von Tönen. Eine brotlose, lebensrettende Kunst. Ob man sich mit der Literatur auch am Schopf aus dem Morast des Alltags ziehen kann? Oder ganz plump gefragt: Was möchte Sibylle Berg eigentlich mit ihren Texten erreichen?
"Ich wollte einfach jetzt mal ein gutes Buch schreiben, das bleibt unterm Strich. Und Literatur, was Literatur soll? Ich hab keine Ahnung. Kunst soll irgendwas, Kunst soll einen alternativen Lebensraum bilden oder eine Alternative zum täglichen Sich-Ärgern mit Steuerbescheiden oder mit CEOs. Kunst ist eine Fluchtwelt für mich. Und Literatur, kann ich auch nur sagen, vom literaturwissenschaftlichen Kontext abgesehen, bedeutet für jeden was anderes, für viele ist es eben ausschließlich eine Flucht, für manche ist es Trost. Ich habe das Gefühl, ich bin in der Trostabteilung für Außenseiter. Das hab ich nicht angestrebt oder nicht bewusst gewollt, sondern ich merke einfach, dass viele Menschen, die mich lesen, sich sehen oder in ihren komischen Gedanken wiederfinden, und das Gefühl haben, sie sind nicht allein. Und das ist toll."
Sibylle Berg: "Vielen Dank für das Leben",
Hanser Verlag, München 2012,
400 Seiten. 21,90 Euro
Sibylle Berg lässt ihre Leser im neuen Buch an keiner Stelle im Unklaren, in welchen Zeiten und an welchem Ort wir uns befinden: "Vielen Dank für das Leben" beginnt 1966 in der DDR, setzt sich in den späten achtziger Jahren fort im kapitalistischen Westen und endet 2030 in einem Europa, das die Finanzkrise, aber auch jede Zukunft schon längst hinter sich hat. Diese 64 Jahre sind die Zeitspanne ihres Romans – und die Lebensjahre ihrer Hauptfigur Toto.
"Es war der Versuch, ein Menschenleben von Anfang bis zum Ende durchzuerzählen, das ja, gerade in Totos Fall - Zerfall des Sozialismus, Untergang oder Veränderung des Kapitalismus und ein bisschen Zukunft - dann irgendwann Geschichte wird. Das war die Geschichte. Das war die Geschichte von den 1970er-Jahren bis 2030. Und in diesen Passagen – die von außen erzählt werden, die protokollieren die Zeit - wird zusammengefasst, was passiert da jetzt gerade. Das kriegen wir in unserem Alltagsleben, oder Toto kriegt das in seinem Leben, das täglich aus Nahrungsbeschaffung und Schlafen und Ausscheidung besteht, ja nicht mit. Man hat ja nicht das Gefühl, oh, ich bin Teil einer Geschichte, oder Teil von einer geschichtlich interessanten Zeit."
Es ist allerdings nicht nur ein beiläufiges Protokoll der laufenden Ereignisse, sondern die Illustration eines Verfalls. In diese Dekadenzgeschichte wird Toto hineingeworfen – ein Menschenwesen ohne Arg und auch mit wenig Fantasie, sich die Grausamkeiten seiner Umwelt ausmalen zu können.
"Toto war keiner, der sich aufdrängte, niemand, der Situationen verändern wollte. Er war kein Kämpfer und kein Mensch, der ein Interesse daran hatte, sich selber zu erforschen. Toto untersuchte, in welchen Momenten ihm wohl war und welche es zu vermeiden galt; mehr, so dachte er, braucht es doch nicht, um elegant durch dieses Leben zu kommen, dessen Länge er sich nicht vorstellen konnte."
Toto wird geboren als ein "Nichts": Er oder sie ist nicht nur ein unbeschriebenes Blatt, und wird es auf gewisse Weise auch immer bleiben. Er oder sie ist außerdem ein Wesen, das eine eindeutige Zuordnung in männlich oder weiblich nicht zulässt. Er wächst zunächst als Junge auf, später soll sie zur Frau werden – aber Totos Körper bietet keinen rechten Anhaltspunkt, welcher Weg der richtige sein könnte. Es ist von Anfang an ein überdimensioniertes Menschenkind, das von der Mutter verachtet, später im Kinderheim verspottet, von der Wärterin gequält und ohnehin von jedem missverstanden wird. Toto ist der Sonderling schlechthin, eine hochliterarische, auch künstliche Figur, die ins Getriebe der Welt gestoßen wird:
"Einmal wollte ich das einfach durchexerzieren, das Leben eines Außenseiters. Und Toto hätte jetzt auch, was weiß ich, einfach nur – es langt ja wenig, um Außenseiter zu sein – rote Haare haben können, schwul sein, lesbisch sein, behindert sein. Es sind alle die, die sich nicht anpassen wollen oder können, denen wird in dem Buch ein Denkmal gesetzt. Und diese Figur des Intersexuellen kam, weil ich mich auch nicht auf ein Geschlecht festlegen wollte, das war das eine. Ich wollte nicht, dass der Leser denkt: Ah, typisch Frau, sie muss ja so und so sein, oder typisch Mann. Ich wollte, dass man vielleicht auch über diese Geschlechterzuweisung nachdenkt: Was ist denn typisch Mann, typisch Frau, ist es eine Frage der Kleidung, oder ist es eine Frage der Sozialisation."
"Toto interessierte sich nicht besonders für sich selbst, und er hoffte, es werde ihm gelingen, das immer beizubehalten. Wenn er traurig war, versuchte er, den Zustand durch Handlungen zu ändern. Dann betrachtete er Bäume oder den Himmel, versuchte andere Kinder zu trösten, die das aber leider nur selten wollten. Toto dachte nicht an sich selbst, er hatte nur den Grundsatz, anderen nie zur Last zu fallen, sie nicht zu belästigen."
Toto kann ja mit der Welt eigentlich ganz gut umgehen, sie wertet nicht, und sie – guck, jetzt komm ich ins Schleudern, weil schon die Sprache schränkt es ein, es ist weder ein sie noch ein er noch ein es, unsere Sprache ist ein bisschen dürftig für das - Toto wertet die Welt nicht und die Menschen nicht und bezieht eigentlich keine Aktion der Welt gegen sich. Das ist ja eigentlich ein sehr, sehr weiser Standpunkt, also wenn du nicht persönlich gekränkt bist durch den Verlauf deines Lebens. Dazu kommt, dass sie nichts will, also nicht irgendwie die Welt verändern, nicht sich verändern, nicht irgendwie eine Karriere machen oder Geld machen, sondern Toto ist einfach ziemlich froh, dass er da ist.
Dass dieser stets um andere sich sorgende Toto froh ist, hat vielleicht auch ein wenig mit seiner Holzschnittartigkeit zu tun: So engelsgleich und auch ein wenig einfältig muss man schon sein, um unbeeindruckt all die Brutalität zu ertragen, die ihm entgegenschlägt. Er scheint als pummelige Raffael-Putte in eine Goya-Szenerie geraten. Sibylle Berg lässt in ihrem modernen Märchen, das auch eine Passionsgeschichte ist, kaum eine Leidensstation aus: ob Toto in die Obhut grausamer Pflegeeltern oder in die Fänge windiger Westlinker gerät, missbraucht oder verraten wird, verprügelt oder ausgenutzt. Vom Osten geht es in den Westen, und der Weg endet schließlich in einem Paris, dem man seine Robert Doisneau-hafte Romantikfolklore nicht mehr ansehen kann. So abgebrannt wie diese Stadt ist am Ende auch der traurige Held, dem Sibylle Berg alles zumutet, dem sie zugleich aber auch nah und verbunden bleibt bis aufs Totenbett. Ist das nicht ein trostloser Roman darüber, dass der Mensch in einer verkommenen Welt eigentlich kaum anständig bleiben kann?
"Ich fand's eher wie die große Anleitung zum Glücklichsein. Die Widrigkeiten, die Toto begegnen, also Krankheit, und das Leben funktioniert nicht, man wird entlassen, man verliert die Wohnung, man verliert die Freunde, die man nicht hat, das passiert uns ja allen, es gibt ja keinen, der sagen könnte, mein Leben verläuft völlig glatt und reibungslos, und die Frage ist nur: Wie geht man damit um? Verb ttert man? Hat man das Gefühl, ich allein bin ein Opfer, und allen andern geht's prächtig? Und dann kriegt man wirklich böse Laune und läuft Amok."
Toto hat einen großen Gegenspieler: Kasimir. Die beiden begegnen sich schon im Kinderheim. Kasimir ist ein teuflisches Wesen, das gewaltigen Ehrgeiz entwickelt, Toto zu zerstören – ihn zur Strecke zu bringen. Berg überhöht auch diese Figur in ihren mephistophelischen Zügen. Fast wird aus dem Buch eine Parabel über das Gute und Böse schlechthin; es geht hier auf Leben und Tod. Aber dieser Kasimir, der nur das Unheil will, wird dann doch auch korrumpiert von der Reinheit und der Unbeirrbarkeit dieses Anderen. Er verliebt sich – auf eine allerdings fast schon perverse Weise – in Toto, den er zu verachten sich vorgenommen hat.
"Zum einen ist Kasimir wütend, weil er durch Toto merkt, dass er anscheinend homosexuell ist – obwohl das ja auch nicht so klar wäre in dem Fall. Und ja, dass er Gefühle für einen anderen Menschen hat, weil Kasimir eigentlich so dieser Prototyp von Manager ist. Wobei ich nicht Managern Gefühle absprechen möchte, aber manchmal frage ich mich bei diesen Top-CEOs, wo sind denn die Gefühle? Können CEOs lieben? Das ist die Überschrift! Wie kannst du jemanden lieben und vielleicht Nachwuchs produzieren und dann wissend die Welt versauen? Wie geht das? Das sind so die Kasimir-Gedanken"
"Die Männer, die Kasimir bewunderte, arbeiteten in einer immer irrer werdenden Geschwindigkeit am Verfall der Zivilisation. Sie waren die Kannibalen der Neuzeit, ohne jede Intelligenz, die sie befähigt hätte, über ihr Leben hinauszudenken. Die Welt abnagen würden sie, wie ein appetitliches Rippchen.
Toto verkörpert das ganz Andere; er ist einer, der niemals pokern würde, nichts Berechnendes, nichts Spekulierendes hat. Die Welt, will uns das sagen, wäre eine bessere, wenn jeder ein bisschen so wäre wie dieses geschlechtslose Wesen. Sibylle Berg ist vielleicht, auch wenn man es nicht sofort merkt, die moralischste Autorin in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Fast ein bisschen zu vordergründig stellt sie neben die Lebensgeschichte ihres Helden das Versagen der Politik, die Sünden des Neoliberalismus, die Verrohung einer hedonistischen Gesellschaft. Steuern wir auf eine Endzeit zu?
"Ich denke, so doll sind wir nicht, dass wir jetzt unbedingt das Ende der Welt mitbekommen werden. Das haben die Menschen zu jeder Zeit gedacht, vermute ich. Weil es immer eine Veränderung gibt, und die ist schwierig zu schlucken. Ich glaube einfach, dass es anders weiter geht, vielleicht für manche auch besser, für andere nicht. Wenn man Hurrikane und Überschwemmungen mag, dann wird es eine gute Zeit, und wenn man Bankenkrisen mag, auch. Ich glaube, das hört auch nicht so schnell auf, dazu müsste man das ganze System Kapitalismus neu überdenken, und das wollen, glaube ich, die Menschen nicht."
Eine Rettung aus dem ganzen Schlamassel, in dem Toto fortwährend steckt, gibt es dann doch: Er - oder sie - hat ein Talent, eine Begabung, sich ganz an den eigenen Gesang zu verlieren und sich an ihm zu erfreuen. Reüssieren kann Toto damit zwar nicht, aber doch so etwas wie Glück empfinden beim simplen Erzeugen von Tönen. Eine brotlose, lebensrettende Kunst. Ob man sich mit der Literatur auch am Schopf aus dem Morast des Alltags ziehen kann? Oder ganz plump gefragt: Was möchte Sibylle Berg eigentlich mit ihren Texten erreichen?
"Ich wollte einfach jetzt mal ein gutes Buch schreiben, das bleibt unterm Strich. Und Literatur, was Literatur soll? Ich hab keine Ahnung. Kunst soll irgendwas, Kunst soll einen alternativen Lebensraum bilden oder eine Alternative zum täglichen Sich-Ärgern mit Steuerbescheiden oder mit CEOs. Kunst ist eine Fluchtwelt für mich. Und Literatur, kann ich auch nur sagen, vom literaturwissenschaftlichen Kontext abgesehen, bedeutet für jeden was anderes, für viele ist es eben ausschließlich eine Flucht, für manche ist es Trost. Ich habe das Gefühl, ich bin in der Trostabteilung für Außenseiter. Das hab ich nicht angestrebt oder nicht bewusst gewollt, sondern ich merke einfach, dass viele Menschen, die mich lesen, sich sehen oder in ihren komischen Gedanken wiederfinden, und das Gefühl haben, sie sind nicht allein. Und das ist toll."
Sibylle Berg: "Vielen Dank für das Leben",
Hanser Verlag, München 2012,
400 Seiten. 21,90 Euro