Gold, gelb, rubinrot der Herbstwind bläst die bunten Blätter von den Bäumen. In der Wohnung von Kera Till herrscht gepflegtes Chaos: ein Sammelsurium an Kunstbüchern und Zeitschriften in den Regalen, Krimskrams im Setzkasten, an den Pinnwänden flüchtige Skizzen.
"Ich weiß nicht, wo das jetzt ist. Ich habe so ein kleines Buch ... Warte mal ..."
Auf dem Wohnzimmertisch zieht Kera Till aus einem Papierstapel ein blaues Notizbüchlein im Hosentaschenformat.
"Ach, schau, hier! Das hatte ich 1986, oder 85, ja, da war ich noch nicht mal in der Schule, weil ich da noch nicht schreiben konnte. Im Italienurlaub habe ich so ein Alphabet für meine Großmutter gemacht. Meine Mutter hat dann immer die Buchstaben hier hingeschrieben und ich habe dann immer aus den Buchstaben Zeichnungen gemacht. Und dann haben wir das gebunden und meiner Großmutter nach Deutschland geschickt. Hier ein Mann, ein dicker Mann: das ist das D. E ist eine Leiter, das finde ich ein bisschen schwierig. Das G ist eine Maus. Oder das zum Beispiel: das L, ein dünner Stiefel.“
Ein Faible für die Kunst liegt schon in der Familie von Kera Till: Die Mutter ist Französin und führte lange Zeit einen eigenen Kunstbuchverlag in München, ihr Vater war Direktor im Stadtmuseum. Schon während ihres Studiums der Politikwissenschaften kamen die ersten Aufträge als Illustratorin. Heute reißen sich Modemagazine und Werbeindustrie um das anachronistische Kunsthandwerk der 1981 geborenen Kera Till: Ihr Stil wirkt aus der Zeit gefallen und zugleich zeitlos.
"Naiv würde ich sagen. Es ist so eine Mischung aus bewusst so zeichnen und gleichzeitig auch ... Ja, aufgrund dass ich auf keiner Akademie war, auf keiner Fachhochschule für Grafikdesign oder Illustration, dass ich einfach so zeichne, wie ich immer gezeichnet habe.
Das liegt auch daran, dass ich sehr wenig Computer benutze, ich scanne zwar die Zeichnungen ein und da retuschiere ich ein bisschen. Ja, es ist mit Hand gezeichnet und oft auch ein ..., nicht Retro, aber ich würde, sagen zeitloser Stil. Aber ich passe mich natürlich auch den Auftraggebern an. Also wenn jemand möchte, dass die Frau, die ich zeichne, moderne Turnschuhe trägt, dann passt das auch."
Die Renaissance der Strichzeichnung - ganz analog mit Stift und Papier - in der digitalisierten Welt der gestochen scharfen Modefotografie. Nüchtern und reduziert, kolorierte Aquarelle in rot, gelb, blauen Pastelwolken. Das modische Accessoire, je nach Saison. Eine It-Bag, ein Must-Have. Die Großstädterin als Grande Dame mit langen, dünnen Gliedmaßen.
"Audrey Hepburn, Jackie O, diese ganzen ... Ja, große Sonnenbrille, auffällige Frisur, schwarz-weiß, Punkte, Streife, solche Sachen."
Den Alltag der modebewussten Münchnerin hat Kera Till einen Sommer lang für eine Kolumne der Süddeutschen Zeitung illustriert: "Les Munichoises" - Die Münchnerinnen. Bussi-Bussi, Schickimicki, Skurrilitäten aus der Welt der Schönen und Reichen. Die Münchnerin ist schnell skizziert: Klischee hin, Wirklichkeit her schwarz auf weiß.
"Dann mache ich das mit dem Stift hier. Obwohl es jetzt heute so bewölkt ist, mache ich die mit einer Sonnenbrille... Ach, es gibt so viele verschiedene Klischees in München, aber sagen wir mal, dass sie vielleicht so einen Dutt hat, wie ich gerade. Bald hat sie dann einen Woolrich-Mantel, aber jetzt hat sie noch einen Trenchcoat. Und dann hat sie vielleicht noch ein paar Einkaufstüten. Vielleicht hat sie Jeans und kleine Stiefletten. Genau, hier in der Hand könnte sie noch einen Coffee-to-go haben."
Die illustrierten Figuren von Kera Till sind Fashionistas -hochstilisierte Grazien im schlichten Bleistiftkleid mit extrem schlanker Silhouette. Modebusiness und Werbewelt zeigen sich begeistert: Trotz, oder gerade wegen der hochauflösenden Bildqualität unserer Smartphone-Gesellschaft kommen sie an, diese schwungvoll gepinselten Bilder. Der comichafte Retro-Chic von Kera Till beflügelt eben doch noch mehr unsere Fantasie als jedes verkünstelte Hochglanzfoto.
"Man kann sich da nicht der Realität anpassen bei den Zeichnungen, sonst sieht das gleich nicht mehr gut aus."