Archiv

Illustrator Aljoscha Blau
Tiere, die eine Geschichte der Menschen erzählen

Kennen wir Rudyard Kiplings berühmtes Dschungelbuch wirklich? Aljoscha Blau, Illustrator und zweimaliger Jugendliteraturpreis-Gewinner, hat den Text neu illustriert. Anders als die Disney-Verfilmung mit ihrem lustig-harmlosen Ton holt er die Dramatik heraus - und eine beunruhigende Aktualität.

Von Thomas Linden |
    Farbfoto eines jungen Mannes mit Glatze, der ein Buch zeigt bei einer Lesung, es ist der Illustrator Aljoscha Blau
    Illustrator Aljoscha Blau mit Sprecherzieherin Kathrin Buchmann im Berliner Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur (Imago/gezett)
    Nichts vermittelt uns einen so anschaulichen Eindruck vom Chaos des Lebendigen wie der Dschungel. Dabei herrschen gerade in diesem einzigartigen Kosmos von Pflanzen und Tieren strenge Regeln, die seinen Bewohnern Respekt voreinander abverlangen.
    So jedenfalls schildert uns Rudyard Kipling in seinem "Dschungelbuch" das Zusammenleben der Kreaturen. Und er musste es wissen, denn Kipling wurde 1865 in Mumbai, dem ehemaligen Bombay, geboren und kannte den indischen Dschungel aus unmittelbarer Anschauung. Aljoscha Blau wollte in seinen Zeichnungen nicht dem lustig-harmlosen Ton folgen, den die Disney-Studios in ihrer Verfilmung des Stoffs vorgeben.
    Ich suche meistens nach etwas in meinem Leben, das ich zum Text als Visuelles hinzufügen kann, etwas, das ich kenne, ich google ja keine Bilder, ich suche nach Dingen in meiner Umgebung.
    Kiplings Text konfrontiert uns gleich auf den ersten Seiten mit einer harten Welt der Abschiede und des Todes. Heutigen Lesern entgeht nicht die erstaunliche Aktualität, die diesem Text innewohnt. Mowgli, das arglose Kind, wird von den Affen entführt.
    Lesung: Viel zu spät merkte er, dass ihn plötzlich kleine, kräftige Hände an den Armen und Beinen gepackt hatten, das federnde Zweige sein Gesicht streiften – und schon schaute er durch die schaukelnden Äste hinunter auf Baloo, der laut brüllend den Dschungel alarmierte, und auf Bagheera, der mit gefletschten Zähnen am Stamm hochsprang. (Seite 42)
    "Diese Affen sind den Menschen sehr ähnlich"
    Kipling beschreibt die Affen als eine verantwortungslose Horde, die mit hemmungsloser Verspieltheit über ihr Opfer herfällt, es betatscht und seine Hände überall hat. Diese Hände faszinierten auch Aljoscha Blau.
    "Ich mag es, Dingen Bedeutung beizumessen, die auf den ersten Blick nicht wichtig sind, die aber gut wirken, wenn man sie betont. Wie zum Beispiel, dass man ein Porträt von Affenhänden malt, die mit Stöcken und Nüssen und Steinchen schmeißen. Ich habe nur viele Affenhände gezeigt. Das erzählt für mich ganz viel.
    Diese Affen sind auch im Buch so beschrieben, dass sie den Menschen sehr ähnlich sind, aber sie werden trotzdem verachtet, von allen Tieren, also von allen "anständigen" Dschungelbewohnern. Die Hände sind wie Menschenhände, und doch sind sie es auch nicht, sie sind ein bisschen monströs."
    Kipling entwickelt die Geschichte des Naturkinds vor dem Hintergrund eines komplexen Gesellschaftspanoramas der viktorianischen Ära. Es ist die Wolfsmutter, die sich vor der Versammlung der Tiere für Mowgli, das Findelkind - "das nackte Ding" - wie sie es nennt, einsetzt.
    Ein Fremdling, dem eine geballte Ladung Hass der Alteingesessenen entgegenschlägt. Hier gibt es Mobbing, Hetze, üble Nachrede und politische Intrigen, das komplette Repertoire jenes medialen Sumpfes, der uns derzeit beschäftigt.
    Zwei Bürgen stehen für das "haarlose Etwas" ein, Bagheera, der Panther, und Baloo, der Bär, sie werden zum sorgenden Elternpaar, das allerhand auf sich nimmt, um den verspielten Dreikäsehoch im gefahrvollen Dschungel zu beschützen. Zwar tanzt Mowgli den Tieren ganz schön auf der Nase herum, aber sie erkennen gleichwohl die erstaunlichen Talente dieses Kindes.
    "Der einzige Mensch, den die Tiere vor Augen haben, ist ein Individuum, dessen menschliches Wesen erloschen ist. Er ist vielmehr ein Tier, jedenfalls so, wie ich Tiere beschreiben würde. Er ist das stärkste Tier im Dschungel, das Beste und das Schlaueste und das allen überlegene Tier."
    "Lebendige Tiere sind so ausdrucksstark, weil sie uns nichts vormachen"
    Lesung: Die Dschungelvölker, die ihn bisher seiner Schläue wegen gefürchtet hatten, fürchteten ihn nun seiner Kraft wegen; und ging er leise seiner Wege, machte allein das Flüstern, das ihm vorauseilte, alle Pfade im Wald frei. Und doch war der Blick seiner Augen stets sanft. (Seite 202)
    Es ist nicht nur Mowgli, dem Aljoscha Blau ein charaktervolles Standing gönnt. Jedes seiner Tiere besitzt Haltung und Charakter. In seinen Illustrationen erweist sich der gebürtige Russe als ein Meister der Oberflächen. Über das nachtschwarze, fettglänzende Fell des Panthers möchte man die Augen wieder und wieder schweifen lassen, die faltige Haut der Elefanten oder das zerzauste Fell eines verletzten Wolfs verlangen nach einer Berührung der Hand. Der Zeichner belässt den Tieren die realistische Schönheit ihrer Körper und gibt ihnen doch ein menschliches Antlitz.
    "Lebendige Tiere sind so ausdrucksstark, weil sie uns nichts vormachen. Sie sind wie sie sind. Die Wildschweine wollen keine Giraffen sein, die Tiger wollen keine Ziegen sein, sie sind ohne Skrupel, ohne Kompromisse."
    Tiere, die letztlich eine Geschichte der Menschen erzählen
    Eine besondere Eigenart von Aljoscha Blaus Kunst ist die Verschmelzung der Oberflächen. Er komponiert Szenen, in denen Haut, Fell, Stein und Stoff die gleiche Beschaffenheit besitzen, alles wird zu einer Gemeinschaft des Lebendigen, die für ihn ein wichtiger Teil der Geschichte ist.
    "In diesem Buch geht es sehr oft um Körperkontakt, um das Physische, deshalb finde ich es nicht schlecht zu zeigen, dass sie sich richtig anfassen und sogar miteinander verschmelzen.
    In solchen Szenen kommt Blau Kiplings Erzählton sehr nahe, der uns auf unnachahmliche Weise realistische Tiere präsentiert, die letztlich jedoch eine Geschichte der Menschen erzählen. Eine universelle Geschichte, wie sich gerade wieder in ihrer Aktualität zeigt.
    Aljoscha Blau gelingt es, diesem Stück Weltliteratur seinen unverwechselbaren Stempel aufzudrücken, der uns mit der Poesie seiner Bilder in Kiplings Geschichten hineinlockt.
    Rudyard Kipling / Aljoscha Blau: Das Dschungelbuch, NordSüd Verlag,
    238 Seiten, 26 €