Der Büchermarkt heute mit einer italienischen Illustratorin, die mit ihrem ersten Bilderbuch gleich in mehreren Ländern und somit in mehreren Sprachen sehr erfolgreich war.
Francesca Sanna, geboren 1991 auf Sardinien, studierte Illustration und Design in Cagliari, ging danach zum Masterstudium Illustration in die Schweiz, nach Luzern. Ihr Debüt "Die Flucht", aus dem Jahr 2016 wurde in New York mit der Goldmedaille der Society of Illustrators ausgezeichnet. Dieser Auszeichnung folgten viele weitere in Deutschland, u.a. war sie auf der monatlichen Bestenliste des DLF, die Besten 7.
Dieses Jahr im April hat die 56. Internationale Kinderbuchmesse in Bologna stattgefunden. Die Schweiz mit ihrer Vier- oder Vielsprachigkeit war Gastland, hat sich das ABC als Konzept gewählt und zu den 26 Buchstaben und 26 Kantonen 26 Illustratoren ausgesucht, die ein Bild jeweils auf einem zweimetergroßen Aufsteller präsentieren konnten. Sie, Francesca Sanna waren dort vertreten mit dem Buchstaben U, für United, es ist eine internationale Kinderbuchmesse, deshalb ein englisches Wort und man sieht dort ein Bild, auf dem viele Menschen miteinander vereint sind. Sie selber leben in zwei Ländern: in Italien und in der Schweiz. Sind Sie doch ein wenig Schweizerin geworden oder ist die Schweiz Ihre neue Heimat?
Francesca Sanna: Natürlich ist die Schweiz über all die Jahre ein Stück weit Heimat geworden. Ich bin viel unterwegs und deshalb ist Zürich immer ein Ort des Abfahrens und Ankommens. Wenn ich zum Arbeiten nach London fahre und zurückkehre nach Zürich, ist es aber wie nach Hause kommen. Trotzdem habe ich immer auch Sehnsucht nach Italien, also bleibe ich auch weiterhin ein bisschen unterwegs zwischen den Wohnorten.
"Mir fehlt das Meer"
Ute Wegmann: !! Und wenn Sie nun in der Schweiz sind, in Zürich, was vermissen Sie am meisten?
Francesca Sanna: Seitdem ich in der Schweiz lebe, stelle ich fest, dass ich auf verschiedene Arten sehnsuchtsvoll nach Italien schaue: Ich komme aus dem Süden, von Sardinien, mir fehlt das Meer sehr, auch in seiner symbolischen Dimension, weil sich dort Familie und Freunde vereinen, und am Meer groß zu werden, das prägt dich. Das fehlt mir sicherlich, aber es gelingt mir auch, das Leben zu genießen, nicht nur zwei Haushalte zu sehen, die Hälfte hier, die Hälfte in Italien. Sondern ich genieße das Beste von Italien, wenn ich dort bin, und ebenso das Beste, wenn ich in der Schweiz bin.
Ute Wegmann: Um Heimat geht es in Ihrem ersten Buch "Die Flucht". Der Originaltitel lautet "The Journey". Warum ist das Buch zuerst auf Englisch erschienen?
Francesca Sanna: Das lag ein bisschen an meiner Lebenssituation, die ich vorhin schilderte. Die Idee zu dem Buch kam mir spontan. Ich habe versucht, einen Verleger zu finden, der nicht nur in Italien oder nur in der Schweiz tätig war. Wenn ich unterwegs bin oder auf der Kinderbuchmesse in Bologna kaufe ich viele Bilderbücher von Verlegern aus der ganzen Welt. Zuerst fiel mein Blick immer auf englische Verleger, und es begann eine professionelle Zusammenarbeit mit meinem Verlagshaus Flying Eye Books, das in London einen seiner Sitze hat. So entstand das Buch "The Journey" zuerst in Englisch, dann wurde es in viele andere Sprachen übersetzt. Außerdem habe ich in Englisch mein Masterstudium in Luzern absolviert, meine Abschlussarbeit in Englisch gemacht und da lag es nahe, einen ausländischen Verlag zu suchen.
"Mich dem Thema Migration allgemeiner zu nähern"
Ute Wegmann: Journey heißt im Deutschen Reise oder Fahrt. Es geht in der Geschichte aber um mehr als eine Reise, denn es herrscht Krieg und eine Familie muss die Heimat verlassen. Warum hat der englische Verlag die politische Dimension im Titel nicht aufgegriffen?
Francesca Sanna: Das war meine Entscheidung. Als ich an dem Buch gearbeitet habe, an der Universität, war der Titel sehr lang und bezog sich mehr auf den theoretischen Teil meiner Arbeit. Das waren Gedanken, Zielsetzungen und Recherchen, die ich geschrieben habe, Vorarbeiten über das, was ich mit dem Buch bezwecken wollte. Und dann haben wir nach einem kürzeren Titel gesucht, als das Projekt schließlich ein Buch wurde. Meine Idee war, mich dem Thema Migration allgemeiner zu nähern. Während der Arbeit an dem Buch "The Journey" habe ich auch nach historischem Material gesucht, zum Beispiel über die Emigration der Italiener nach Amerika vor dem 19. Jahrhundert. Und dann kamen die 2014/2015-Jahre. Ich wollte nicht, dass das Buch sich auf das eine oder andere Thema beschränkte. Ich wollte den Begriff erweitern, aber sicherlich nicht das Thema dadurch entpolitisieren. Im Grunde wollte ich verschiedene Möglichkeiten der Sichtweise durch den Titel schaffen.
Ute Wegmann: Wie konnten Sie mit der deutschen Übersetzung "Die Flucht" umgehen? War das okay für Sie?
Francesca Sanna: Ich glaube, und das habe ich im Laufe der Jahre gelernt, dass die Übersetzung viel mit dem Kontext zu tun hat. Manchmal ist es schwer zu verstehen, warum ein Verlag einen Titel so oder so übersetzt und verändert hat. "Die Flucht" – ich weiß nicht genau, warum sie es so übersetzt haben, aber ich habe es trotzdem verstanden. Ich kann es nachvollziehen, auch wenn es vom Original abweicht.
Ute Wegmann: Das Buch ist ja im Jahr 2016 erschienen, einem Jahr, wo gerade in Deutschland Flucht und Emigration ein großes Thema waren.
"Die Flucht" erzählt sensibel und eindringlich von der Familie, die ihr Land verlassen muss, erzählt von Verlust, Trauer, Sorgen, Ängsten. Von Dunkelheit, Fremdheit, Bedrohung, Grenzen, Müdigkeit und schließlich von der Hoffnung auf Sicherheit und einen Neubeginn. Was verbindet Sie persönlich mit der Thematik?
Thema Menschenrechte
Francesca Sanna: Für mich persönlich ist es ein grundsätzlich menschliches Thema. Das ist überhaupt das Wichtigste für mich. Das Recht einen Platz zum Leben zu finden, einen Ort zu finden, an dem man sicher ist. Man kann sich das am besten vorstellen, wenn man an die Kinder denkt, die nicht in Sicherheit zur Schule gehen können, die nicht aus dem Haus gehen können, ohne ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Es hat für mich mit allgemeinen Werten zu tun, das Recht auf ein Zuhause.
Und manchmal wird das ganz allgemeine Menschenrecht vergessen, denn je nach Zusammenhang und Nation, wo das Buch erscheint, werden andere Kontexte hergestellt, obwohl das Grundsätzliche und das Menschliche unabhängig davon existieren. Es ist das Herz, das, was die Figuren ausmacht, egal woher sie kommen und wohin sie fahren und wer sie sind, denn im Buch ist das nicht festgelegt. Aber natürlich, als das Buch rausgekommen ist, war das ein ganz bestimmter historischer Kontext, den man nicht außer Acht lassen konnte. Für mich geht es aber um die grundsätzlichen Menschenrechte und das Buch soll für alle sprechen.
Ute Wegmann: Sie spielen in Ihren Bildern mit Größenverhältnissen, wenn ich an die riesigen Grenzposten denke, und mit Ornamentik –Tapeten, oder der Wald wirkt wie eine ornamentale Tapete - und sie scheuen nicht die Farbe Schwarz, mit der Sie auf einer nahezu schwarzen Doppelseite die Bedrohung, die Macht und den Übergriff des Krieges auf Mensch und Land darstellen. War das eine schwere Entscheidung, dem Schwarz so viel Raum zu geben?
Ein Spiel mit Größen und Farben
Francesca Sanna: Für mich sind alle Formen oder Farben, die ich benutze, oder die Wahl Hell oder Dunkel, Möglichkeiten und Handwerkszeug, diese universelle Geschichte in eine ehrliche Geschichte für Kinder zu überführen, ohne etwas auszulassen und trotzdem verständlich mit Bildern zu erzählen. Wenn ich mit diesem Bilderbuch mit Kindern arbeite, machen wir nach ein, zwei Seiten immer eine Pause und reden darüber, das finde ich das Interessante. Und oft fragen mich die Kinder nach der Farbe Schwarz, und wir stellen fest, dass das Schwarz etwas Negatives konnotiert, wie zum Beispiel den Krieg, oder auch andere dunkle Momente der Geschichte sind voller Schwarz. Aber dem gegenüber stehen viele positive Elemente, die Haare der Mutter oder die Umarmungen, die beschützend sind für die beiden Kinder. Und dafür hab ich immer dieselbe Farbe benutzt, das ist ein Instrument, das man auf verschiedene Weise einsetzen kann. Und etwas, dass mir gut gefällt an den unterschiedlichen Größen der Figuren, - da sind diese übergroßen Monsterfiguren und die Familie, die in den Bildern sehr klein ist, - das bemerkte ich, als ich die einzelnen Teile zusammengebaut habe, dass das ein visualisiertes Gefühl der Familie auf der Reise sein muss, sich klein zu fühlen. Und ich habe mich immer gefragt, wie das wohl von den Lesern aufgenommen wird. Ich weiß noch, wie ein Kind das genau so gesagt hat: Sie sind so klein, weil sie sich klein fühlen. Ich dachte, mich zerreißt es, das hat mich so glücklich gemacht, weil meine Bilder von den Kindern genau so gelesen wurden, wie ich es ausdrücken wollte. Das war sehr schön.
Ute Wegmann: Sie haben Ihren ganz eigenen Stil entwickelt. Sie haben gerade gesagt, sie montieren die Szenen zusammen. Ihr Personal, Ihre Figuren, Mensch wie Tier, sind sofort in Gattung und auch Geschlecht erkennbar, und präsentieren sich in einer Art Zweidimensionalität. Wie würden Sie den Stil beschreiben? Mit welchem Material arbeiten Sie?
Francesca Sanna: Ich habe mit Collagen angefangen, sehr einfach, mit Papier, und immer haben mich Formen interessiert. Jetzt arbeite ich oft digital, manchmal auch aus Zeitgründen. Es ist eine sehr bequeme Technik, denn man muss viel bearbeiten und ich reise viel, da kann ich alles mitnehmen. Ich übertrage die Collagen ins Digitale und benutze auch digitale Formen. Zuerst mache ich aber immer Skizzen. Mit der Hand. So entstehen die ersten Gedanken schnell auf dem Papier. Oft sind die Skizzen ziemlich hässlich, ich montiere sie und klebe sie zusammen, und dann funktionieren sie als Layout für eine Seite. Dann mach ich weiter mit den Farben und Formen. Manchmal ist das sehr ungeordnet, und ich schreibe den Text handschriftlich dazu. Manchmal montiere ich beides am Computer. Es variiert immer.
Bilder ohne Schatten
Ute Wegmann: Für viele Zeichner, Maler, Illustratoren ist ja der Schatten unheimlich wichtig. Interessanterweise lässt dieser Stil keine Schatten zu.
Francesca Sanna: Das habe ich tatsächlich kürzlich festgestellt, während einer Tagung zu einem Buch, das ich fast fertig hatte, in dem es viele Landschaften gibt. Man sagte mir, um Tiefe herzustellen, bräuchte es den Schatten. Da habe ich das gemerkt. Ich habe da nie drüber nachgedacht. Mir ist natürlich beim Zeichnen klar, dass ich nicht viele Schattierungen benutze, aber mir erscheint es ein bisschen natürlicher und ich denke nicht viel darüber nach. Manchmal sind sie da. Oft sind sie nicht da. Mir gefällt die flache Tiefe. *lach – Mir gefällt die Idee, dass eine Bilderbuchseite wie eine Theaterkulisse aufgebaut ist. Mir gefällt es, die Tiefe aus der Position der Figuren heraus herzustellen, und dann denke ich nicht an Schatten.
Ute Wegmann: Gibt es ein Vorbild?
Francesca Sanna: Kompositionen sind mir wichtig. Die Kompositionen von Bruno Munari (Red: 1907 – 1998, u.a. Gebrauchsgraphiker) gefallen mir gut. Er ist ein großer Buchautor, aber auch Graphikdesigner. Und was "Die Flucht" betrifft, da gibt es "The Arrival" von Shaun Tan, also selbst der Titel ist eine Referenz an ihn. Ohne Shaun Tans Buch gäbe es meins sicherlich nicht.
Ute Wegmann: Shaun Tan, der große australische Illustrator, der auch in Deutschland sehr bekannt ist, viele Preise gewonnen hat und bereits viele Bücher auch bei uns veröffentlicht hat.
In Ihrem zweiten Buch "Ein Loch gegen den Regen" haben Sie die Bilder geliefert zu einer Geschichte des Schweizer Autors und Spieleerfinders Daniel Fehr. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein Hase, der ein Loch buddelt und nach einander von allerlei Tieren angesprochen wird – von Bär, Biber, Eichhorn, Dachs, Specht - sie alle wollen wissen, was er macht. Ein Loch gegen den Regen? Jeder von ihnen weiß besser, wie man sich vor Regen schützen kann, und er hört Ratschlag um Ratschlag. Zum Schluss aber, als es zu regnen beginnt, ist der Hase der einzige, der in seinem Loch verschwinden kann, um sich zu schützen. Und die Moral: Für jeden gibt es eine andere Wahrheit und jeder muss seinen eigenen Weg finden. Was war für Sie wichtig bei der Illustration der fremden Geschichte?
Francesca Sanna: Dieser Geschichte hab ich mich sehr spontan angenähert, im Sinne von instinktiv, spontan, weil ich normalerweise gerne recherchiere und mich einer Geschichte langsam annähere, Skizzen mache, mir meinen Raum suche, mir viele Möglichkeiten offen lasse. Hier war es das Gegenteil. Es war eine Annäherung an einen Text, den ich nicht gut verstanden habe. Mein Deutsch war damals noch schlechter als heute, und ich las diese einfachen Sätze, wie ein Kind es gelesen hätte. Und so wurde es eine Mischung aus dem Rhythmus der Geschichte und meiner Vorstellung der Sätze. Jedes Buch hat ja seinen eigenen Charakter, seinen eigenen Rhythmus und die Stärke des Buches liegt in seinem Rhythmus und darauf habe ich mich konzentriert. Die Arbeit hat viel Spaß gemacht.
Kreative Arbeit ist manchmal wie Berge versetzen
Ute Wegmann: Im Jahr 2018 erschien "Geh weg, Herr Berg" – ein Bilderbuch über ein Mädchen, dass einen Berg bittet, wegzugehen, weil sie nicht mehr gegen Felswände schauen möchte und wissen will, was hinter dem Berg liegt. Dieses Buch haben Sie Ihren Schwestern gewidmet, die Ihnen "gezeigt haben, wie man Berge versetzt". Was haben Sie gelernt? Verraten Sie uns einen Berg, den Sie versetzen konnten, dank ihrer Schwestern?
Francesca Sanna: Grundsätzlich bin ich in meinem Leben von Frauen umgeben, die viel Kraft haben. Ich bin die mittlere Schwester, es gibt eine ältere und eine jüngere und weil die beiden ziemlich stark sind, habe ich viel von ihnen gelernt. Ich glaube, dass man leider manchmal Berge versetzen muss, im Besonderen bei der Arbeit, die ich gewählt habe. Es gibt da den kreativen Aspekt, den mag ich sehr, aber es gibt andere Aspekte, die ich nicht mag. Vertragsabschlüsse und Marketing zum Beispiel. Ich kannte das alles gar nicht, und das verunsicherte mich anfangs. Mit der Zeit habe ich vielleicht von all den starken Frauen, besonders von meinen Schwestern gelernt: nicht zu kämpfen aber mich mit Dingen auseinanderzusetzen, die mir nicht wichtig erschienen. Und das war schon wie Berge versetzen und wie lernen.
Ute Wegmann: Der Berg ist ein richtiger Berg, immens, präsent in einer schönen Landschaft und trägt Schnee auf dem Gipfel. Und Sie haben ihm ein Gesicht gegeben, Augen, Mund, haben ihn personifiziert. Warum?
Francesca Sanna: Mir gefällt Personifizierung. Mir gefällt es, den Bildern durch Symbole und Metaphern Bedeutung zu geben, auch wenn das manchmal sehr eindeutig ist und weniger versteckt. Die Personifizierung des Berges hat auch etwas damit zu tun, dass das Bilderbuch grundsätzlich von Emanzipation und Hartnäckigkeit handelt. Es erzählt auch von Begegnungen oder einem Treffen zwischen Generationen. Da ist das kleine Kind, jung und schnell, und auf der anderen Seite der Berg: schwer, alt und in gewisser Weise traditionell. So ist dieses Buch um diese beiden Charaktere herumgebaut. Während andere Bücher wie zum Beispiel "The Journey" (Die Flucht) arbeiten mehr mit einer Struktur. Die Struktur des Buches ist eine Bewegung, es geht darum, Hindernisse zu überwinden. Andere Bücher, das hier eingeschlossen, entwickeln sich entlang der Charaktere, und die Begegnung der beiden Charaktere hilft mir, die Geschichte zu bauen. Ich habe gedacht, sie müssen sich anschauen, deshalb hat der Berg, Augen, Nase, Mund.
Ute Wegmann: Die italienische Illustratorin und Geschichtenerzählerin Francesca Sanna ist heute Gast im Büchermarkt.
2019 folgt ein starkes Bilderbuch über Angst, und in der Konsequenz über Einsamkeit. "Ich und meine Angst". Wieder im Mittelpunkt ein Mädchen. Sie hat ein Geheimnis, ihre Angst. Diese Angst, so ein kleines, weißes, rundes Etwas, niedlich aussehend, hat das Mädchen auch schon oft vor Gefahren bewahrt. Die beiden sind ein Team, gehören zusammen. Aber seitdem das Kind in ein anderes Land gezogen ist, eine neue Schule besuchen muss, sich fremd fühlt, wird das weiße, runde Etwas immer größer, hält das Mädchen vom Spielen ab und nimmt das Selbstbewusstsein. Aus dem niedlichen Etwas ist ein großes Platz einnehmendes Wesen geworden, das sich in den Mittelpunkt des Lebens schiebt und jeden Kontakt mit anderen verhindert. Eines Tages jedoch begegnet das Mädchen einem Jungen, der mit ihr spielt und irgendwann entdeckt sie, dass auch er Angst hat.
Francesca Sanna, die Angst ist anfangs total niedlich illustriert, wie ein Spielzeug. Aber es war Ihnen wichtig, auch die andere die gute Seite der Angst darzustellen!
Die gute Seite der Angst
Francesca Sanna: Genau! Das ist ein Wort, das mir gut gefällt, weil die Angst sonst nie als Spielzeug dargestellt wird. Normalerweise ist die Angst immer dunkel dargestellt und etwas Negatives. Aber wenn man sich mit Kindern darüber unterhält, kann das auch etwas Erfreuliches sein. Erfreulich im Sinne von beruhigend, denn die Kinder wollen immer über ihre eigenen Ängste sprechen. Man spürt, dass das etwas ganz Wichtiges ist, wenn man in Schulklassen ist: das Sprechen über die Angst. Als ich das Buch begonnen habe, habe ich mich gar nicht auf die Angst konzentriert, sondern ich wollte über etwas schreiben, das wir alle gemeinsam haben. Das Buchthema hatte sich sowieso etwas verschoben, denn zuerst wollte ich Integration thematisieren. Aber um über Integration zu schreiben, habe ich nach einem allgemeinen Sujet gesucht, und ich landete ziemlich schnell auf dem Feld der Gefühle. So kam ich zur Angst, und mir wurde klar, dass ich mit Kindern arbeiten muss, weil die Angst eben durchaus auch etwas Normales, Positives hat, etwas Beschützendes, in diesem Fall heißt es uns bei Abenteuern zu begleiten, wodurch das Leben erfreulicher wird und ab und zu auch aufregender.
Ute Wegmann: Sie haben ausdrucksstarke Bilder gefunden für Situationen, in denen die Angst als weißes Riesenwesen das Leben des Mädchens komplett beherrscht und sich so ausbreitet, dass kein Raum mehr für etwas anderes bleibt. Die Etagenbettszene mit der Angst, tropfend, schwitzend, übermächtig. Das weiße Wesen wird zum Nichts, zur Leere, die sich immer mehr ausbreitet.
Francesca Sanna: Ja, genau, als ich eine Form dafür finden musste, war das ziemlich schwer. Es gibt andere Bücher, die von Gefühle erzählen, und gerade die Angst wird immer mit bestimmten Farben und Formen in Verbindung gebracht. Dann habe ich ein Brainstorming gemacht, mir gedacht, sie könnte einem Tier ähneln, dann habe ich inne gehalten und mich gefragt: Was bedeutet die Angst für mich, was bedeutet sie in diesem Buch? Und eine meiner größten Ängste, ist die leere Seite, das leere Blatt. Das bedeutet auch Leere. Und bei der Recherche für dieses Buch habe ich die Kinder gefragt: Was ist eure größte Angst? Und was zum Beispiel immer wieder erwähnt wurde, war der erste Schultag. Das kannte ich gut, wenn man nicht weiß, was passiert oder die Angst, ignoriert zu werden. Und im Laufe des Buches wurde es eine Invasion der Farbe Weiß, der Leere. Kein Buch wird mit leeren Seiten gedruckt, und es hat mir Spaß gemacht, mit dem Symbol zu spielen. Ich denke nicht, dass jemand, der das Buch liest, denkt: Ach, Francesca hat Angst vor der leeren Seite. Aber ich denke, dass das Leere gut als Angst funktioniert.
Ute Wegmann: Auch wenn man, wie sie sagen, nicht direkt an das weiße Blatt denkt und vielleicht Ihre Angst, spürt man dennoch sehr deutlich durch die Bilder, dass Sie genau wissen, wovon Sie erzählen und dass sie genau wissen, was es bedeutet, Angst zu haben und das thematisieren Sie auch im Nachwort.
Im Nachwort bedanken Sie sich für die Unterstützung zu den Recherchen. Was genau haben Sie recherchiert?
Francesca Sanna: Mir gefällt der Teil meiner Arbeit sehr gut, wenn ich die Vorrecherchen machen muss. Man stellt sich Fragen, interpretiert. Als ich mit dem Studium fertig war und zu arbeiten begann, wurde es immer schwieriger, Zeit für Recherche zu finden. Es fehlte die Freiheit für die Vorarbeit, aber mit diesem Buch hatte ich Glück. Als ich noch nicht begonnen hatte, bekam ich eine Anfrage von einer Recherchegruppe des Birkbeck College. Sie beschäftigen sich mit existenziellen Themen: Mit Gesundheit, auch auf geistiger Ebene. Mit Flüchtlingen. Und das dritte sind Kinder. Sie kannten mein erstes Buch, weil es mit ihren Themen zu tun hatte, und sie suchten nun nach einer Zusammenarbeit mit mir. Und so verbrachte ich zwei Monate in London, danke noch mal für die Unterstützung, und danach hatte ich noch sechs Monate für die Recherche. Und nach meiner Rückkehr in die Schweiz, habe ich in den Schulen weitergeforscht. Ich kam mit einem meiner Bücher und danach haben wir immer ein bisschen über Angst gesprochen und improvisiert zu dem Thema. Manchmal auch zum Thema Integration, was ungleich viel schwieriger ist: In dem Moment, wo du Integration thematisiert, wird es unmöglich sie durchzuführen. Es ist ein Thema, das trennt, denn wenn du neue Kinder in der Klasse hast und sprichst darüber, ist immer klar, über wen du redest. Das war anders beim Thema Angst, und mir war wichtig, dass man zum Schluss immer etwas Verbindendes hat.
Ute Wegmann: Sie bedanken sich auch bei all den Kindern, die Ihnen von den eigenen Ängsten erzählt haben. Sie begegnen den Kindern in Workshops? Wie wichtig ist Ihnen die direkte Arbeit mit Kindern?
Francesca Sanna: Beim ersten Buch hab ich das nicht gemacht, konnte ich das nicht machen. Jetzt hab ich fertige Bücher, mit denen ich in Schulen gehe, und ich habe mich gefragt, warum ich nicht früher daran gedacht habe, inzwischen ist es auch eine Inspiration. Wenn ich ein Buch mache, habe ich immer Angst, weil man ja nichts mehr ändern kann. Dass ich vorher mit Kindern über das Thema sprechen kann, hilft mir, ein bisschen sicherer zu werden.
Ute Wegmann: Wir sprechen über das Buch "Ich und meine Angst".
Nach diesem Bilderbuch schaut man anders auf die Menschen, die nicht in der ersten Reihe stehen möchten, oder die sich etwas scheinbar ganz Normales nicht trauen. Ich habe immer Angst, eine wichtige Frage zu vergessen, aber jetzt warten die Kollegen von Forschung aktuell. Francesca Sanna, ganz herzlichen Dank für das Gespräch über Ihre Bilderbücher: "Die Flucht", "Geh weg, Herr Berg", "Ich und meine Angst". Alle Angaben zu den Büchern finden Sie unter deutschlandfunk. de.
Ein schönes Wochenende wünscht Ute Wegmann.
Francesca Francesca Sanna: "Die Flucht"
Aus dem Englischen von Thomas Bodmer
(NordSüd Verlag, Zürich)
Aus dem Englischen von Thomas Bodmer
(NordSüd Verlag, Zürich)
Francesca Francesca Sanna: "Geh weg, Herr Berg!"
(Atlantis Verlag, Zürich)
(Atlantis Verlag, Zürich)
Francesca Francesca Sanna: "Ich und meine Angst"
Aus dem Englischen von Thomas Bodmer
(NordSüd Verlag, Zürich)
Aus dem Englischen von Thomas Bodmer
(NordSüd Verlag, Zürich)
Daniel Fehr und Francesca Sanna (Illustration):
"Ein Loch gegen den Regen?"
(Atlantis Verlag, Zürich)
"Ein Loch gegen den Regen?"
(Atlantis Verlag, Zürich)