Wo soll ich bloß anfangen? Was kann ich guten Gewissens weg lassen?, habe ich mich gefragt, als ich vor dem Berg der Bücher saß, die sie bebildert hat.
Sabine Wilharm, Illustratorin, Grafikerin, hat in Hamburg studiert, dort an der Hochschule für Gestaltung später auch Lehraufträge für Illustration und freies Zeichnen ausgeführt. Fertigte viele Jahre Karikaturen und Comics für Magazine und sie ist zusammen mit Tobias Krejtschi Patin des Hamburger Kinderbuchhauses im Altonaer Museum. Sie hat eine Vielzahl Bilderbücher und Kinderromane illustriert, über einige wenige können wir heute sprechen.
Bekannt war sie bereits, noch bekannter, vielleicht ein bisschen berühmt wurde sie durch die Covergestaltung der deutschen Harry-Potter-Bände.
Aber es gab ein Leben vor und neben Potter und vor allem eins danach.
Sabine Wilharm, "Lesen lernen beginnt mit dem Lesen der Bilder" – das ist das Motto des Hamburger Kinderbuchhauses. Wie lehrt oder lernt man Bilder lesen?
Sabine Wilharm: Ich glaube, man wächst hinein und das ist genau der organische Weg, den ich wunderbar finde und wofür Bilderbücher auch gemacht sind. Ich glaube, keiner weiß, wie man Bilder lesen lernt oder überhaupt lesen lernt. Es ist ein Entdecken eines Kontinents und das Lernen ist nicht das Lernen mit dem Zeigefinger, sondern es geschieht über Freude und Genuss.
Wegmann: Was machen Sie dort genau im Hamburger Kinderbuchhaus?
Wilharm: Das ist ein sehr schöner Ort, der im Museum für Hamburger Geschichte seine Heimat gefunden hat. Ganz wichtig ist die Vermittlung von Illustratoren und Autoren, wie arbeiten Illustratoren und Autoren. Es finden Ausstellungen mit Originalen statt, damit die Kinder einen Begriff davon bekommen, dass Bücher handwerklich gemacht sind. Es finden Kurse und Workshops statt. Es gibt viele Kurse, die den Kindern das Selbermachen nahe bringen.
Wegmann: Betrachte ich Ihr Werk, so sehe ich ohne Ende Tiere.
Neben Ziege, Schwein, Maulwurf, Löwe, Schnecke, Krokodil und Affe - Schnäpse trinkende Möpse, Lügen erzählende Spatzen und Blumen pflückende Pferde James Krüss' Tierleben (2003/1951-1964), Sie haben es erkannt, eine Gedichtsammlung, in der Menschen ein wenig der Welt der Tiere untergeordnet erscheinen.
Ist es schwierig, Tiere realistisch zu zeichnen und ihnen menschliche Gestik und Mimik zu verleihen?
Wilharm: Ja. Nein. Ich kann es gar nicht beurteilen. Es ist mir so unterlaufen. Ich hab ja auch zeichnen gelernt, indem ich nicht einen Plan hatte, sondern indem ich lustvoll gezeichnet habe und Tiere gehören dazu. Was aber sehr wichtig ist, dass die Tiere ein wenig für die Menschn stehen. Was ich wundervoll finde an der Wahl eines Tieres statt eines Protagonisten Mensch ist, dass die Tiere zwar individuellen Ausdruck haben können, aber nicht auf bestimmte Menschenarten verweisen, die man glaubt wiederzuerkennen. Ich fand es als Kind immer schwierig, wenn meine Helden ein Gesicht bekamen, das mich an Menschen erinnerte, die ich nicht mochte. Das passiert sehr selten, wenn es eine Maus oder ein Hund oder ein Krokodil ist, neben all dem ,w as es an
Wegmann: Ein Gedicht bei James Krüss beginnt so: (S.19)
- "Nun bin ich Mensch, doch bild ich mir nicht ein
Ich könnt im Dunkeln besser sehn als Eulen
Ich könnte lauter als die Wölfe heulen
Ich könnte stärker als ein Löwe sein"
Es gibt weitere Strophen und dann endet es wie folgt:
"Doch steckt in mir die Möglichkeit dazu,
in eine andre fremde Haut zu schlüpfen ..."
Wie vollzieht das die Illustratorin Sabine Wilharm? Ist das Arbeiten vergleichbar dem Schriftsteller, der eine Figur schreibt und mit der Figur geht und fühlt?
Wilharm: Ich glaube ja. Ich schreibe nicht, deshalb weiß ich nicht, wie es beim Schreiben ist. Aber bei mir ist es so, dass ich mich sehr sehr gerne und sehr stark in Tiere hineinversetzen kann, im Sinne der Person, im Sinne der einzigartigen Person, die nur sie selber ist, also nicht die Art, sondern das Spezielle, das Besondere. Das ist für mich eine Lust, aber das mache ich nicht nur beim Zeichnen, sondern durchaus auch im normalen Leben. Wenn ich eine Amsel auf einem Ast sehe, dann drängt sich mir ganz schnell die Vorstellung auf, wie lebt diese Amsel? Wie sieht sie jetzt mich, die ich am Fenster stehe und sie anschaue? Was denkt die, wie ordnet die mich in ihre Welt ein. Und das finde ich - wenn ich mal etwas übergeordnet darüber nachdenke - sehr schön, weil es meine Welt immer auch ein wenig relativiert. Das heißt die Wichtigkeit der Menschenwelt, der eigenen Problematik wird heruntergekocht. Und das finde ich ganz gut und ganz gesund.
Wegmann: Nun kennen wir James Krüss und viele seiner Verrücktheiten in den Gedichten. Ist das schwer, das ins Bild zu setzen? Will man das toppen? Oder hält man da gerade dagegen?
SW: Verrücktheiten finde ich eher leicht, sehr anregend und inspirierend, während das Ernste einen ganz anderen Grad an Schwierigkeit in sich birgt. Toppen, ich weiß es gar nicht, ich möchte ja nicht in einen Wettbewerb treten. Im Gegenteil. Natürlich ist der Autor der Erste, er gibt mir ja die Ideen, den Vorlauf, das Geländer, an dem ich mich immer wieder festhalten und orientieren kann. Er inspiriert mich. Im Grunde ist es so, er fordert mich zum Tanz auf im besten Falle. Dann drehen wir ne Runde, dann dreht sich jeder alleine und dann wieder zusammen. Und wenn es gelingt , und das ist ja immer noch das große Wenn, dann passt es gut und jedes Bild führt in eine eigene Welt.
Wegmann: Sie haben ein weiteres Buch mit Krüss Texten bebildert: James Krüss ABC
(2011). Dieses Buch hat die abgedrehtesten Figuren als Buchstaben und beinhaltet das größte Drunter und Drüber. War das ABC-Buch eine besonders große Herausforderung oder eine Art Freifahrschein?
Wilharm: Ja, das war schon schwieriger als der erste Band, weil die Buchstaben aus sich heraus nicht so viel Anregung geben. Ich hab sie personifiziert, das heißt jeder Buchstabe hat Arme und Beine und entsprechend Innenleben, was aber auf Dauer auch abgeknabbert sein kann. Ich hab dann durch das Buch laufend Personen eingeführt, die man auf jeder Seite wiederfindet. Das war mein Angebot an Kinder, die Figuren kann man suchen und die sind wie eine Art Guide. Ein Stadtführer durchs Buch. Das war für mich sehr schön.
Wegmann: Eins meiner Lieblings-Bilderbücher darf hier nicht unerwähnt bleiben: Zum Strand! Von Patricia Lakin. Vier Froschfreunde Lutz, Butz, Fratz und Mats, ein wilder Haufen wollen ans Meer, mit dem Rad, verfahren sich, und erreichen ihr Ziel erst im Mondschein. Sehr wenig Text, Ein-Wort-Sätze, sie haben auf herausragende Weise die Schrift ins Bild integriert, lassen die Figuren auf der Schrift agieren - Verirrt, das sind verkeilte Buchstaben, da entlang fahren die vier auf dem Rad.
Ein tolle Idee.
Wilharm: Also das Buch ist für mich eins der wichtigsten Bücher. Man hat ja immer selber so kleine, geheime Lieblingsstücke. Weil ich mich an diesem Buch am Anfang auch sehr abgearbeitet habe. Ich hatte eine wunderbare Lektorin beim Carlsen-Verlag, Edmund Groß, die eine sehr klare und gute Idee von Bilderbüchern hatte und die mich sehr streng bei meinen ersten Entwürfen zurechtgewiesen hat, dass es wunderbar sei, dass ich soviel gearbeitet hätte, aber so ginge es nicht. Die Knappheit dieses Textes, die eine große Stärke der Geschichte ist, die hatte ich gar nicht aufgefangen in den ersten Bildern. Als ich das begriffen habe, dachte ich, ich muss da mithalten. Und die Buchstaben als Ort, das war kein Plan, kein intellektuelles Finden, sondern ein Entdecken für mich selber. Also dieses Buch hat für mich sehr viele Glücksmomente, auch während des Herstellens. Leider ist es vergriffen.
Wilharm: Das ist bedauerlich, weil es für mich viele Glücksmomente beim Lesen, beim Blättern, beim Entdecken und Staunen beinhaltet.
Es gibt eine Zusammenarbeit mit Sabine Ludwig. Die Geschichte vom kleinen Schwein, das nicht NEIn sagen konnte. Oder Auf die Plätze, Löwen, los! – ein Kinderroman.
Löwen eines Brunnens werden lebendig, als der Brunnen abgerissen werden soll und suchen sich eine neue Heimat. Erwachsene sind hier oft Normalos, Frauen ein bisschen trutschig, dicklich.
Wegmann: Inwieweit sind Klischees wichtig für die Identifikation und wann bewegt man sich bewusst davon weg?
Wilharm: Klischees sind sehr schön in dieser Ebene, wenn die Figuren auch im Text fern bleiben, wenn sie nicht an die Seele gehen. Und wenn sie vom Autor entsprechend gezeichnet sind. Ich orientiere mich sehr stark an der Sprache des Autors. Un d wenn der mir das anbietet, und in diesem Fall lag es in der Sprache voN Sabine Ludwig, da kam das Angebot, dass man mal sehr übertreiben darf , sowie bei Dick und Doof kann man fast sagen, dann wird das vom Leser auch erkannt, dann wird die Note, die Richtung erkannt und es ist keine Denunziation, sondern zeigt gewisse Verhaltensweisen. Und dann geh ich mit Wonne hinterher. Natürlich, so ich es kann. Denn das macht schlicht Spaß, das muss ich jetzt auch mal sagen.
Wilharm: Sie haben ja auch alle Ella-Bände von Timo Parvela gezeichnet, Geschichten um ein Mädchen im Grundschulalter, schwarz-weiß Innenillustrationen. Neun Bände.
Wie groß ist die Gefahr, sich zu wiederholen?
SW: Die ist sicher groß. Es ist schwierig. Ich hab das so noch nie gemacht. Es ist mein langjähriges Experiment in dieser Art. Ich freue mich darüber, weil es Timo Parvela schafft, dass man bei jedem Band unterm Tisch liegt und lacht. Er hat ja diese wunderbare Lakonie. Und es ist für Kinder und Erwachsene sehr schön. Ich kann es schwer beurteilen, ich versuche natürlich, mich nicht zu wiederholen. Ich suche mir die Stellen, die auch den Witz beinhalten. Ob mir das gelingt, punktpunktpunkt ich weiß es nicht.
Wegmann: Ein wichtiges Feld in Ihrer Arbeit sind die Neubebilderungen von Klassikern!
Im Jahr 2006 "Der Zauberlehrling" von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1797 – kaum ist der Meister aus dem Haus, will sich der Lehrling das Wasserschleppen erleichtern, indem er den Besen verzaubert, der lässt sich nicht mehr stoppen – alles wird überschwemmt, bis der Meister heimkehrt und Einhalt gebietet.
2010 das Grimm-Märchen "Vom Fischer und seiner Frau" und in diesem Jahr wurde "Der Erlkönig" publiziert.
Gibt es so etwas wie einen inneren Zwang, eine Notwendigkeit, die Lieblingsgeschichten nach den eigenen Visionen zu bebildern?
Wilharm: Ein innerer Zwang ist das nicht. Es sind jeweils Bücher, die mir als Projekt angeboten wurden, die ich aber sehr gerne gemacht habe. Es ist eine völlig andere Art, sich auf ein Buch einzulassen, weil - so ist es bei allen Klassikern - Goethe hat es ganz sicher nicht im Hinblick auf ein Bilderbuich geschrieben. Es ist sehr gefährlich, weil man nimmt natürlich auch den Lesern etwas weg an Bildern im Kopf. Das ist natürlich immer die Gefahr beim Illustrieren. Es ist ein Angebot und so möchte ich es auch verstanden wissen, es ist meine Interpretation, verbunden mit der Hoffnung, dass dieses Angebot bewirkt, dass Kinder sich an den Bildern freuen und so Zugang zur alten Sprache finden. Der Erlkönig ist noch mal ein ganz besonders schwieriges Gedicht zur Bebilderung. Der ist nicht lustig, der ist sehr schwer, der verweist in unendlich viele Schichten: der Gefahr, der existenziellen Bedrohung – trotzdem hat mich gerade das ausgesprochen gereizt. Er ist gerade erst rausgekommen, ich hab dieses Jahr daran gearbeitet. Und ich muss sagen, es war so eine intensive Arbeit, und ich war sehr glücklich damit, dass ich jetzt noch nicht beurteilen kann, ob etwas daraus geworden ist. Aber ich freue mich, dass ich die Möglichkeit hatte, es zu machen.
Wegmann: Bleiben wir doch gleich beim Erlkönig: Das Buch beginnt als Comic-Strip, ein Junge mit seinem Vater auf Reisen, also eine Geschichte vor der Geschichte und nach der Geschichte und somit ist die eigentlich recht brutale, emotional intensive und bedrohliche Ursprungsfassung entkräftet, weil sie von dem Jungen im Comic als Traum erlebt wird, der sich aus dem Gelesenen ergibt.
Schöne Idee. Entgegen der Erlkönig-Geschichte erreichen Vater und Sohn des Comic- Strips wohl behalten Weimar.
Wollten Sie das so sehr Brutale etwas zurücknehmen?
Wilharm: Ja, ja, das ist eindeutig der Grund. Ich bin im normalen Leben nicht so sehr für Abfedern, ich finde, Kinder müssen auch konfrontiert werden. Aber als ich das Gedicht wiedergelesen habe, dachte ich, nein, das ist unglaublich, das ist ja brutal und grausam in gewissem Sinne, es ist natürlich auch toll, aber ... mal angenommen, ich schaffe es, überzeugende Bilder zu zeichnen, dann bekommt das richtig einen Sog, der einen sehr alleine dastehen lässt. Ich wollte in diesem Fall wirklich ganz bewusst abfedern und das Angebot des Traums als Rückzugsmöglichkeit für den jungen Leser schaffen.
Wegmann: Würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage: Es ist eine Art moderner Form, auf die Gefahren des Lebens, der Welt hinzuweisen, vor denen der Vater den Sohn nicht bewahren kann?
Wilharm: Ja, das finde ich eine schöne Sichtweise. Je nach Erfahrungshintergrund sieht man die Gefahren, die darin liegen. Das kann die Todesgefahr sein, a ber auch eine andere Art von Gefahr.
Wegmann: Und auf eine der anderen Arten würde ich gern noch zu sprechen kommen: Bei Ihnen wirken die Töchter des Erlkönigs so harmlos. Mir fiel eine Liedzeile von Annett Louisan ein: Ich will doch nur spielen. Bei Goethe schwingt doch noch Verführung mit, ich will gar nicht sagen Sex, aber bedrohliche Verführung.
Wilharm: Davor hatte ich Angst. Ich habe die Töchter ganz eindeutig kindlicher gemnacht,a ls sie auch am Anfang waren. Die Szene, wo der Erlkönig auf die Töchter verweist, da habe ich kindliches Spielzeug mit hineingenommen, weil ich etwas haben wollte, was Kinder verführt, ohne dass man gleich an Missbrauch und Schrecken denken. Ich wollte die Möglichkeit der Verführung im sexuellen Sinne gern beim Leser lassen , weil ich denke, Kinder und Jugendliche, die die Erfahrung haben, werden dann daran erinnert, die anderen Kinder wollte ich nicht mit der Nase darauf stoßen, sie müssten auf andere Art langsam herangeführt werden, durch Erwachsenwerden. Die Verantwortung wollte ich nicht übernehmen.
Wegmann: Wie sollte man die Töchter jetzt beschreiben? Wie blondgezopfte puppenartige Wesen?
Wilharm: Ich fand sie immer biestig. Das Biestige was sich seiner selbst nicht bewusst ist.
Wegmann: Mein Gast ist heute die Künstlerin Sabine Wilharm und nun kommen wir zu den beiden Neuerscheinungen. Vier Bücher wurden dieses Jahr publiziert.
"Glücksstadt" – Bilder von Sabine Wilharm, Text Andreas Steinhöfel.
Kurz zum Inhalt: 12 Bildtafeln, das es zwölf sind, ist wohl kein Zufall.
Darauf: eine Riesenjunge mit Hut stapft durch eine Stadt, purzelnde Schweine, fallendes Herbstlaub umgeben ihn, - eine junge Frau mit Hunden, alle bebrillt, in einer fliegenden Teekanne, - eine ganze Stadt im Weltall, - eine schwebende Ziege zwischen Häuserwänden, - eine Frau zwischen und auf Häusern, verachtfacht, schmusend, schimpfend, weinend, staunend, hüpfend, balancierend, tanzend, eilend - ein trommelnder Frosch mit singenden Störchen - schwerkraftlose Menschen und Tiere - eine auf einer Rose tänzelnde Frau inmitten unzähliger, sehr aktiver Minifrösche.
So, das sind einige der Bilder und wie wird jetzt aus all der Unterschiedlichkeit eine Geschichte? Sabine Wilharm, Kalenderbilder, ein besonderes Projekt.
Wilharm: Ein Kalenderprojekt aus dem Jahr 2001. Er war eigentlich für alle gedacht. Nicht nur für Kinder. Ich hatte zwölf Gedichte aus der Weltliteratur herausgesucht. Als wir dieses Buch im Aladin-Verlag planten, hat der Verleger Klaus Humann an Andreas Steinhöfel gedacht als jemand, der fähig sein könnte, eine derart schwierige Aufgabe zu erfüllen, zu zwölf unabhängigen Bildern einen Text zu machen. Eine sehr schwere Aufgabe. Und wir waren alle sehr gespannt. Ich finde, er hat es bravourös gelöst.Es ist sicher ein Bilderbuch auch für Ältere und für Erwachsene, weil es sehr merkwürdig ist, sehr traumhaft. Das mag ich daran. Und Andreas Steinhöfel hat es geschafft, Elemente in den Bildern zu finden, die ich ja gar nicht geplant hatte, er hat daraus eine Geschichte gemacht.
WEGMANN:Er hat eine Art Reisebericht geschrieben. In Briefform, Postkartenform.
Wilharm: Genau, zwei Personen schreiben sich. Eine reist und eine bleibt zuhause.
Wegmann: Ich habe gedacht, es wären freie Arbeiten gewesen. Ich bin erstaunt, dass sie sagen, sie sind zu Gedichten entstanden. Das ist interessant, ich hab mich natürlich gefragt, warum muss man aus Kalenderbildern jetzt ein Buch machen.
Warum hat Klaus Humann nicht die vorhandenen Gedichte genommen?
Wilharm: Die Gedichte waren wirklich zum Teil für Ältere. Einige waren aus dem 15. Jahrhundert, es ging durch die Jahrhunderte durch. Ich hab damals meine Lieblingsgedichte genommen. Der zweite Grund ist aber sicherlich, dass Klaus Humann gerne Bücher verlegt, die Geschichten erzählen. Es war ein Experiment ...
Wegmann: Nun habe ich eben halbwegs versucht, einige wenige Ereignisse auf den Bildern zu benennen. Dabei fallen eindeutig ein paar Adjektive auf: purzelnd – fallend – fliegend – schwebend- schwerkraftlos. Vieles, ob Mensch, ob Tier, ob Kanne oder Tasse, in Ihren Bildern fliegt. Alles ist in Bewegung.
Träumen Sie still und heimlich vom Fliegen?
Wilharm: Offenbar, ja, es muss so sein. Seit Jahrzehnten male ich fliegende Menschen und fliegende Gegenstände.
Wegmann: Genau. Ich beziehe das nicht nur auf das eine Buch, sondern auf alle Bücher.
Wilharm: Das macht Spaß, weil man ja beim Zeichnen viel nachvollzieht. Also wenn man einen wütenden Menschen malt, dann runzelt man die Stirn zum Beispiel, man macht das körperlich nach, was man zeichnet. Und das geht nicht nur mir so.
Wegmann: Und wie ist das beim Fliegen?
Wilharm: Wahrscheinlich heb ich über dieses Bildermachen ein bisschen ab. Es hat was mit der Freude am Schwung, am sich Drehen - auch beim Zeichnen - zu tun.
Wegmann: Aber nicht nur ,d ass alles in wilder Bewegung ist, sehr oft erscheinen die überaus reichen Bilder wie ein Kaleidoskop oder ein MC-Escher-Bild.
Verwirrend, ein Spiel, 180° - Perspektiven, Neigungen, Verschachtelungen.
War der holländische Maler mit seinen paradoxen Situationen, den surrealistischen, gebogenen, kippenden Häusern, mit den verschiedenen Ebenen, den Türmen, Treppen, Fenstern, und Balkonen, die ich bei Ihnen in den freien Arbeiten auch entdecke, für Sie ein Vorbild? Oder ist das jemand den Sie verehren, der sie geprägt hat?
Wilharm: Nein, so nicht. Ich kenne ihn natürlich. Ich habe mich früher wild auf die Kunstgeschichte gestürzt und da findet man das in alten Sachen ja wieder.
Es gab kein Vorbild, es ist das liebende Sammeln über Jahre, das immer wieder begeistert sein. Mal war es Beckmann, mal andere. So ging es mit vielen, d ass ich im Rausch war, bis zur Entdeckung des nächsten ...
Wegmann: Wer ist im Moment ihr Favorit?
Wilharm: Ja, das hat etwas nachgelassen,nicht weil es an Malern fehlen würde, ich kenne viele inzwischen, es ist keine Sättigung, im Sinne von Ich mag nicht mehr, sondern eine Fülle, die in mich hineingegangen ist. Insofern gibt es keinen Lieblingsmaler, aber immer wieder glückhafte Entdeckungen.
Wegmann: Sprechen wir über: Der beste Tag aller Zeiten. Weitgereiste Gedichte, hrsg. Von Susan Kreller.
Alles Gedichte aus dem englischsprachigen Raum, neben Großbritannien, Irland und der USA auch aus Australien, Neuseeland, Indien, Jamaika und Bahamas, Nigeria und Ghana, Kenia und Südafrika. Das verspricht eine enorme kulturelle Vielfalt. Ein großer Teil der Gedichte wurden nachgedichtet, einige erscheinen zum ersten Mal in deutscher Sprache.
Stellte die Bebilderung eine besondere Art der Herausforderung dar?
Wilharm: Ja. Das sind ja nicht nur Gedichte aus unterschiedlichen Ländern, sondern auch es ist auch eine Spanne zwischen Nonsensgeschichten und sehr ernsten und sehr lyrischen Gedichten abzudecken. Dafür eine Bildsprache zu finden, ist eine Herausforderung. Ich hab mich lesend hineingestürzt und hab mir diese Welt verinnerlicht. Und beim Arbeiten hatte ich das Gefühl, ich kann sehr wechseln. Ich muss nicht immer drüber nachdenken, was jetzt an Methode und Grafik und illustrativem Ausdruck möglich wäre ...
Wegmann: Sie meinen, Material wechseln?
Wilharm: Ich habe bei diesem Buch, für meine Verhältnisse, mehr Stile ausprobiert, auch gemischt, auch mit viel Freude. Und so hab ich auch versucht, alle Bilder adäquat zu bebildern. Ein wundervolles Projekt.
Wegmann: Natürlich gibt es eine Art von Sortierung, inhaltliche Zuordnungen: Wunder, Abenteuer, geflügelte Orte, Zeit, Liebe, Wünsche, Glück, jedes Kapitel umfasst sechs oder sieben Gedichte, aber immer sind zwei Gedichte auf einer Doppelseite.
Sie haben versucht, diese beiden bildlich miteinander zu verknüpfen. Das war kein Muss?
Wilharm: Nein, das war meine Idee, weil ich gern zusammenhängende Bilder auf einer Doppelseite haben wollte. Es hat nicht immer funktioniert, und ...ja, ..den Rest kann ich , wie immer, nicht beurteilen ...
Wegmann: Sie haben es ja eben schon gesagt, Sie haben verschiedene Stile ausprobiert. Auffällig viel haben Sie gezeichnet, auch mit Buntstiften, die Umrandung der Figuren ist manchmal rot und auch zuweilen dicker gesetzt, sie haben mit Wasserfarben gemalt. Also Vieles sehe ich hier von der mir bekannten Sabine Wilharm , aber auch Neues. Ein kleines Mädchen hebt das Kleid, um aus einem Füllhorn zu empfangen und trägt einen Hut, S/w, mit Wachsmalstiften. Die Verbindung verschiedener Materialien sehe ich so zum ersten Mal.
Wilharm: Stimmt, das kommt auch von meinen freien Zeichnungen, wo man sich selber die Erlaubnis gibt, zu experimentieren.
Wegmann: Nun habe ich ein Lieblingsbild zu dem Gedicht:
Sonnenuntergang am Afrikanischen Grabenbruch von Sam Mbure
(aus Kenia; Kinderbuchautor)
Es ist fast schon Schlafenszeit, die müde Sonne hockt sich vergebens auf den gleißenden Horizont, und die Geier sehen mit hungrigen Augen sorgenvoll zu, wie der Tag erstirbt.
Gleich, dennoch gleitend, sind der Spiegelsee, die Flamingos nur noch Erinnerung.
Kein Laut, nur das Tuten des Zuges, durchbricht mehr die Stille im Tal.
Ein stilles Gedicht, ein stilles Bild. Hier - auf Ihrem Bild - steht mal alles! Die Flamingos im Wasser, im Hintergrund die dicke rote Sonne, die langsam versinkt, ein einzelner Baum mit einem Geier, und die Horizontlinie verschmelzt mit dem Zug, kaum sichtbar. Die Ruhe gefällt mir.
Wilharm: Ja, danke! Komischerweise ist dieses Bild sehr schwierig entstanden, weil mir zu dem Gedicht nichts einfiel, vielleicht weil nichts passiert, weil sich nichts bewegt.
Das mit dem Zug,mit dem Horizont war die einzige Idee, so etwas wie ein Gnadenbrot, aber jetzt mag ich das Bild sehr gerne.
Wegmann: Das ist eine Sabine Wilharm , wie man sie sonst nicht kennt.
Die Bilder, mal realistisch, mal fantastisch, mal surreal - zeigen uns Mögliches und Unmögliches. Und sie vermitteln durch Tier oder Mensch alle möglichen Gefühle, sind Ausdruck all der Verwirrung und Bedrängnis und des Chaos, das über die Welt hereinbrechen kann. Aber auch all der Freude.
Die Kinderbuchillustratorin Sabine Wilharm war mein Gast. Herzlichen Dank für das Gespräch.
Verlage und weitere bibliografische Angaben zu den Werken finden Sie im Internet unter www.dradio.de/literatur. Und dort kann man die ganze Sendung noch einmal anhören oder nachlesen.
Schönes Wochenende wünscht Ihnen Ute Wegmann
Wir sprachen über:
James Tierleben von James Krüss, Carlsen Verlag
Von Anfang bis Zebra. ABC-Gedichte von James Krüss, Carlsen Verlag
Auf die Plätze, Löwen los! Von Sabine Ludwig, Fischer Schatzinsel
Der Zauberlehrling von Johann Wolfgang von Goethe, Kindermann Verlag
Der Erlkönig von J.W. von Goethe, Kindermann Verlag
Vom Fischer und seiner Frau von den Brüdern Grimm, Aufbau Verlag
Zum Strand! Von Patricia Lakin, Carlsen Verlag
Glücksstadt von Andreas Steinhöfel, Aladin Verlag
Ella von Timo Parvela, Hanser Verlag
Der beste Tag aller Zeiten. Weitgereiste Gedichte, herausgegeben von Susan Kreller, übersetzt oder nachgedichtet von harry Rowohlt, Henning Ahrens, Class Kazzer, Carlsen Verlag
Alle Bücher sind illustriert von Sabine Wilharm