Ilma Rakusa hat eine Vorliebe für Systematik. Eine Ausgabe von Redetexten hat einen Titel, den sich wohl kein Verlag ausdenken würde: Listen, Litaneien, Loops. Dabei geht es, wie der Untertitel verrät, nicht nur um Lyrik, sondern auch um eine wenig poetisch anmutende "Inventur".
Auch das neue Buch der Schweizer Schriftstellerin hat eine strenge äußere Form. Die vertraute Reihe von A bis Z strukturiert den Erzähl- und Assoziationsstrom. "Mein Alphabet" ist ansonsten aber ein buntes Gemisch. Es enthält Gedichte, Erinnerungsprosa, Mini-Essays auf zwei bis vier Seiten und Selbst-Interviews: Ilma Rakusa fragt, Ilma Rakusa antwortet.
Wie Fragmente zur Erzählung werden
Den Reiz einer Reihung kleiner Texte erläutert Rakusa im Eintrag "Listen" anhand der ersten Seiten des Romans "Die Jahre" von Annie Ernaux. Der beginnt mit einer willkürlich erscheinenden Abfolge von Fragmenten: Zitate anderer Autoren, historische Reminiszenzen und menschliche Alltagsszenen:
"Die Aufzählung als eine Aneinanderreihung diverser, ja disparater Momente gerät zur Erzählung, nur liest sich das herber, konzentrierter, ohne die üblichen logischen Scharniere."
Aus welcher Quelle sie selbst disparate Momente für ihr Alphabet schöpft, deutet Ilma Rakusa im Eintrag mit dem Titel "Tagebuch" an:
"Keine Tränen: Selbstbeobachtung. Träume nisten zwischen den Zeilen. Ich notiere Namen, Begebenheiten, protokolliere, was zu entschwinden droht."
Diese Selbstbeobachtung führt immer wieder zurück in die Kindheit. Räume, Nachbarschaften, Farben, Gespräche, Gerichte und Gerüche werden festgehalten, en passant in wenigen Zeilen oder in mehrseitigen Einträgen mit Überschriften wie "Freundschaft", "Joghurt", "Kleider", "Migräne", "Palatschinken, Pasta", "Pantoffeln", "Zaun".
Triest riecht Immergrün
Manche Wohn- und Erlebnisorte ihres ausgedehnten ost- und südosteuropäischen Nomaden-Kosmos tauchen immer wieder auf, etwa das Triest der Kindheit:
"Mein Triest hatte die Farben des Meeres, roch nach Tang und Immergrün, klang slowenisch, italienisch und ungarisch, und schmeckte nach Fisch. Ich habe es nie vergessen."
Eine solche Erinnerung ist nichts Statisches. Die Verbundenheit mit der Stadt ist lebendig geblieben. Rakusa berichtet im Triest-Beitrag über eine Begegnung mit Claudio Magris, dem großen Kenner und Chronisten Triests, und macht den Leser zum Zeugen ihres Treffens mit einem anderen Literaten der Stadt, der sie für einen Moment wieder in ein Kind verwandelt:
",Trugen Sie letztes Mal nicht roten Lippenstift’, fragte mich bei unserer Begegnung 2013 in Duino der hundertjährige slowenisch-triestische Autor Boris Pahor. Ich wurde verlegen wie ein heimlich ertapptes Kind."
Ilma Rakusa setzt sich mit ihren höchst subjektiven Beobachtungen und Assoziationen einer Gefahr aus. Die auf kleinste emotionale und physische Details gerichtete Perspektive könnte übermäßig selbstbezogen wirken. Aber die radikale Ehrlichkeit, zum Beispiel in ihren Texten über "Angst", "Einsamkeit" oder "Religion" ist eine Geste der Öffnung, eine Einladung an den Leser, Elemente ihres Lebens so kennenzulernen, dass sich der Sinn ihres Schreibens – jedes Schreibens – erspüren lässt.
Schreiben findet in der Stille statt
Gegen das Hermetische tragen auch die Reflexionen über das Schreiben bei, die immer analytisch und nie eitel sind. Ein Gedicht entstehe aus der Stille heraus, beschreibt Rakusa im Eintrag "Schreiben (Scribo, ergo sum)":
Da ist die Stille, Windstille, und plötzlich beginnt sich etwas zu regen. Aus dieser rhythmischen Regung formen sich Laute, aus den Lauten nach und nach Wörter. Und diese Wörter ziehen andere an – nach klanglichen oder semantischen Gesichtspunkten. Ein kaum beschreibbarer, ziemlich rascher Vorgang. Letzten Endes unausdeutbar. Lassen wir dem Schreiben einen Gran Geheimnis."
Und schließlich bannt die enge Verbindung des Persönlich-Biografischen mit der Arbeit und der Persönlichkeit anderer Autoren die Gefahr des Solipsismus. Viele Zitate und Anekdoten geben dem Leser die Chance, Schriftsteller kennenzulernen, die zu Unrecht weniger bekannt sind als jene, die Rakusa selbst übersetzt hat, und die ihr genau so Heimat geworden sind wie die Orte, die sie uns nahebringt.
Hommage an die anderen stillen Autoren
Der weißrussische Dichter und Übersetzer Ales Rasanau ist einer dieser Menschen, die Ilma Rakusas Welt bevölkern. Wie sie selbst ist er ein "Reisender nach innen". So lautet ihr Eintrag über Rasanau, den sie einen der "Stillsten der Stillen" nennt. Diese Hommage auf wenigen Seiten ist ein Kleinod – eines von vielen in dieser alphabetisch geordneten Miniaturen-Sammlung:
"So schaut er auf die Welt mit leicht schiefem Kopf wie ein Vogel und Augen, die im Kleinen das Große sehen. Ohne zu urteilen, ohne in Gegensätzen zu denken. Aggressivität kennt er nicht, Kraft schon. Zu dieser Kraft gehört, dass er seine Werke konsequent auf Belorussisch schreibt, auch wenn ihm das immer wieder Probleme eingebracht hat. Ausdauer statt Frontalattacken. Was zählt, ist das Erzählte."
Rakusas Streifzug durch die Welt des Schreibens scheint entrückt von der Politik zu sein. Aber das täuscht. Ihr Alphabet zeigt nämlich beiläufig, wie im Kontinent des zurückkehrenden Nationalismus eine zukunftgerichtete Heimatkunde aussehen könnte. Denn die emotionale Tiefe der Verwurzelung mit einer Region wird so behutsam wie lebendig demonstriert, wirkt aber durch die Vervielfältigung der Zugehörigkeit nicht einengend, sondern befreiend.
So kommt Heimat ganz ohne Tümelei oder Sentimentalität aus, ohne Überhöhung oder Ausgrenzung. Ilma Rakusa zeigt, wie eine solche inklusive europäische Perspektive intellektuell und literarisch erarbeitet werden kann: durch genaues Beobachten und Zuhören, durch eine hoch differenzierte und lebendige Sprache – und durch Protokolle, zwischen deren Zeilen die Träume nisten.
Ilma Rakusa: "Mein Alphabet"
Droschl Verlag, Wien
312 Seiten, 23 Euro
Droschl Verlag, Wien
312 Seiten, 23 Euro