"Gibraltar" nennt Sascha Reh seinen zweiten Roman. Wer sich von Norden aus der kleinen Landspitze nähert, sieht rechts und links des Weges die Bauruinen riesiger Hotels und Ferienanlagen, Symbole einer geplatzten Immobilienblase, die am Anfang der europäischen Finanzkrise stand. Der Ort selbst steht für das Ende der Welt - oder zumindest Europas, wo Flüchtlinge aus Nordafrika ankommen, wo die Grenzen der Festung Europa verteidigt werden. Außerdem gehört Gibraltar zu den fern von London gelegenen britischen Finanzoasen, ist es ein Ort, von dem man in unbekannte Gefilde aufbrechen kann.
In dieses Gibraltar hat der trickreiche Banker Bernhardt Milbrandt 40 Millionen Euro transferiert. Milbrandt arbeitet an führender Stelle im Bankhaus Alberts und wurde von Firmenpatriarch Johann Alberts gleichsam an Sohnes statt angenommen, weil dessen leiblicher Sohn eigene Wege geht. So hatte er freie Hand, spekulierte und verspekulierte sich und nutzte am Ende die Gelegenheit, sich selbst zu bedienen. Dann ist er plötzlich verschwunden und folgt dem Geld. Die Bank bricht zusammen. Seniorchef Johann Alberts erleidet einen Schlaganfall, die Familie versammelt sich am Stammsitz der Bank in Berlin.
Im Zeichen der Krise offenbart sich ein familiärer und gesellschaftlicher Abgrund. Vater Johann hatte die erste Liebe seines Sohnes zerstört, auch selbst mit der jungen Frau geschlafen und seine Ehefrau Helene mit einer wohltätigen Stiftung abgefunden. Sohn Thomas hat in seiner Sturm- und Drangzeit die angebliche Arisierung der Bank durch seinen Vater öffentlich gemacht und war Arzt geworden. Er hat sich schuldig gemacht, als er den Selbstmordversuch seiner schizophrenen Patientin Valerie nicht verhindert hat. Er hat den Beruf aufgegeben und schlägt sich als Berater in schwierigen Lebenslagen durch. Am Krankenbett des Vaters trifft er völlig überrascht seine Klientin Carmen, die sich als Ehefrau des flüchtigen Bernhard Milbrandt herausstellt, und auch Valerie, die ihm als Carmens Tochter vorgestellt wird.
Um Gottes Willen, etwas weniger hätte es nicht getan? Der Rezensent hört den Stoßseufzer, der sich nach diesem noch unvollständigen Überblick über die ausweglosen Verstrickungen dieser Figurenkonstellation Luft macht. Doch die Lektüre dieses souverän erzählten Romans bestätigt die Befürchtungen keineswegs. Arbeitet die klassische Familienaufstellung mit Stellvertretern der realen Personen, an denen sich der Klient abarbeiten soll, konstruiert Sascha Reh in seinem Roman eine Familie, die stellvertretend für die Gesellschaft vorgeführt wird - und das auf äußerst vielschichtige und spannend zu lesende Weise.
In sechs etwa gleichstarken Kapiteln stellt er auf seinen insgesamt gut 460 Seiten eine der Figuren in den Mittelpunkt: Thomas, Valerie, Bernhard, Johann, Helene und Carmen, die Mutter Valeries. Die einzelnen Kapitel sind selbst schon so etwas wie kleine Erzählungen. Im Zentrum aller Geschichten steht der Augenblick des Zusammenbruchs. Doch die Perspektiven unterscheiden sich. Senior Johann liegt auf der Intensivstation und gibt sich Rechenschaft, Helene steht vor den Trümmern ihres Lebens. Thomas will retten, was zu retten ist. Er nimmt die Spur Bernhards und des verschwundenen Geldes auf und folgt ihm im Wagen seines Vaters Richtung Gibraltar. Valerie nimmt er gleich mit, und Carmen folgt ihnen - sie will an dem Reichtum ihres Mannes teilhaben. In Verbindung mit zahlreichen Rückblenden entfaltet der Roman eine erstaunliche Dynamik. In den großen Bewegungen, zunächst nach Berlin,wo alles anfing, und dann auf der Spur des Geldes bis kurz vor Gibraltar, wird er zu einem atemberaubenden Roadmovie durch die vielschichtigen Krisenerfahrungen seiner Protagonisten. Da aber jede der Figuren nur mit ihrem eigenen Gepäck unterwegs ist, offenbaren sich die komplexen inneren Zusammenhänge zeitversetzt und sukzessive, beinah in homöopathischen Dosen.
Die Familien Alberts und Milbrandt waren schon lange zerstört, bevor auch das schon durch einige Krisen gegangene Bankhaus ins Wanken gerät. Doch Krisen- und Familienroman ergänzen sich nicht - sie gehen eine Symbiose ein. Bernhard Milbrandt, dessen Ehe schon zerstört war und der sich jetzt auch noch grob verspekuliert hat, will nur noch raus - das Geld nehmen, verschwinden, sich ein angenehmes Leben machen. Damit liefert er nur den Anlass, setzt nur die Triebkräfte frei dafür, dass die tief in gesellschaftlichen Milieus verwurzelten Wahrheiten an die Oberfläche gespült werden.
Diese Milieus, die Haltungen seiner Figuren und die inneren Zusammenhänge arbeitet der Autor in einer genauen Sprache und gerade deshalb auch mit einer gewissen Komik heraus. Sascha Reh seziert geradezu ihre Sprech- und Denkweisen. Die Abrechnungen zwischen den Generationen, die Rechtfertigungen und Triumphe des alten Johann Alberts wirken dabei durchaus etwas fade und stereotyp, aber auch hier trifft der Autor wahrscheinlich nur den richtigen Ton. Im Kapitel über Valerie hat er alle Register gezogen. Valerie hatte der Familie den Rücken gekehrt und war nach Berlin gezogen, wurde von ihren zynischen Künstlerfreunden ausgenommen und beantragt schließlich Hartz IV. Wie Sascha Reh die darüber verrückt gewordene junge Frau zeigt, eingekreist und umzingelt von äußeren und inneren Stimmen, hilflos ausgeliefert den mächtigen Jargons, die sie klein halten, regt auf und ist einfach ein Genuss.
Und wie geht die Geschichte aus? Kein reinigendes Gewitter, keine Katharsis, kein Happy Ende. Ganz am Ende, am Schluss des Kapitels über Carmen, steht die Verhaftung von Carmen und Bernhard durch die Guardia Civil. Sie hatten versucht, in Gibraltar an die 40 Millionen heranzukommen. Aber im Grunde hat jede der sechs Geschichten ihr eigenes Ende: Zusammenbrüche, leichte Hoffnungen auf einen neuen Anfang, ein vielstimmiges "So geht es nicht weiter". Ein Spiegel der Gesellschaft eben, der den Leser dann doch auch etwas ratlos zurücklässt.
Sascha Reh: Gibraltar
Roman, Schöffling & Co, 462 Seiten, 22,95 Euro
In dieses Gibraltar hat der trickreiche Banker Bernhardt Milbrandt 40 Millionen Euro transferiert. Milbrandt arbeitet an führender Stelle im Bankhaus Alberts und wurde von Firmenpatriarch Johann Alberts gleichsam an Sohnes statt angenommen, weil dessen leiblicher Sohn eigene Wege geht. So hatte er freie Hand, spekulierte und verspekulierte sich und nutzte am Ende die Gelegenheit, sich selbst zu bedienen. Dann ist er plötzlich verschwunden und folgt dem Geld. Die Bank bricht zusammen. Seniorchef Johann Alberts erleidet einen Schlaganfall, die Familie versammelt sich am Stammsitz der Bank in Berlin.
Im Zeichen der Krise offenbart sich ein familiärer und gesellschaftlicher Abgrund. Vater Johann hatte die erste Liebe seines Sohnes zerstört, auch selbst mit der jungen Frau geschlafen und seine Ehefrau Helene mit einer wohltätigen Stiftung abgefunden. Sohn Thomas hat in seiner Sturm- und Drangzeit die angebliche Arisierung der Bank durch seinen Vater öffentlich gemacht und war Arzt geworden. Er hat sich schuldig gemacht, als er den Selbstmordversuch seiner schizophrenen Patientin Valerie nicht verhindert hat. Er hat den Beruf aufgegeben und schlägt sich als Berater in schwierigen Lebenslagen durch. Am Krankenbett des Vaters trifft er völlig überrascht seine Klientin Carmen, die sich als Ehefrau des flüchtigen Bernhard Milbrandt herausstellt, und auch Valerie, die ihm als Carmens Tochter vorgestellt wird.
Um Gottes Willen, etwas weniger hätte es nicht getan? Der Rezensent hört den Stoßseufzer, der sich nach diesem noch unvollständigen Überblick über die ausweglosen Verstrickungen dieser Figurenkonstellation Luft macht. Doch die Lektüre dieses souverän erzählten Romans bestätigt die Befürchtungen keineswegs. Arbeitet die klassische Familienaufstellung mit Stellvertretern der realen Personen, an denen sich der Klient abarbeiten soll, konstruiert Sascha Reh in seinem Roman eine Familie, die stellvertretend für die Gesellschaft vorgeführt wird - und das auf äußerst vielschichtige und spannend zu lesende Weise.
In sechs etwa gleichstarken Kapiteln stellt er auf seinen insgesamt gut 460 Seiten eine der Figuren in den Mittelpunkt: Thomas, Valerie, Bernhard, Johann, Helene und Carmen, die Mutter Valeries. Die einzelnen Kapitel sind selbst schon so etwas wie kleine Erzählungen. Im Zentrum aller Geschichten steht der Augenblick des Zusammenbruchs. Doch die Perspektiven unterscheiden sich. Senior Johann liegt auf der Intensivstation und gibt sich Rechenschaft, Helene steht vor den Trümmern ihres Lebens. Thomas will retten, was zu retten ist. Er nimmt die Spur Bernhards und des verschwundenen Geldes auf und folgt ihm im Wagen seines Vaters Richtung Gibraltar. Valerie nimmt er gleich mit, und Carmen folgt ihnen - sie will an dem Reichtum ihres Mannes teilhaben. In Verbindung mit zahlreichen Rückblenden entfaltet der Roman eine erstaunliche Dynamik. In den großen Bewegungen, zunächst nach Berlin,wo alles anfing, und dann auf der Spur des Geldes bis kurz vor Gibraltar, wird er zu einem atemberaubenden Roadmovie durch die vielschichtigen Krisenerfahrungen seiner Protagonisten. Da aber jede der Figuren nur mit ihrem eigenen Gepäck unterwegs ist, offenbaren sich die komplexen inneren Zusammenhänge zeitversetzt und sukzessive, beinah in homöopathischen Dosen.
Die Familien Alberts und Milbrandt waren schon lange zerstört, bevor auch das schon durch einige Krisen gegangene Bankhaus ins Wanken gerät. Doch Krisen- und Familienroman ergänzen sich nicht - sie gehen eine Symbiose ein. Bernhard Milbrandt, dessen Ehe schon zerstört war und der sich jetzt auch noch grob verspekuliert hat, will nur noch raus - das Geld nehmen, verschwinden, sich ein angenehmes Leben machen. Damit liefert er nur den Anlass, setzt nur die Triebkräfte frei dafür, dass die tief in gesellschaftlichen Milieus verwurzelten Wahrheiten an die Oberfläche gespült werden.
Diese Milieus, die Haltungen seiner Figuren und die inneren Zusammenhänge arbeitet der Autor in einer genauen Sprache und gerade deshalb auch mit einer gewissen Komik heraus. Sascha Reh seziert geradezu ihre Sprech- und Denkweisen. Die Abrechnungen zwischen den Generationen, die Rechtfertigungen und Triumphe des alten Johann Alberts wirken dabei durchaus etwas fade und stereotyp, aber auch hier trifft der Autor wahrscheinlich nur den richtigen Ton. Im Kapitel über Valerie hat er alle Register gezogen. Valerie hatte der Familie den Rücken gekehrt und war nach Berlin gezogen, wurde von ihren zynischen Künstlerfreunden ausgenommen und beantragt schließlich Hartz IV. Wie Sascha Reh die darüber verrückt gewordene junge Frau zeigt, eingekreist und umzingelt von äußeren und inneren Stimmen, hilflos ausgeliefert den mächtigen Jargons, die sie klein halten, regt auf und ist einfach ein Genuss.
Und wie geht die Geschichte aus? Kein reinigendes Gewitter, keine Katharsis, kein Happy Ende. Ganz am Ende, am Schluss des Kapitels über Carmen, steht die Verhaftung von Carmen und Bernhard durch die Guardia Civil. Sie hatten versucht, in Gibraltar an die 40 Millionen heranzukommen. Aber im Grunde hat jede der sechs Geschichten ihr eigenes Ende: Zusammenbrüche, leichte Hoffnungen auf einen neuen Anfang, ein vielstimmiges "So geht es nicht weiter". Ein Spiegel der Gesellschaft eben, der den Leser dann doch auch etwas ratlos zurücklässt.
Sascha Reh: Gibraltar
Roman, Schöffling & Co, 462 Seiten, 22,95 Euro