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"Im Brand der Welten"
Das politisch-literarische Jahrhundertleben des Ivo Andrić

Mit "Wesire und Konsuln" und "Die Brücke über die Drina" ist Ivo Andrić in die Literaturgeschichte eingegangen. Wie sehr sein eigenes Leben Teil der Geschichte und der politischen Entwicklungen nicht nur in Jugoslawien war, zeigt die Ivo Andrić-Biographie des Journalisten Michael Martens.

Von Tobias Lehmkuhl |
Der jugoslawische Schriftsteller und Essayist Ivo Andric
Der jugoslawische Schriftsteller und Essayist Ivo Andrić (AFP)
War nicht dieser Ivo Andrić ein bosnischer Autor aus Sarajewo? So könnte man meinen. Aber weder wurde Andrić in Sarajewo geboren, nach wuchs er dort auf, noch hat er sich jemals als bosnischer Autor bezeichnet. Er war vielmehr ein Kroate, der sich später als Serbe ausgab. Und doch stimmt es: Ivo Andrić war ein bosnischer Autor, denn Bosnien war die Welt seiner Romane und Erzählungen. Und er kam aus Sarajewo, weil seine Eltern aus Sarajewo stammten. Travnik, wo er geboren wurde, und Višegrad, wo er seine Kindheit verbrachte, waren auf eine Weise nur geliehene, den Umständen geschuldete Orte.
Für die Literatur stellte es sich freilich als Glücksfall heraus, dass Andrić nicht bei der Mutter in Sarajewo aufwuchs. Früh schon Halbwaise, wurde er mit zwei Jahren zu Onkel und Tante nach Višegrad gebracht, jenem inzwischen fast mystischen Ort, durch den die Drina fließt. Ende des 19. Jahrhunderts allerdings war Višegrad nichts anderes als ein kleines Dorf am Rand des habsburgischen Großreichs.
"Neben den Beamten und Soldaten leben im Ortskern von Višegrad sonst nur etwa 1500 Einheimische. Selbst mit den umliegenden Dörfern haben das Städtchen und seine Umgebung kaum mehr als dreitausend einheimische Einwohner. Die entsandten Beamten und Offiziere (nicht selten verkrachte, wegen irgendeiner Dummheit an die Drina strafversetzte Existenzen) verleihen dem Ort zwar eine Ahnung von Urbanität, doch letztlich ist Višegrad ein Kaff, gleichsam das bosnische Gegenstück zu Joseph Roths Brody in Galizien."
Thomas Mann trifft Gavrilo Princip
Bosnien hatte drei Jahrhunderte lang unter osmanischer Herrschaft gestanden. Ein Teil der slawischen Bewohner passte sich den Umständen, konvertierte zum Islam und hatte fortan seinen Anteil daran, die übrigen Mitbürger im Zaum zu halten und Konstantinopel seine Steuern zu sichern. Erst als Österreich-Ungarn 1878 die Kontrolle übernahm, floß auch etwas Geld nach Bosnien zurück: Es wurden Straßen gebaut und Fabriken errichtet. In einer von ihnen, einer Teppichfabrik, arbeitete Andrićs Mutter. Sicher unter heute unvorstellbaren Bedingungen, aber sie arbeitete und verdiente ihr eigenes Geld, eine Neuheit im damaligen Bosnien, wo die Frau weniger galt es irgendwo sonst in Europa. Michael Martens berichtet in seiner - um das gleich vorweg zu sagen - hochinteressanten, informationsreichen und dabei äußerst kurzweiligen Andrić-Biographie von einem italienischen Händler, der, in die Heimat zurückgekehrt, gesagt haben soll, "er wäre lieber ein Pferd in Venedig als eine Frau in Bosnien."
Wenn seine Muttersprache auch das war, was man später serbokroatisch nannte, lebte Ivo Andrić doch von klein auf zugleich in einem deutschsprachigen Umfeld. So hatte er später keine Probleme, die Sprache der als Besatzer empfundenen Österreicher schnell und offenbar fast perfekt zu erlernen. Die deutsche Literatur las er intensiv, und auch viele andere Literaturen lernte er durch deutsche Übersetzungen kennen. Thomas Mann stellte für ihn das Maß aller Dinge dar, den Höhepunkt der modernen Literatur.
Auch wenn die Welt der Bücher Ivo Andrićs eine ganz andere ist, die stilistische Eleganz und der weite epische Atem verbinden ihn in der Tat mit dem deutschen Nobelpreisträger von 1929. In Andrićs Jugend freilich zeigte die Moderne erst einmal ein ganz anderes Angesicht: Futurismus, Expressionismus, Dadaismus - Ausläufer der Weltkriegs-Avantgarden drangen zwar nicht bis nach Višegrad vor, aber doch bis nach Belgrad, wo auch Andrić mit ihnen in Berührung kam, ohne dass sie bedeutenden Einfluss auf ihn genommen hätten.
Was er in den neunzehnhundertzehner Jahren veröffentlichte wirkt heute recht schwülstig, wie ein typisches Jugendwerk. Doch er machte sich mit seinen ersten Veröffentlichungen, durch ein Stipendium an eine Schule nach Sarajewo gelangt, schnell einen Namen, lernte Gleichaltrige kennen, Gleichgesinnte, und schloss sich einer Gruppe an, die sich Mlada Bosna nannte, "Junges Bosnien". Dieser lose Verbund aus jungen Männern, die literarische Interessen teilten, einte vor allem die Idee eines vereinten Jugoslawien, der Zusammenschluss der Jug-Slawen, der Südslawen. Bekanntestes Mitglied der Gruppe war Gavrilo Princip.
"Andrić hegt Sympathie für die Attentäter, kennt den revolutionärem Doppelmörder Gavrilo Princip aber nur oberflächlich. Wie viele Jung-Bosnier schreibt Princip Gedichte, und es gibt eine Anekdote, laut der er Andrić, der in Sarajewo schon früh als bester Schreiber seiner Generation galt, seine Versuche zur Begutachtung vorlegen wollte. Dann habe er jedoch gezögert, und als Andrić ihn fragte, ob er es sich anders überlegt habe, soll Princip geantwortet haben, er habe sein Werk vernichtet, da es nicht gut genug sei. Mitte der dreißiger Jahre hat Andrić seine Rolle in der Mlada Bosna treffend beschrieben: Mein Mitwirken an der Aktion der nationalistischen Jugend der Vorkriegszeit war sehr bedeutend und bescheiden zugleich. Bedeutend und wichtig für mein persönliches Schicksal, aber bescheiden und klein nach der wirklichen Aktivität und der Schwere des persönlichen Opfers nach."
Tiefe literarische Spuren im Grenzgebiet
Zwar geriet Andrić nach dem Attentat auf den Thronfolger für einige Zeit in Haft, Ende 1915 aber kommt er nicht nur frei, er ist wegen einer gerade diagnostizierten Tuberkulose auch vom Kriegsdienst befreit. Andernfalls, so könnte man mutmaßen, wäre aus ihm - hätte er den Krieg denn überlebt - ein ganz anderer Autor geworden, hat der Erste Weltkrieg doch gerade im jugoslawische-österreichisch-ungarischen Grenzgebiet tiefe literarische Spuren hinterlassen, man denke etwa an die Bücher Miloš Crnjanskis, eines Autors, der mit Andrić bekannt war und wie viele andere hierzulande inzwischen vergessene oder gänzlich unbekannte Autoren in Michael Martens Biographie auftritt und von der spannenden Vielfalt jugoslawischen Literatur avant la lettre zeugt.
Vor allem die Tagebücher vieler Generationsgenossen, die Martens zu Rate gezogen hat, ob von Autoren, Literaturkritikern oder Politkern, sind ein großer Gewinn, nicht zuletzt Andrićs eigene Tagebücher, Notizen und Briefe, denn vieles aus seiner Feder ist gar nicht ins Deutsche übersetzt.
Überdies gelingt es Martens, dem Leser die verwickelten Verhältnisse auf dem Balkan seit Ende der osmanischen Zeit gut verständlich darzulegen - allem voran die Sonderrolle Serbiens im Königreich Jugoslawiens, das nach dem Ersten Weltkrieg für etwas mehr als zwanzig Jahre bestehen sollte.
Wichtig ist der stete Blick auf die politischen Entwicklungen für die Biographie Andrićs in höherem Maße als für die vieler andere Schriftsteller, denn nicht nur bewegten ihn in der Jugend politische Ideale, er trat selbst in den Dienst der Politik - als Diplomat. Seit Anfang der zwanziger Jahre arbeitete sich Andrić im diplomatischen Korps seines Landes immer weiter nach oben. Kritik an den Umständen war von ihm fortan nicht mehr zu hören. Das wichtigste war für ihn die Verwirklichung des Ideals, auch wenn die Wirklichkeit des neuen Staates namens Jugoslawiens gerade aus Sicht der Kroaten oder Slowenen keineswegs ideal ausschaute.
Königlicher Gesandter in Berlin
"Es scheint, als hielte er sich nun ganz an die Devise, die er sich schon Jahre zuvor verordnet hatte und in einem Brief an einen Freund so beschrieben hat: Wie auch meine Genossen habe ich das Prinzip übernommen: seine eigene Arbeit zu machen und nicht nach rechts und nicht nach links zu schauen. Ich sehe meine Pflicht in Jugoslawien darin, zu schweigen und so das Chaos und das ganze Geschrei um mich herum wenigstens um eine Stimme zu mindern."
Andrić übernimmt Posten in Triest, Genf, Paris, Marseille, Rom, Bukarest, Graz und Madrid. Mitte der dreißiger Jahre wird er Leiter der politischen Abteilung des Außenministeriums in Belgrad, danach stellvertretender Außenminister. Er weiß sich gut zu stellen mit den Mächtigen, wie er schon immer Talent darin bewies, Förderer zu finden, Leute, die ihm ein Stipendium verschafften, einen Posten dort, wo es seiner Lunge gut tat, einen da, wo er für seine Bücher recherchieren konnte, denn parallel zu seiner Arbeit an den unterschiedlichen Botschaften, arbeitet er weiter an seiner literarischen Karriere, gewinnt Preise, schreibt aber vor allem Erzählungen. Die großen Romane entstehen erst im besetzten Belgrad.
Als End- und sozusagen Höhepunkt seiner diplomatischen Karriere wird er Ende März 1939 zum "außerordentlichen Gesandten und bevollmächtigten Minister an der königlichen Gesandtschaft in Berlin ernannt. Es wird zugleich auch die verzwickteste Aufgabe, die er zu bewältigen hat, die zu bewältigen er am Ende aber gar nicht in der Hand hat.
"Am 10. April tritt er seinen Dienst in Berlin an. Nur drei Tage zuvor haben sich Jugoslawiens Ängste vor Italien bewahrheitet: Italienische Truppen sind in Albanien eingefallen. Niemand in Rom denkt daran, Albanien mit Jugoslawien zu teilen. Mussolini will die Trophäe für sich allein. Albanien ist nach der Tschechoslowakei das zweite Opfer der deutsch-italienischen Achse. In Belgrad ist man sich ebenso wie in anderen europäischen Hauptstädten sicher, dass der Krieg auf weitere Länder übergreifen wird. Andrićs wichtigste Aufgabe in Berlin ist es, alles zu tun, damit Jugoslawien nicht zu diesen Ländern gehört. Im Jahr 1939 scheint diese Aufgabe durchaus lösbar. Hitler hat nicht vor, Jugoslawien anzugreifen, im Gegenteil: Er umwirbt den Staat, will ihn in sein Bündnissystem integrieren. Deshalb bekommt Andrić die besondere Gunst des deutschen Führers zu spüren, als er am 19. April 1939 zur Übergabe des Beglaubigungsschreibens empfangen wird."
Und so ist Ivo Andrić der einzige Mensch, der sowohl Gavrilo Princip als auch Adolf Hitler persönlich kannte, jenen Mann, dessen Schüsse auf Franz Ferdinand den Aufstieg des anderen überhaupt erst ermöglichten, dessen Schüsse mithin nicht nur zum Ersten, sondern auch zum Zweiten Weltkrieg führten. Niemals sonst hat eine einzige Tat derart viele Tode nach sich gezogen, und deswegen ist es für viele auch unverständlich, warum Princip in seiner Heimat nach wie vor als Held verehrt wird. Michael Martens macht diese Haltung in seinem Buch allerdings durchaus nachvollziehbar. Es gelingt ihm als geübter politischer Berichterstatter überdies, die komplizierte Situation der Jahre 1939/40 anschaulich zu machen: Den Versuch Jugoslawiens, nicht in die Schusslinie zu geraten, die Verlockung, selbst von der Verschiebung der Machtverhältnisse zu profitieren.
In Gesellschaft Hermann Görings
Der Köder, den Hitler auswirft, heißt Saloniki. Die wichtigste Hafenstadt im östlichen Mittelmeer möchte man sich in Belgrad liebend gern einverleiben, und willigt schließlich ein dem Drei-Mächte-Pakt beizutreten. Überdies hofft man, fortan von Gebietsansprüchen Italiens geschützt zu sein und bei einem Überfall Italiens auf Albanien selbst ein Stück vom Kuchen abzubekommen.
Aber all diese Hoffnungen scheitern grandios: Da Italien in Griechenland in die Defensive gerät und Hitler zu Hilfe eilen muss - quer durch Jugoslawien, da es, kaum ist der Pakt unterzeichnet, in Belgrad zu einem Putsch kommt, der jugoslawische König zudem nicht von seiner Treue zu England lassen möchte, marschieren schließlich die Deutschen auch in Jugoslawien ein und entfachen dort einen Krieg aller gegen alle: Kroaten gegen Serben, Muslime gegen Christen, Dorf x gegen Dorf y. Der deutschen Wehrmacht wird durch die Zerstrittenheit der Balkanvölker viel Arbeit erspart, der Blutzoll ist, gemessen an den Bevölkerungszahlen, immens.
Dabei hatte Andrić in Berlin sein Bestes gegeben: Er ging auf Gesellschaften, war dem Staatssekretär im Außenministerium, Ernst von Weiszäcker, durchaus angenehmen, sprach mit Ribbentropp, verhandelte mit Göring über Waffenlieferungen und wurde als Autor zudem von der Crème der stramm national gesinnten Autoren geschätzt - Ernst Jünger und Carl Schmitt waren begeistern von Andrić, Hitlers Hausbildhauer Arno Breker lud ihn mehrfach aufs Land ein.
So sind auch mehrere Äußerungen Andrićs überliefert, in denen er das Nazi-Regime sehr positiv bewertet. Inwiefern das aber seine private Meinung oder politischer Notwendigkeit geschuldet war, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Plausibler ist, dass Andrić persönlich keine eindeutige Meinung hatte, dass er, als Schriftsteller, Meinungen als nachteilig empfand. Es ging ihm nicht darum, zu meinen, sondern darum, zu erzählen, die Welt also auf eine grundlegend andere Art als Politier oder Journalisten zu verhandeln.
Wohl auch, weil er keine eigene Meinung hatte, keine politischen Überzeugungen - abgesehen von dem Ideal eines vereinten Jugoslawien, konnte er nach dem Krieg unter Tito wieder so gut Fuß fassen. Dazwischen aber lag seine Ausbootung und Abberufung aus Berlin, die Rückkehr nach Belgrad und die sturzgeburtartige Niederschrift zweier Jahrhundertromane.
Alihodscha und die Eisenbahn
"Für Andrić beginnt im Juni 1941 eine wunderbare Zeit in einer schrecklichen Zeit. Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der nach dem Krieg ein Freund Andrićs wird, schreibt dazu in seinen Memoiren: "Wir sind vom gleichen Jahrgang, und ich denke stets voll Entzücken, ja voll Neid an diesen meinen Altersgenossen, der in dem allerlärmendsten Jahr schwieg und schrieb, schwieg und schrieb." Tatsächlich wird Andrić nicht nur ein Jahr, sondern dreieinhalb Jahre lang schweigen und schreiben. Nie wieder wird er dermaßen produktiv sein wie in der Zeit zwischen seiner Ankunft aus Deutschland im Sommer 1941 bis zum Oktober 1944, als Belgrad von der deutschen Besatzung befreit wird."
Zuerst entsteht "Wesire und Konsuln", gleich darauf "Die Brücke über die Drina", und sozusagen als Nachklapp noch "Das Fräulein". Für "Wesire und Konsuln" hat Andrić schon in den zwanziger Jahren in Paris recherchiert. Wie "Die Brücke über die Drina" handelt es sich bei diesem ersten Werk vermeintlich um einen historischen Roman. Mit dem Genre des historischen Romans haben "Wesire und Konsuln", und "Die Brücke" freilich nur insofern etwas gemein, als sie in der Vergangenheit spielen, in der vielhundertjährigen Geschichte Bosniens, vor allem in der Welt des Bosniens unter osmanischer Herrschaft. Andrić geht es allerdings nie um die farbige Darstellung vergangener Zeiten. Als großer Psychologe betreibt er Charakterstudien, er interessiert sich für das Menschliche wie das Allzumenschliche. Sicherlich war er fasziniert von den Mythen und Legenden seiner Heimat, war geprägt von den Erzählungen und Lieder Bosniens, aber er wählte den Umweg über die Jahrhunderte vor allem doch, um in der Gegenwart anzukommen. Liebe, Trauer, Neid und Hass, all diese Regungen, die ein Mensch im Jahr 1643 wie im Jahr 1943 verspüren konnte, stellt er mit großem Geschick dar, aber er holte, wie Martens feststellt, auch die äußere Gegenwart seiner Zeit ganz konkret in seine historischen, aber niemals historisierenden Romane.
"Von März bis August 1943 rollen Deportationszüge mit fast 50 000 Juden aus Saloniki über den Balkan Richtung Auschwitz und Treblinka. Sie fahren über Belgrad. Von seinem Zimmer aus hat Andrić einen Blick auf den Bahnhof weiter unten in der Stadt. Er beobachtet das Treiben dort oft, wie aus seinen Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht. Wer das weiß, wird eine Passage aus dem Schlussteil der "Brücke über die Drina" kaum noch lesen können, ohne daran zu denken. In der Passage wird geschildert, wie Višegrad an das bosnische Eisenbahnnetz angeschlossen wird. Die ganze Stadt feiert. Nur Alihodscha nicht, ein muslimischer Kaufmann alten Schlages: Jenen, die mit der Geschwindigkeit prahlten, in der sie jetzt ihre Geschäfte erledigten, und ausrechneten, wie viel Zeit, Mühe und Geld man sparte, erwiderte er mürrisch, es sei nicht wichtig, wie viel Zeit der Mensch spare, sondern was er mit dieser ersparten Zeit anfange; wenn er sie schlecht verwende, dann sei es besser, er habe sie nicht. Er versuchte zu beweisen, dass es nicht die Hauptsache sei, dass der Mensch schnell fortkomme, sondern wohin er gehe und zu welchem Zweck, und dass Geschwindigkeit daher nicht immer einen Vorteil bedeute. Einem jungen Kaufmann, der ganz begeistert davon ist, dass die "Schwaben" (damit sind in der serbischen Umgangssprache Österreicher oder Deutsche gemeint) Višegrad einen Bahnhof geschenkt haben, sagt Alihodscha: ‚Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass der Schwabe Geld ausgegeben und die Maschine eingesetzt hat, nur damit du schneller reisen und deine Geschäfte schneller abwickeln kannst. Du siehst nur, dass du fährst, aber du fragst nicht, was die Maschine außer dir und solchen, wie du es bist, sonst noch alles fortbringt und heranschafft."
Erstaunlich ist nicht nur, in welcher Geschwindigkeit Andrić im Grunde ein Lebenswerk produziert, erstaunlich ist, dass es überhaupt auf uns gekommen und nicht im Krieg zerstört worden ist. Erstaunlich ist zudem, wie verhältnismäßig leicht es Andrić fiel, seinen Platz in der neuen Zeit zu finden. Er, der treue Diener der Monarchie, wurde mit einem Mal die bedeutendste literariche Stimme des neuen, des kommunistischen Jugoslawiens. Sicher schmückten sich die neuen Machthaber nicht ungern mit einem Mann von seinem Format; allerdings hatte Tito nach dem Krieg wenig Skrupel gezeigt, zehntausende ihm nicht wohlgesonnene Kroaten, Serben und Slowenen hinzurichten, da hätte ein Schriftsteller mehr oder weniger kaum einen Unterschied gemacht.
Die Kunst der Retusche
Nein, es zeigte sich wieder die chamäleonhafte Anpassungsfähigkeit Andrić, die allerdings nie in verlogene Anbiederungsversuche umschlug. Er verstand es abzuwarten, er verstand es, wenn nicht zu gefallen, so doch angenehm zu sein. Man unterhielt sich gern mit ihm, man wurde aber schwer Freund mit ihm. Der "private" Andrić ist darum schwer zu fassen, über sein Liebesleben wenig bekannt. Es spielt für sein Werk auch keine große Rolle. Zwar heiratete der über Sechzigjährige entgegen aller Vorhersagen doch noch, den Briefen nach zu schließen war es aber eine Ehe eher zwischen Gefährten als zwischen Geliebten. Auch auf den Fotos wirkt Andrić immer etwas steif und distanziert, trägt 1920 dasselbe ausdruckslose Gesicht zur Schau wie 1960.
Wie Michael Martens herausgefunden hat, beäugte Andrić die eigenen Fotos sehr skeptisch, vor allem eines, das ihn bei der Unterzeichnung des Drei-Mächte-Pakts zeigt. Als es nach dem Krieg in einer Ausstellung zu sehen ist, interveniert er schnell. Es wird abgehängt, und auf der einzig verbliebenen Kopie, die Martens einsehen konnte, fehlt sein Kopf nun - aller Wahrscheinlichkeit nach wegretuschiert.
1961 ereilt Ivo Andrić der Nobelpreis. Er wird mit weiteren Ehren überhäuft, reist und ist in Jugoslawien nun unantastbar. Er trifft Marschall Tito, mit dem er sich aber nichts zu sagen hat, und verbringt die Sommer mit seiner Frau und der Schwiegermutter am Meer. Er schreibt weiter. Zu seinen Lebzeiten wird aber nicht mehr viel, wird kein Roman mehr erscheinen. Es sieht so aus, als hätte sich ein achtzigjähriges Schriftstellerleben innerhalb von kaum drei Jahren realisiert und zur Vollendung gebracht. Aber es war eben auch ein politisches Leben, ein Leben entlang der Scheidewege des 20. Jahrhunderts. Und es ist ein Leben mit einem intensiven Nachleben: Bis heute wird mit Furor darüber diskutiert, wie Andrić zu Islam und Christentum, zu seiner bosnischen Heimat und einem Großserbien stand. Wie Michael Martens all diese Kämpfe und die Ausweichmanöver, wie er die Entwicklungen des Balkans und das Werk Ivo Andrić gleichsam unter dem Brennspiegel schildert, ist der Lektüre unbedingt wert.
Michael Martens: "Im Brand der Welten. Ivo Andrić. Ein europäisches Leben"
Zsolnay Verlag, Wien. 496 Seiten, 28 Euro.