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Im Dezember vor 25 Jahren
Revolutionsspaziergang im rumänischen Temeswar

Mit Demonstrationen und erbitterten, blutigen Kämpfen entledigten sich die Rumänen in Temeswar vor 25 Jahren ihres sozialistischen Herrschaftsregimes. Noch heute erinnern Einschusslöcher und Gedenkstätten überall in der Stadt an den Sieg des Volkes.

Von Thomas Wagner |
    Vom Balkon der Oper von Temeswar verlasen die Anführer des Aufstandes gegen die kommunistischen Diktatur vor 25 Jahren ihre Manifeste. Nun breitet sich dort vorweihnachtliche Atmosphäre aus.
    Vom Balkon der Oper von Temeswar verlasen die Anführer des Aufstandes gegen die kommunistische Diktatur vor 25 Jahren ihre Manifeste. Nun breitet sich dort vorweihnachtliche Atmosphäre aus. (Thomas Wagner)
    "Bei uns gibt es alles, was schmeckt: Würste, auch die leckere Leberwurst, natürlich auch den traditionellen rumänischen Pflaumenschnaps, und natürlich den "Vin fiert"-Glühwein."
    Weinachtsmarkt im westrumänischen Temeswar: Margaretha, Mitte 20, bietet dort Leckereien vom Land an. Auf der einen Seite des Platzes die orthodoxe Kathedrale, auf der anderen Seite das riesige Operngebäude: Margaretha blickt Richtung Kathedrale, auf ein riesiges, über zwei Meter hohes Kreuz davor. Das erinnert an jene schicksalshaften Augenblicke vor genau 25 Jahren.
    "Meine Eltern haben mir erzählt, was passiert ist, damals vor 25 Jahren, vor allem hier, auf diesem Platz, vor der Kathedrale. Irgendjemand hat damals die Türen verschlossen. Davor Demonstranten, die gegen das Ceausescu-Regime protestiert haben, etliche mit ihren Kindern. Aber wie gesagt: Die Tür war verschlossen. Und dann kamen Sicherheitskräfte und haben etliche dieser Demonstranten erschossen, darunter eben auch Kinder und Jugendliche."
    Daran erinnert das stählerne Monument vor der Kathedrale heute noch, ein Vierteljahrhundert später. Adi Ardelan wendet den Blick bei seinem Bummel über den Weihnachtsmarkt erst Richtung Operngebäude mit seinem mächtigen Balkon, dann ein wenig nach rechts, zu einem alten, jahrhundertalten Stadtpalast, in dem sich heute ein amerikanisches Schnellrestaurant angemietet hat. Nicht nur, dass dort die Farbe der Fassade allmählich abblättert - aufmerksame Beobachter wie Adi Ardelan entdecken dort etwas ganz Besonderes:
    "Es sind die Löcher, die vor 25 Jahren entstanden sind. Es sind Schusslöcher. Auf diesem Platz wurde vor 25 Jahren geschossen. Und das, was man noch heute sieht, diese Löcher in den Wänden."
    Adi Aredelan hat damals die Revolution selbst erlebt, wurde Zeuge, Sicherheitskräfte genau dort, auf dem Opernplatz, gezielt auf die große Schaar von Demonstranten geschossen hat. Über 150.000 Menschen sollen sich damals dort aufgehalten haben, wo dieser Tage, auf dem Weihnachtsmarkt, Würste, Glühwein, Handschuhe und selbst gemachte Strickmützen verkauft werden. Die Einschusslöcher sind denkmalgeschützt - ein in einer Fassade verewigtes Zeichen für den Mut der Temeswarer Bürger für 25 Jahren, findet Adi Aredlan:
    "Wenn man diese Löcher heute noch anschaut, weiß man: Das war kein Traum, das war Wirklichkeit. Es ist wichtig, dass man sie sieht. Es sind Menschen gestorben, es wurde wichtig, dass auch die nächsten Generationen das sehen. An dem Tage hatten wir keine Angst. Es war etwas ganz anderes. Man wusste, dass man Geschichte schreibt. Es war auch Freude, dass endlich einmal was passiert."
    Ein Pfarrer wagte zuerst, gegen die Diktatur zu protestieren
    Auf der Suche nach den Spuren der Revolution in Temeswar: Aus dem Autoradio ertönt ein altes rumänisches Weihnachtslied. Am Steuer sitzt ein hagerer Mann mit dunklem Mantel und grüner Krawatte: Traian Orban, Leiter des Temeswarer Revolutionsmuseums: Doch die Fahrt führt weg vom Weihnachtsmarkt auf dem zentral gelegenen Opernplatz über eine Brücke hinüber auf die andere Seite der Bega, jenem Fluss, der Temeswar halbkreisförmig durchtrennt. Vor einem gelben Backsteinhaus hält Traian Orban an, steigt aus seinem Wagen, liest das vor, was auf einer großen, steinernen Gedenktafel steht - gleich in mehreren Sprachen:
    "Hier begann die Revolution, die der Diktatur ein Ende setzte."
    Vor dem Gebäude rumpelt eine alte Straßenbahn vorbei.
    Bei dem Gebäude handele es sich um die reformierte Kirche, so Traian Orban, der, stark gehbehindert, am Stock um das Gebäude herumgeht, auf die Gedenktafeln in rumänischer, serbischer, ungarischer und deutscher Sprache zeigt. Und dann fällt ein Name, der untrennbar mit dem Ausbruch des Aufstandes in Temeswar verbunden ist:
    Traian Orban erzählt die Geschichte des Pfarrers Lazlo Tökes, der es seinerzeit gewagt hatte, gegen die Ceausescu-Diktatur zu protestieren. Er sollte daraufhin in eine kleine, unbedeutende Gemeinde zwangsversetzt werden. Das aber brachte das Fass seinerzeit zum Überlaufen: Erst waren es Hunderte, später dann Tausende Demonstranten, die eben vor diesem Haus Wache hielten, um zu verhindern, dass die berüchtigte Geheimpolizei Securitate Tökes abholen konnte. Der Protest aller Religionen, aller Ethnien gegen die Diktatur habe hier, genau hier begonnen.
    Die Autofahrt mit Traian Orban geht weiter, weg vom Zentrum der 400 000-Einwohner Stadt im Westen Rumäniens. Vier Mal habe er selbst während des Aufstandes vor 25 Jahren mitdemonstriert gegen die Ceausescu-Diktatur. Dann passiert es:
    Auf dem "Piata libertati", dem Temeswarer Freiheitsplatz, sei er angeschossen worden, in sein Bein. Eine Amputation drohte - ein Glück: Ein Wiener Arzt kommt mit einem Hilfskonvoi in die Stadt, behandelt Traian Orban erst in Temeswar selbst, nimmt ihn dann aber mit nach Wien in eine moderne Klinik. Dort entdeckte der Arzt dann, erinnert sich Traian Orban heute...
    "... eine zweite Kugel. Die erste Operation war ja in Temeswar, im Krankenhaus. Und dann in Vienna findet man in meinem Oberschenkel die zweite Kugel, eine 7 / 62mm aus einer Kalaschnikoff."
    Bis heute hat Traian Orban nicht herausgefunden, wer geschossen hat. Doch immerhin: Orban hat überlebt. Andere Revolutionsteilnehmer dagegen nicht.
    Bis heute eine Revolutionsstadt im Westen Rumäniens
    Traian Orban führt seine Gäste gerne auf die Gedenkstätte des sogenannten "Heldenfriedhofes": In einem steinernen Mahnmal flackert die Flamme des 'ewigen Lichts', das an die Revolutionsopfer erinnern soll. Daneben ein Feld mit über 70 aus dunklem Stein gefertigten blank polierten Dreiecken. Namen sind dort eingraviert - die Namen der Menschen, die in Temeswar zu Tode kamen, mit Geburts- und Todesdatum:
    "Radu Comnstantin: 17.12.1989. Von 56 bis 89 war er 33. Oder Jukoic Milorad Slobodan, 1970, 24.12.1989, also 29 Jahre alt."
    Viele der Opfer waren kaum 30, als sie beim Aufstand in Temeswar erschossen wurden: Der Gang über den Heldenfriedhof macht nachdenklich; die Atmosphäre ist bedrückend.
    Nachdenklich werden die Besucher auch an jenem riesigen Denkmal aus schwarz oxidiertem Schiffsstahl etwas außerhalb des Stadtkerns, vor dem Kreiskrankenhaus: Zwei riesige Säulen des rumäniendeutschen Künstlers Ingo Glass, ein gebürtiger Temeswarer, der heute in München lebt. Die beiden Säulen mit dem riesigen Zwischenraum stehen, so Traian Orban, für die...
    "...Öffnung in diesem Eisernen Vorhang."
    Zwölf künstlerische Monumente, die in unterschiedlichster Form in Zusammenhang mit der Revolution stehen, wurden quer über das Temeswarer Stadtgebiet aufgestellt, von der Freiheitsglocke aus Beton auf dem historischen Traianplatz bis hin zum sogenannten "Zielscheiben-Mann", eine überlebensgroße Statue eines geknechteten, gequälten und gerade getroffenen Revolutionsopfers. Doch am meisten über den Aufstand vor 25 Jahren erfahren Besucher im sogenannten "Revolutionsmuseum" ganz in der Nähe der Bastion, des Jahrhunderte alten Temeswarer Befestigungsgürtels.
    Jos Ceausescu! Nieder mit Ceausecu! Ein Zusammenschnitt historischer Filmdokumente, ergänzt durch zahlreiche Dokumente und Zeitungsausschnitte aus jener Zeit: Das Revolutionsmuseum Temeswar zieht nicht nur immer wieder Gäste aus aller Welt, sondern auch Einheimische an. Siegfried Thiel ist Rumäniendeutsche, lebt seit Jahrzehnten in Temeswar:
    "Für mich ist es ein Ort des 'Nicht-Vergessens', was Ceausescu-Regime, was Kommunismus bedeutet hat. Es gibt noch heute Leute in Rumänien, die versuchen, das zu minimalisieren. Und gerade dagegen sollte man sich auflehnen."
    Timisoara, Temeswar, der Ort des 'Nicht-Vergessens' - das zeigt die Revolutionsstadt im Westen Rumäniens nicht nur durch ihre Monumente im ganzen Stadtgebiet. Auch die poppig daher kommende Revolutionshymne des Temeswar Komponisten Marian Odangiu ist ein Signal an Besucher aus aller Welt: Hier in Temeswar haben die Bürger der Diktatur getrotzt, manche haben sogar ihr Leben dafür geopfert - für das, was vielen Temeswarern heute noch ein hohes Gut ist: für die Freiheit.