Sommerabend in Berlin. Bei schönem Wetter trifft sich Jung und Alt am aufgeschütteten Strand am Spreeufer, sitzt im Liegestuhl bei Bier und Wein, tanzt unter Palmen – und genießt die Stadt, wie sie sich nunmehr seit vier, fünf Jahren vom Frühjahr bis zum Spätherbst präsentiert –wie eine Stadt am Mittelmeer
"Da werden dann im Mai 50 bis 100.000 Palmen in Berlin nach draußen gerollt, die den Winter gar nicht überlebt hätten, aber die Stadt jetzt dekorieren, mediterran. Dann werden wahrscheinlich 50.000 Liegestühle aufgestellt und Kaffeehausstühle. Wobei Liegestühle vor zehn Jahren noch etwas obszön waren. Also mitten in der Stadt sich hinzulegen, das wäre als Opferhaltung wahrgenommen worden. Heute ist das schon selbstverständlich. Und das Dritte neben dem Mobiliar sind natürlich die Menschen. Die laufen rum mit einer Bierflasche oder Klub-Mate und demonstrieren dadurch, dass sie Freizeit, Chill-out genießen. Und das ist für die europäische Stadt, im weiteren Norden jedenfalls, etwas Neues."
Wolfgang Kaschuba, Professor für Ethnologie an der Humboldt- Universität Berlin. Seine Beschreibung der Sommerinszenierung trifft inzwischen nicht mehr nur für Großstädte zu. Jede mittlere Stadt, die was auf sich hält, gestaltet inzwischen ihren Strand und folgt dem Trend zur "Mediterranisierung der Innenstädte".
Die europäische Stadt war vorher Arbeitsort, Verkehrsort, war busy und schnell. Man musste sich geschäftig zeigen. Jetzt zeigt sie plötzlich, dass sie Lebenswelt sein will und Freizeitort. Man kann das demonstrieren am Beispiel des Eiskaffees. Vor 20 Jahren war es in deutschen und mitteleuropäischen Städten üblich, dass das italienische Eiskaffee Stores vor den Fenstern hatte und man das Eis drinnen gegessen hat. Weil man eben nicht demonstrieren wollte und sollte, ich mache jetzt Pause. Heute ist das öffentliche Faulenzen und das Genießen auch dieser Haltung Teil einer Mediterranisierung der Innenstädte, jetzt wollen wir das auch genießen.
Die Stadtethnologie ist ein relativ junges Kind der Völkerkunde. Seit etwa 20 Jahren interessiert auch Ethnologen aus Deutschland nicht mehr nur die Verwurzelung von fernen, tribalen, dörflichen Gesellschaften in der Tradition. Vielmehr begeben sie sich mit ihren geduldigen Beobachtungsmethoden auch hierzulande in die "Unwirklichkeit" der Städte, um kulturellen Wechsel und Wandel zu entdecken. Wie verhält sich der Einzelne im Raum? Wie im Raum der Gesellschaft? Und wie wiederum prägt der Raum der Gesellschaft das Verhalten des Einzelnen?
Mit einem Kaffee oder Tee "to go" bewegen sich am Morgen die Großstädter im Verkehrsstrom. Zu allen Tag und Nachtzeiten trifft man sich im Café. Viele haben ihr Notebook dabei und nicht immer ist zu erkennen – geht es hier um Arbeit oder Freizeit?
"Das wäre ein Charakteristikum spätmoderner Stadtgesellschaften, dass sich die festen Zuordnungen eher auflösen, dass versucht wird, die Räume, die Tätigkeiten, auch die verschiedenen Disziplinen des Leben verschwimmen zu lassen. Das ist ein Phänomen der Hybridisierung der Stadtkultur, wo sich vieles vermischt, ohne in einen Einheitsbrei aufzugehen. Also diese Entwicklung, dass die Stadträume Laborräume werden, wo alles verbunden und ausprobiert wird. Das ist ein Faszinosum der letzten zehn, zwölf Jahren in Berlin."
"Wenn man heute an den Berliner Gewässern entlang geht, wird man häufig etwas Neues entdecken. Vier, fünf Frauen besetzen ganz öffentlich ihre Plätze. Und man findet auch etwas, was vor zehn Jahren völlig dekadent gewesen wäre: Frauen, die mit der Flasche in der Hand rumlaufen und nicht als Alkoholikerin betrachtet werden, sondern relativ selbstverständlich in die Szenerie der jungen Schicken eingebucht werden. Und wenn man jetzt beobachtet, wie bei den Einkaufsmeilen auch die Gruppen der 13-, 14-, 15-Jährigen zunimmt, auch mit hohem migrantischen Anteil, wie sich auch Gruppen von Muslim dort zeigen und öffentlich ihre Räume einnehmen. Das finde ich eine faszinierende Entwicklung."
Verwundert fragt man: Ist es bereits ein Zeichen von Emanzipation, wenn junge Frauen im Kopftuch in Gruppen gackernd shoppen gehen? Und doch hilft die ethnologische Perspektive stereotype Formen der Wahrnehmung zu durchbrechen: Mädchen und junge Frauen erobern den öffentlichen Raum und begründen neue Routinen. Noch vor kurzer Zeit war es einer Muslima mit Kopftuch kaum möglich, sich ohne männliche Begleitung durch die Stadt zu bewegen.
Für Wolfgang Kaschuba ist das ein Beispiel dafür, wie Großstädte offener, kultureller, vielfältiger werden. Doch vieles von dem, was im öffentlichen Raum geschieht, sind Konsumpraktiken, verlangen ein Einkommen. Allein deshalb sind nicht alle Teile der Bevölkerung an dieser neuen Genusskultur beteiligt. Viel mehr noch: Einige werden bewusst ausgeschlossen:
"Die neue Stadtlandschaft hat natürlich ihre genaue soziale und symbolische Ordnung. Man könnte da im Grunde genommen die Siebe, die das durchmischen und ordnen auch benennen."
Solche Siebe sind beispielsweise die Inneneinrichtungen von Designerläden, die jeweils nur bestimmte Menschen einladen. Oder die Türsteher vor dem Klubs, die sortieren – wer darf rein, wer gehört nicht hierher. Auch die Organisation des öffentlichen Nahverkehrs kann diese Funktion übernehmen.
"Nehmen wir Paris. Da fahren bewusst nachts nur noch wenige Metros aus den Vororten ins Zentrum, weil man die revoltierenden Jugendlichen aus den Banlieues nachts nicht in der Innenstadt haben will. Dort zeigt sich, dass die finanziell und räumlich Ausgeschlossenen auch physisch ausgeschlossen werden von dieser entspannten Stadtatmosphäre. Das ist noch immer eine hierarchisierte Atmosphäre."
Unter dem Titel "Alles nur Party?" hinterfragt Wolfgang Kaschuba das veränderte Großstadtleben. Für ihn sind es durchaus nicht nur oberflächliche Flucht in den Genuss und individualistische Selbstdarstellung. Vielmehr sieht er dahinter auch neue Formen der Vergemeinschaftung, den Wunsch, sich als soziales Wesen erleben zu können, weg zu gehen aus der abgeschotteten, muffigen Privatheit des vergangenen Jahrhunderts. Nach der Erkenntnis von Ulf Matthiesen paart sich diese Tendenz auch mit dem Streben, Verantwortung für die Stadt zu übernehmen. In seinen Untersuchungen entdeckt der Berliner Ethnologieprofessor ein vollkommen Neues Verhältnis der Städter zu ihrer Umgebung, zur Landschaft, zum Boden. Mitten in Berlin, in Kreuzberg, besetzen Bürger nicht mehr Häuser, sondern Brachflächen und bauen dort Pflanzen zur Selbstversorgung oder Vermarktung für die Gastronomie an.
"Man kann es nicht mehr in diese klassische Dualismusform von Stadt versus Land eintüten. Es sind natürliche städtische Formen des Gärtnerns. Urban Gardening heißt das auch. Da wird durchaus die Tradition der Landschaftsgärten in die Stadt. Also es ist nicht das Leben der Bauern übertragen in die Stadt geholt. Sondern es ist ein eigenständiger Mischprozess, in dem Garten und Stadt eine neue Liaison eingehen."
Aus New York stammt diese Bewegung, Brachflächen nutzbar zu machen, indem als erster Schritt zur Landnahmen Samenmischungen als so genannte Seedbombs über die Zäune geworfen werden. In den USA wie auch hierzulande sind diese Akteure inzwischen von den Behörden anerkannt, werden von Sponsoren wie Freiwilligen unterstützt: Gemüsegärtner mitten in der City.
"Ich würde sie Raumpioniere bezeichnen, weil sie aus der Funktion gefallene Brachflächen, einer anderen Nutzung, an die vorher und so niemand gedacht hat, zuführen. Es ist offensichtlich auch für die Wissenschaftler, die mit Stadt zu tun haben, ein völlig überraschender Prozess, dass plötzlich Landschaft, Gartenlandschaft in der Stadt eine so hohe Priorität bekommt. Und plötzlich ist es über Internetforen eine enorm dynamische, sich weltweit bewegende Netzcommunity, die das vorantreibt. Überall."
Für die ethnologische Stadtforschung ist das eine Neuheit – zu entdecken, wie Phänomene binnen kürzester Frist von einem Kontinent auf den anderen getragen werden. Kaffee to go, Strand in der Stadt, Lümmeln in Liegestühlen – das ist in jeder Weltstadt angesagt, mancherorts allerdings noch verschämt und obendrein einer höheren Umweltverschmutzung ausgesetzt. Und so wie die Großstädter sich weltweit gegenseitig inspirieren, holen sich die Wissenschaftler vom Institut für Europäische Ethnologie Anregungen von Kollegen verwandter Disziplinen. Welche ethnologischen Zugänge zur Stadt nutzen etwa Soziologen und Historikern in ihren Forschungen? Juniorprofessorin Alexa Färber konzipierte die Kolloquiumsreihe und will über die einzelnen Akteure hinaus auch deren Verbindungen untereinander und zu ihrer städtischen Umwelt betrachten. Für sie ist klar – auch Gebäude und materielle Arrangement beeinflussen das Erleben der Großstädter:
"Das ist ein Ansatz, der relativ neu in seiner Anwendung auf Stadt ist und eigentlich auch bis jetzt in Verkehrsmittel eingesetzt wird und vor allem in Bezug auf Gebäude. Für uns stellte sich die Frage, wie können wir das auf noch mehr Elemente der Stadt beziehen und vielleicht eine Akteurnetworktheorie der Stadt machen."
Welche neuen Sichten sich damit auf ethnologische Phänomene der Stadt ergeben, führt Ignacio Farias vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin vor. Er untersucht, wodurch Touristen eine Stadt erleben.
"Man muss sich vor allem damit beschäftigen, wie Tourismus als soziomaterieller Prozess bestimmte Assoziation zwischen Menschen, Körpern, Straßen, Gebäuden usw. produziert, genau so, dass das touristischen Gefühl für diesen Ort entstehen kann. Aber ein Ort, wird nicht von dem Tourismus sagen wir kolonialisiert oder monopolisiert. Es ist eher eine virtuelle Ebene, die in diesen Ort entsteht durch diese Assoziationen zwischen den unterschiedlichen Elementen."
Ignacio Farias nennt als Beispiel Bustouren durch Berlin. Es macht einen Unterschied im Erleben aus, ob man einen professionellen Sight sighing Tripp möglicherweise auf dem Obendeck eines Doppeldeckerbusses unternimmt und ob man dabei von einer Person oder einem Audio-Guide die wichtigsten Informationen erhält. Oder ob man sich mit einer öffentlichen Buslinie und einem Reiseführer in der Hand selbst die Stadt erschließt.
"Und das Interessante ist, die Ethnologen haben immer gedacht, dass die Assoziationen zwischen den Elementen vor allem diskursiv oder symbolisch produziert werden, also dass ein bestimmter Diskurs die Stadt konstruiert. Aber wenn man sich das als Ethnologe anguckt, muss man verstehen, dass diese Assoziationen auch materielle Assoziationen sind."
Als Touristen werden immer die Anderen, die Fremden wahrgenommen. Dabei sind Großstädter in vielen Teilen der Stadt selbst Touristen. Und noch etwas zeichnet Großstädter aus: Sie sind in aller Regel Migranten, zugereist aus Dörfern, anderen Städten, anderen Ländern. Für die Ethnologen ist klar – die Stadt entstand erst durch Zuwanderung. Sabine Hess von der Ludwig Maximilians Universität München forscht als Ethnologin in der Bayrischen Metropole. Im 18. und 19. Jahrhundert erbauten zugereiste Italiener die Paläste der Stadt, im letzten Jahrhundert Gastarbeiter das Olympiastadion, die U-Bahn. 35 Prozent der Menschen haben migrantischen Hintergrund. Dennoch wird ihre gestalterische Kraft nicht wahrgenommen:
"Sie wird sogar delegitimiert beziehungsweise kriminalisiert und skandalisiert. Wir haben so einen Busplatz untersucht, der vor allem München mit anderen osteuropäischen Nationen verbindet. Da darf man nicht genau fragen, wer hat einen Pass und wer hat keinen und was über diesen Busplatz alles mitgeschickt wird und wer da alles unterwegs des Weges transportiert wird. Diese Praktiken haben eine ungeheuere Kraft. Sie verbinden Städte, Regionen, Dörfer. Sie stellen vor allem für entlegene Regionen dieser Welt einen wahnsinnigen Entwicklungsfaktor dar und auf der anderen Seite als illegal skandalisiert."
Je nach Zuordnung und Rechnung verfügen heute 25 bis 40 Millionen Deutsche über einen migrantischen Hintergrund. In dem sie mobile Lebensformen und transnationale Lebensweisen entwickeln, verkörpern sie eine hohe soziale Kompetenz. Quasi "von unten" gestalten sie die Globalisierung. Spuren hinterlassen sie gerade in jenen deutschen Stadtvierteln, die als Brennpunktgegenden abgewertet werden, meint Sabine Hess
"Wenn man einen langen Zyklus anguckt und anguckt, welche Stadtgebiete in den 70er und 80er Jahren aufgegeben wurden – wie auch in Kreuzberg. Das ist auch gut um zu zeigen, was heute ein vibrierendes In-Viertel ist, nachgefragt. Die Nachfrage ist nur entstanden, weil da Menschen ausgeharrt haben, die dann irgendwann, da muss man genauer schauen, wann das umschlug, die dann hipp wurden und neue Läden nach sich zogen, die alten Läden wurden renoviert, das Kapital florierte mehr. Und in diesem Umfeld sind Migranten ganz klar als Sanierer und Erneuerer zu begreifen, die da mit wenig Kapital und viel Personaleinsatz ausharren."
Wie funktioniert ein Automarkt westafrikanischer Händler in einer deutschen Großstadt? Wie agieren muslimische Frauen, die ein Gemeindezentrum gründen wollen? Mit solchen Forschungsprojekten untersuchen Ethnologen die Art und Weise, wie Migranten urbanes Leben beeinflussen. Dabei geht es nicht zuerst darum, woher sie kommen, sondern welche Praxis sie gestalten. Einige der Ethnologen gehen deshalb so weit, auch die Bezeichnung für ihr Fach korrigieren zu wollen. Sie wollen zeigen, dass es auf die Handlungsmächtigkeit der Menschen ankommst, nicht auf Nationalitäten und Ethnien. Deshalb schlagen sie vor, ihr Fach "Praxiografie" zu nennen. Eine kontrovers diskutierte Idee. Für Alexa Färber ist es wichtiger, Stadt ethnographisch beobachtend und reflektierend zu durchdringen und dieses Wissen ihren Bewohnern zugänglich zu machen:
"Ich habe immer den Eindruck, Menschen vergessen, wie gut sie mit Differenz auskommen, sobald sie lesen, dass es da irgendwie ein Problem geben muss. Ich glaube, es steckt so viel drin in gelebter urbaner Alltagskompetenz, die es sich auch lohnt, sichtbar zu machen und für andere zugänglich zu machen und zu verstehen."
"Da werden dann im Mai 50 bis 100.000 Palmen in Berlin nach draußen gerollt, die den Winter gar nicht überlebt hätten, aber die Stadt jetzt dekorieren, mediterran. Dann werden wahrscheinlich 50.000 Liegestühle aufgestellt und Kaffeehausstühle. Wobei Liegestühle vor zehn Jahren noch etwas obszön waren. Also mitten in der Stadt sich hinzulegen, das wäre als Opferhaltung wahrgenommen worden. Heute ist das schon selbstverständlich. Und das Dritte neben dem Mobiliar sind natürlich die Menschen. Die laufen rum mit einer Bierflasche oder Klub-Mate und demonstrieren dadurch, dass sie Freizeit, Chill-out genießen. Und das ist für die europäische Stadt, im weiteren Norden jedenfalls, etwas Neues."
Wolfgang Kaschuba, Professor für Ethnologie an der Humboldt- Universität Berlin. Seine Beschreibung der Sommerinszenierung trifft inzwischen nicht mehr nur für Großstädte zu. Jede mittlere Stadt, die was auf sich hält, gestaltet inzwischen ihren Strand und folgt dem Trend zur "Mediterranisierung der Innenstädte".
Die europäische Stadt war vorher Arbeitsort, Verkehrsort, war busy und schnell. Man musste sich geschäftig zeigen. Jetzt zeigt sie plötzlich, dass sie Lebenswelt sein will und Freizeitort. Man kann das demonstrieren am Beispiel des Eiskaffees. Vor 20 Jahren war es in deutschen und mitteleuropäischen Städten üblich, dass das italienische Eiskaffee Stores vor den Fenstern hatte und man das Eis drinnen gegessen hat. Weil man eben nicht demonstrieren wollte und sollte, ich mache jetzt Pause. Heute ist das öffentliche Faulenzen und das Genießen auch dieser Haltung Teil einer Mediterranisierung der Innenstädte, jetzt wollen wir das auch genießen.
Die Stadtethnologie ist ein relativ junges Kind der Völkerkunde. Seit etwa 20 Jahren interessiert auch Ethnologen aus Deutschland nicht mehr nur die Verwurzelung von fernen, tribalen, dörflichen Gesellschaften in der Tradition. Vielmehr begeben sie sich mit ihren geduldigen Beobachtungsmethoden auch hierzulande in die "Unwirklichkeit" der Städte, um kulturellen Wechsel und Wandel zu entdecken. Wie verhält sich der Einzelne im Raum? Wie im Raum der Gesellschaft? Und wie wiederum prägt der Raum der Gesellschaft das Verhalten des Einzelnen?
Mit einem Kaffee oder Tee "to go" bewegen sich am Morgen die Großstädter im Verkehrsstrom. Zu allen Tag und Nachtzeiten trifft man sich im Café. Viele haben ihr Notebook dabei und nicht immer ist zu erkennen – geht es hier um Arbeit oder Freizeit?
"Das wäre ein Charakteristikum spätmoderner Stadtgesellschaften, dass sich die festen Zuordnungen eher auflösen, dass versucht wird, die Räume, die Tätigkeiten, auch die verschiedenen Disziplinen des Leben verschwimmen zu lassen. Das ist ein Phänomen der Hybridisierung der Stadtkultur, wo sich vieles vermischt, ohne in einen Einheitsbrei aufzugehen. Also diese Entwicklung, dass die Stadträume Laborräume werden, wo alles verbunden und ausprobiert wird. Das ist ein Faszinosum der letzten zehn, zwölf Jahren in Berlin."
"Wenn man heute an den Berliner Gewässern entlang geht, wird man häufig etwas Neues entdecken. Vier, fünf Frauen besetzen ganz öffentlich ihre Plätze. Und man findet auch etwas, was vor zehn Jahren völlig dekadent gewesen wäre: Frauen, die mit der Flasche in der Hand rumlaufen und nicht als Alkoholikerin betrachtet werden, sondern relativ selbstverständlich in die Szenerie der jungen Schicken eingebucht werden. Und wenn man jetzt beobachtet, wie bei den Einkaufsmeilen auch die Gruppen der 13-, 14-, 15-Jährigen zunimmt, auch mit hohem migrantischen Anteil, wie sich auch Gruppen von Muslim dort zeigen und öffentlich ihre Räume einnehmen. Das finde ich eine faszinierende Entwicklung."
Verwundert fragt man: Ist es bereits ein Zeichen von Emanzipation, wenn junge Frauen im Kopftuch in Gruppen gackernd shoppen gehen? Und doch hilft die ethnologische Perspektive stereotype Formen der Wahrnehmung zu durchbrechen: Mädchen und junge Frauen erobern den öffentlichen Raum und begründen neue Routinen. Noch vor kurzer Zeit war es einer Muslima mit Kopftuch kaum möglich, sich ohne männliche Begleitung durch die Stadt zu bewegen.
Für Wolfgang Kaschuba ist das ein Beispiel dafür, wie Großstädte offener, kultureller, vielfältiger werden. Doch vieles von dem, was im öffentlichen Raum geschieht, sind Konsumpraktiken, verlangen ein Einkommen. Allein deshalb sind nicht alle Teile der Bevölkerung an dieser neuen Genusskultur beteiligt. Viel mehr noch: Einige werden bewusst ausgeschlossen:
"Die neue Stadtlandschaft hat natürlich ihre genaue soziale und symbolische Ordnung. Man könnte da im Grunde genommen die Siebe, die das durchmischen und ordnen auch benennen."
Solche Siebe sind beispielsweise die Inneneinrichtungen von Designerläden, die jeweils nur bestimmte Menschen einladen. Oder die Türsteher vor dem Klubs, die sortieren – wer darf rein, wer gehört nicht hierher. Auch die Organisation des öffentlichen Nahverkehrs kann diese Funktion übernehmen.
"Nehmen wir Paris. Da fahren bewusst nachts nur noch wenige Metros aus den Vororten ins Zentrum, weil man die revoltierenden Jugendlichen aus den Banlieues nachts nicht in der Innenstadt haben will. Dort zeigt sich, dass die finanziell und räumlich Ausgeschlossenen auch physisch ausgeschlossen werden von dieser entspannten Stadtatmosphäre. Das ist noch immer eine hierarchisierte Atmosphäre."
Unter dem Titel "Alles nur Party?" hinterfragt Wolfgang Kaschuba das veränderte Großstadtleben. Für ihn sind es durchaus nicht nur oberflächliche Flucht in den Genuss und individualistische Selbstdarstellung. Vielmehr sieht er dahinter auch neue Formen der Vergemeinschaftung, den Wunsch, sich als soziales Wesen erleben zu können, weg zu gehen aus der abgeschotteten, muffigen Privatheit des vergangenen Jahrhunderts. Nach der Erkenntnis von Ulf Matthiesen paart sich diese Tendenz auch mit dem Streben, Verantwortung für die Stadt zu übernehmen. In seinen Untersuchungen entdeckt der Berliner Ethnologieprofessor ein vollkommen Neues Verhältnis der Städter zu ihrer Umgebung, zur Landschaft, zum Boden. Mitten in Berlin, in Kreuzberg, besetzen Bürger nicht mehr Häuser, sondern Brachflächen und bauen dort Pflanzen zur Selbstversorgung oder Vermarktung für die Gastronomie an.
"Man kann es nicht mehr in diese klassische Dualismusform von Stadt versus Land eintüten. Es sind natürliche städtische Formen des Gärtnerns. Urban Gardening heißt das auch. Da wird durchaus die Tradition der Landschaftsgärten in die Stadt. Also es ist nicht das Leben der Bauern übertragen in die Stadt geholt. Sondern es ist ein eigenständiger Mischprozess, in dem Garten und Stadt eine neue Liaison eingehen."
Aus New York stammt diese Bewegung, Brachflächen nutzbar zu machen, indem als erster Schritt zur Landnahmen Samenmischungen als so genannte Seedbombs über die Zäune geworfen werden. In den USA wie auch hierzulande sind diese Akteure inzwischen von den Behörden anerkannt, werden von Sponsoren wie Freiwilligen unterstützt: Gemüsegärtner mitten in der City.
"Ich würde sie Raumpioniere bezeichnen, weil sie aus der Funktion gefallene Brachflächen, einer anderen Nutzung, an die vorher und so niemand gedacht hat, zuführen. Es ist offensichtlich auch für die Wissenschaftler, die mit Stadt zu tun haben, ein völlig überraschender Prozess, dass plötzlich Landschaft, Gartenlandschaft in der Stadt eine so hohe Priorität bekommt. Und plötzlich ist es über Internetforen eine enorm dynamische, sich weltweit bewegende Netzcommunity, die das vorantreibt. Überall."
Für die ethnologische Stadtforschung ist das eine Neuheit – zu entdecken, wie Phänomene binnen kürzester Frist von einem Kontinent auf den anderen getragen werden. Kaffee to go, Strand in der Stadt, Lümmeln in Liegestühlen – das ist in jeder Weltstadt angesagt, mancherorts allerdings noch verschämt und obendrein einer höheren Umweltverschmutzung ausgesetzt. Und so wie die Großstädter sich weltweit gegenseitig inspirieren, holen sich die Wissenschaftler vom Institut für Europäische Ethnologie Anregungen von Kollegen verwandter Disziplinen. Welche ethnologischen Zugänge zur Stadt nutzen etwa Soziologen und Historikern in ihren Forschungen? Juniorprofessorin Alexa Färber konzipierte die Kolloquiumsreihe und will über die einzelnen Akteure hinaus auch deren Verbindungen untereinander und zu ihrer städtischen Umwelt betrachten. Für sie ist klar – auch Gebäude und materielle Arrangement beeinflussen das Erleben der Großstädter:
"Das ist ein Ansatz, der relativ neu in seiner Anwendung auf Stadt ist und eigentlich auch bis jetzt in Verkehrsmittel eingesetzt wird und vor allem in Bezug auf Gebäude. Für uns stellte sich die Frage, wie können wir das auf noch mehr Elemente der Stadt beziehen und vielleicht eine Akteurnetworktheorie der Stadt machen."
Welche neuen Sichten sich damit auf ethnologische Phänomene der Stadt ergeben, führt Ignacio Farias vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin vor. Er untersucht, wodurch Touristen eine Stadt erleben.
"Man muss sich vor allem damit beschäftigen, wie Tourismus als soziomaterieller Prozess bestimmte Assoziation zwischen Menschen, Körpern, Straßen, Gebäuden usw. produziert, genau so, dass das touristischen Gefühl für diesen Ort entstehen kann. Aber ein Ort, wird nicht von dem Tourismus sagen wir kolonialisiert oder monopolisiert. Es ist eher eine virtuelle Ebene, die in diesen Ort entsteht durch diese Assoziationen zwischen den unterschiedlichen Elementen."
Ignacio Farias nennt als Beispiel Bustouren durch Berlin. Es macht einen Unterschied im Erleben aus, ob man einen professionellen Sight sighing Tripp möglicherweise auf dem Obendeck eines Doppeldeckerbusses unternimmt und ob man dabei von einer Person oder einem Audio-Guide die wichtigsten Informationen erhält. Oder ob man sich mit einer öffentlichen Buslinie und einem Reiseführer in der Hand selbst die Stadt erschließt.
"Und das Interessante ist, die Ethnologen haben immer gedacht, dass die Assoziationen zwischen den Elementen vor allem diskursiv oder symbolisch produziert werden, also dass ein bestimmter Diskurs die Stadt konstruiert. Aber wenn man sich das als Ethnologe anguckt, muss man verstehen, dass diese Assoziationen auch materielle Assoziationen sind."
Als Touristen werden immer die Anderen, die Fremden wahrgenommen. Dabei sind Großstädter in vielen Teilen der Stadt selbst Touristen. Und noch etwas zeichnet Großstädter aus: Sie sind in aller Regel Migranten, zugereist aus Dörfern, anderen Städten, anderen Ländern. Für die Ethnologen ist klar – die Stadt entstand erst durch Zuwanderung. Sabine Hess von der Ludwig Maximilians Universität München forscht als Ethnologin in der Bayrischen Metropole. Im 18. und 19. Jahrhundert erbauten zugereiste Italiener die Paläste der Stadt, im letzten Jahrhundert Gastarbeiter das Olympiastadion, die U-Bahn. 35 Prozent der Menschen haben migrantischen Hintergrund. Dennoch wird ihre gestalterische Kraft nicht wahrgenommen:
"Sie wird sogar delegitimiert beziehungsweise kriminalisiert und skandalisiert. Wir haben so einen Busplatz untersucht, der vor allem München mit anderen osteuropäischen Nationen verbindet. Da darf man nicht genau fragen, wer hat einen Pass und wer hat keinen und was über diesen Busplatz alles mitgeschickt wird und wer da alles unterwegs des Weges transportiert wird. Diese Praktiken haben eine ungeheuere Kraft. Sie verbinden Städte, Regionen, Dörfer. Sie stellen vor allem für entlegene Regionen dieser Welt einen wahnsinnigen Entwicklungsfaktor dar und auf der anderen Seite als illegal skandalisiert."
Je nach Zuordnung und Rechnung verfügen heute 25 bis 40 Millionen Deutsche über einen migrantischen Hintergrund. In dem sie mobile Lebensformen und transnationale Lebensweisen entwickeln, verkörpern sie eine hohe soziale Kompetenz. Quasi "von unten" gestalten sie die Globalisierung. Spuren hinterlassen sie gerade in jenen deutschen Stadtvierteln, die als Brennpunktgegenden abgewertet werden, meint Sabine Hess
"Wenn man einen langen Zyklus anguckt und anguckt, welche Stadtgebiete in den 70er und 80er Jahren aufgegeben wurden – wie auch in Kreuzberg. Das ist auch gut um zu zeigen, was heute ein vibrierendes In-Viertel ist, nachgefragt. Die Nachfrage ist nur entstanden, weil da Menschen ausgeharrt haben, die dann irgendwann, da muss man genauer schauen, wann das umschlug, die dann hipp wurden und neue Läden nach sich zogen, die alten Läden wurden renoviert, das Kapital florierte mehr. Und in diesem Umfeld sind Migranten ganz klar als Sanierer und Erneuerer zu begreifen, die da mit wenig Kapital und viel Personaleinsatz ausharren."
Wie funktioniert ein Automarkt westafrikanischer Händler in einer deutschen Großstadt? Wie agieren muslimische Frauen, die ein Gemeindezentrum gründen wollen? Mit solchen Forschungsprojekten untersuchen Ethnologen die Art und Weise, wie Migranten urbanes Leben beeinflussen. Dabei geht es nicht zuerst darum, woher sie kommen, sondern welche Praxis sie gestalten. Einige der Ethnologen gehen deshalb so weit, auch die Bezeichnung für ihr Fach korrigieren zu wollen. Sie wollen zeigen, dass es auf die Handlungsmächtigkeit der Menschen ankommst, nicht auf Nationalitäten und Ethnien. Deshalb schlagen sie vor, ihr Fach "Praxiografie" zu nennen. Eine kontrovers diskutierte Idee. Für Alexa Färber ist es wichtiger, Stadt ethnographisch beobachtend und reflektierend zu durchdringen und dieses Wissen ihren Bewohnern zugänglich zu machen:
"Ich habe immer den Eindruck, Menschen vergessen, wie gut sie mit Differenz auskommen, sobald sie lesen, dass es da irgendwie ein Problem geben muss. Ich glaube, es steckt so viel drin in gelebter urbaner Alltagskompetenz, die es sich auch lohnt, sichtbar zu machen und für andere zugänglich zu machen und zu verstehen."