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Im Gespräch mit Zeitzeugen
Der andere Geschichtsunterricht

Geschichte mag manchmal dröge im Schulunterricht sein. In Herne will man dieses Bild abschütteln und dem Fach Leben einhauchen. Dafür kommen Zeitzeugen in die Schule und erzählen vom Überleben im Zweiten Weltkrieg. Rund 70 Schüler aus der zehnten Klasse hörten gespannt zu.

Von Kai Rüsberg | 09.11.2017
    Oswald Stein (91, l) und Lee Edwards (93, r) sitzen am 21.03.2017 in Frankfurt am Main (Hessen) in einem Klassenzimmer des Heinrich von Gagern-Gymnasiums vor den Schülern. Beide berichteten als Zeitzeugen über ihre Erlebnisse und die "Kindertransporte" in der Nazi-Zeit, mit deren Hilfe tausende Mädchen und Jungen Deutschland in Richtung Großbritannien verlassen konnten und so gerettet wurden.
    Ein Zeitzeugen-Projekt - hier in einem Klassenzimmer des Heinrich von Gagern-Gymnasiums in Frankfurt am Main (dpa/picture-alliance/Frank Rumpenhorst)
    Ein Dutzend Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs sind der Einladung von Horst Spieckermann in die Herner Gesamtschule gefolgt. Drei Stunden werden sie den Schülerinnen und Schülern aus ihrer Vergangenheit berichten.
    "Die vermitteln alles das, was nicht in den Geschichtsbüchern steht, so was die erlebt haben. Es ist so, als wenn die Enkel fragen: Oma oder Opa, erzählt mal, wie war das?"
    Der geschichtsinteressierte Herner Rentner kam auf die Idee mit den Zeitzeugengesprächen, als er vor einigen Jahren einen Zeitungsbericht über einen über 100 Jahre alten Franzosen las. "Der war der letzte noch lebende aktive Soldat im Ersten Weltkrieg. Der ist an die Schule gegangen und hat aus seinen Erlebnissen erzählt. Sein Fazit war, er weiß bis heute noch nicht, warum wir aufeinander geschossen haben."
    In der kleinen Aula sitzen jeweils sechs bis acht Schüler an kleinen Tischen. Eine kurze Ansprache, ein paar Takte Klaviermusik, dann geht es los:
    "Mein Name ist Helga Schellack, ja was wollt ihr wissen? Ich werde nächstes Jahr 80."
    "Ich habe gehört, Sie sind eine Bergmannsfrau. Das interessiert mich"
    "Ich hab ihn geheiratet und die Bergwerke fünf Mal von unten gesehen. So richtig mit jungen Burschen mit Muckis, die mit der Bohrmaschine gearbeitet haben."
    Kinderlandverschickung und Flucht
    Am Nachbartisch berichtet der 81-jährige Willy Görmann aus Wanne-Eickel über die Kinderlandverschickung in Pommern und wie er als Neunjähriger von dort fliehen musste.
    "Alle wollten weg. Die wollten nur nicht den Russen in die Hände fallen. Sind wir Anfang März, am 7. März, bei 15 Grad minus, zu Fuß bei Eis und Schnee, nur Klamotten an. Meine Mutter hatte schon gleich Köfferchen, wo ihre Papiere drin waren, sonst nichts"
    Sein Flucht war dramatisch, der Landweg abgeschnitten, es blieb nur eine gefährliche Fahrt über die Ostsee.
    "Der Kapitän wollte auslaufen, nachts, weil die Russen waren schon in der Nähe. Die Granaten und sah schon am Horizont das Feuer. Also mit List und Tücke auf das Schiff gekommen und dieser Frachter, der hat normalerweise 25 bis 30 Leute als Besatzung. Wir waren 2000 nachher."
    Willy Görmann aus Wanne-Eickel berichtet über seine Erfahrungen - die Schüler hören zu.
    Willy Görmann aus Wanne-Eickel berichtet über seine Erfahrungen (Kai Rüsberg)
    Mehr als eine halbe Stunde hören die 8 Schüler am Tisch gebannt zu. Obwohl es laut um sie herum ist, lauschen sie konzentriert seinen Erinnerungen. Fragen kommen zunächst keine.
    "Wir waren 8 Tage unterwegs, dazwischen war immer U-Bootalarm, dann Fliegeralarm. Dann hieß es immer Ruhe auf dem Schiff, Lichter alle aus. Lagen oben an Deck bei 15 Grad minus und Schnee und da war Stroh ausgelegt und darauf haben wir gelegen - so war das."
    Empathie und tieferes Verständnis
    Willy Görmann hat auch Originaldokumente und Fotos mitgebracht - vom Vater, der bei der Marine war. Banale Verwaltungsbelege, wie die Genehmigung zum Landgang, lassen zusammen mit seiner Schilderung ein lebendiges Bild der Zeit entstehen. Spontan wollen die 15 oder 16-jährigen Schüler die vergilbten Dokumente für die Nachwelt sichern: "Das interessiert uns ja auch sehr und ich würde meinen Kindern das auch gerne weitergeben und auch erzählen. Aber wenn uns die Materialien fehlen und ich den das nicht zeigen kann, dann ist das bisschen schwer."
    Als die Plätze nach einer Stunde gewechselt werden, können sich Zeitzeugen und Schüler kaum voneinander trennen. Josephine Gröning und Leyla Bayır sind fasziniert von dem Treffen mit den Zeitzeugen.
    "Ich fand es sehr interessant zu hören, den Fluchtweg, wie die so von Land zu Land immer und auch die Wege, wie die das gemacht haben, mit den Schiffen und auch noch mal zu hören, wie das genau war und die Gefühle von den Leuten."
    "Ich finde interessant, dass man sich damals für etwas anderes interessiert hat, auch über Kleinigkeiten gefreut hat."
    Das Zeitzeugentreffen leistet somit etwas, was Gesellschaftskunde- oder Geschichtsunterricht nicht so einfach erreichen: die Jugendlichen sich gedanklich in die Situation einfühlen zu lassen, bei ihnen Empathie zu erzeugen - und damit ein möglicherweise tieferes Verständnis.