Jasper Barenberg: Beginnen wollen wir aber mit einer Meldung aus dem Irak, die einige Fragen aufwirft. Nur einen Tag nach dem Abzug der US-Truppen scheinen dort Konflikte innerhalb der Regierung in unerwarteter Schärfe wieder aufzubrechen. Ein Indiz dafür: gegen den stellvertretenden Präsidenten Tarik al Haschemi wurde offenbar ein Haftbefehl erlassen – eine Meldung, die aufhorchen lässt, weil Haschemi zu den Sunniten gehört, Ministerpräsident Al-Maliki dagegen Schiit ist und Präsident Talabani Kurde. In den letzten Jahren haben die USA immer wieder zu vermitteln versucht zwischen den Parteien, der Kurden, der Schiiten und der Sunniten im Irak. Wir wollen darüber in den nächsten Minuten mit Jochen Hippler sprechen, dem Politikwissenschaftler und Friedensforscher, unter anderem tätig an der Universität Duisburg und intensiv beschäftigt mit dem Nahen Osten, unter anderem mit Fragen der politischen Formen von Religiosität. Schönen guten Tag, Herr Hippler.
Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Barenberg.
Barenberg: Erleben wir jetzt, wie dort alte Gräben wieder aufbrechen?
Hippler: In gewissem Sinne schon. Diese Gräben sind besonders nach dem Krieg von 2003 und folgende entstanden, in dieser fürchterlichen Bürgerkriegssituation Mitte des Jahrzehnts. Sie sind dann so ein bisschen zurückgetreten und im letzten Jahr, kann man vielleicht sagen, nach der letzten Parlamentswahl, verschärfen sie sich wieder. Und das ist jetzt wirklich die nächste Runde, die halt tatsächlich für viele etwas überraschend kommt.
Barenberg: Überraschend, oder war das erwartbar, nachdem die USA abziehen und – ich habe es eben erwähnt; ich weiß nicht, ob Sie die Einschätzung teilen – dass die USA jedenfalls dafür gesorgt haben, dass sie eine Art Puffer bilden zwischen den verschiedenen Parteien?
Hippler: Ja, das ist sicher zutreffend. Das Überraschende ist eben die bestimmte Form. Dass es halt zunehmende Konflikte zwischen Kurden und arabischen Politikern gegeben hat, zwischen den beiden verschiedenen großen arabischen Bevölkerungsteilen von Schiiten und Sunniten, das ist eigentlich zu erwarten gewesen. Aber dass es jetzt so einen Dreh kriegt, dass die Spitze des Staates, der Ministerpräsident vorgehen lässt gegen einen der beiden Vizepräsidenten des Landes, das ist dann in der Form die Überraschung gewesen, nicht die Sache an sich.
Barenberg: Das Weiße Haus, die Regierung in Washington äußert sich schon besorgt, spricht von einer politischen Krise im Irak. Wie groß ist Ihre Besorgnis?
Hippler: Das ist ein Ausdruck einer tiefer liegenden Krise. Das Problem besteht nicht so sehr in diesen persönlichen Fragen, ob jetzt dieser Vizepräsident Verbrechen begangen hat oder nicht. Das Problem besteht darin, dass es immer noch nicht gelungen ist, den irakischen Staatsapparat auf feste Füße zu stellen. Wir haben immer noch Spaltungen innerhalb des Staates, wo bestimmte Milizen, bestimmte auch konfessionelle Richtungen Teile des Staatsapparates sich herausbrechen, sozusagen als Beute benutzen und dann auch benutzen, andere ethnische Gruppen oder andere konfessionelle Gruppen damit zu bedrängen. Das ist mehr so ein Grundproblem, dass der Staatsapparat noch sehr zersplittert ist, noch nicht wirklich an einem Strang zieht, und der Ausdruck, der ist dann manchmal in solchen einzelnen Krisen ... Es gab letztes Jahr und vorletztes Jahr mehrmals fast kriegerische, fast gewaltsame Zusammenstöße um die Stadt Kirkuk zwischen kurdischen und arabischen Gruppen. Dieses Mal ist es eben wirklich die alte Rechnung, die gegen sunnitische Politiker jetzt von Herrn Maliki beglichen wird.
Barenberg: Sie sprechen in einem Aufsatz von der Ethnisierung, von der Konfessionalisierung des Irak, und Sie haben die These aufgestellt, dass das keine Selbstverständlichkeit ist in dem Land, sondern dass das erst politisch hergestellt ist. Können Sie uns das ein wenig erklären?
Hippler: Ja. Wissen Sie, wir denken immer, es gibt halt Schiiten, Sunniten und Kurden, und die sind so halbwegs geschlossene politische Einheiten. Aber das ist natürlich nicht der Fall, und häufig sind diese konfessionellen Gruppen, also etwa Schiiten, Sunniten, eher kulturell und nicht religiös gemeint. Ich erinnere mich zum Beispiel an Gespräche in der Stadt Nadschaf im Irak - das wichtigste Heiligtum der Schiiten ist da -, wo mir viele Schiiten mit großen leuchtenden Augen sagten, die Blütezeit der Schiiten im Irak wäre eben die kommunistische Partei gewesen. Und das ist ein bisschen verwirrend, weil die natürlich nicht religiös geprägt gewesen ist, die kommunistische Partei, aber sie hat eben viele Schiiten organisiert, die wirtschaftlich schwach waren, die marginalisiert an den Rand gedrückt waren, und viele Schiiten betrachteten damals die Kommunisten zu Beginn von Saddams Zeit als ihren Ausdruck. Also wenn wir über so Konfessionsgruppen sprechen, dann sollten wir es nicht immer theologisch meinen, und diese haben einfach auch zugenommen im Zuge des Bürgerkrieges, weil verschiedene Politiker dann auf die religiöse Karte gesetzt haben, weil verschiedene Gruppen dann sich als Ober-Schiiten, als besonders schiitisch, besonders sunnitisch dargestellt haben, während viele Menschen sich eher als Iraker oder eher als Muslime, aber nicht so sehr als Konfessionsmitglieder wahrgenommen haben.
Barenberg: Religion also als Instrument im Kampf um die Macht. Das kennen wir ja auch aus anderen Gegenden der Welt. Wie groß beurteilen Sie die Gefahr für die Einheit des Landes jetzt nach dem Abzug der USA?
Hippler: Ich glaube, dass es jetzt wirklich sich in den nächsten zwei Jahren mit entscheiden wird. Wir haben immer noch im kurdischen Norden Bedürfnisse, die Autonomie bis über die Schwelle der Unabhängigkeit zu verstärken. Das erfordert aber wahrscheinlich als wirtschaftliche Basis das Öl des Nordiraks, und das liegt in Kirkuk. Da wird es dann möglicherweise Konflikte geben. Wir haben im Moment Versuche im Süden des Iraks, durch extremistische schiitische Gruppen um Mukdar el Sadr, Gegenstaatlichkeit aufzubauen, wo eben diese Miliz auch wieder versucht, sich sozusagen am Staat vorbei als Gegenstaat zu organisieren. Ich glaube, dass im Moment wirklich die Frage ist, ob die Lähmung, die wir seit den letzten Wahlen haben – denken Sie daran, dass es neun Monate gedauert hat, bis es eine neue Regierung gab nach den Wahlen und dass seitdem wirklich sich nichts mehr bewegt, dass wirklich alles gelähmt ist in der politischen Ebene und die wichtigen Fragen nicht entschieden werden -, wenn diese Situation der Lähmung noch ein, zwei Jahre weitergeht, dann besteht wirklich die Gefahr, dass es wieder mehr Gewalt geben wird und dass es möglicherweise auch zu einer Schwächung des Staates, oder zu Abspaltungen kommen könnte.
Barenberg: Sie haben ja davon gesprochen, dass es jedenfalls bemerkenswert ist, dass die Konflikte, über die wir sprechen, jetzt auch gleich an der Staatsspitze, an der Regierungsspitze aufgebrochen sind. Was schützt das Land dann vor einem neuen Bürgerkrieg noch?
Hippler: Im Moment noch eine Überlappung von gemeinsamen Interessen – in dem Sinne, dass etwa die Bedürfnisse von Kurden, aus dem Land auszusteigen, abgewogen werden. Einerseits hätte man dieses Interesse auf einer allgemeinen Ebene, andererseits aber ist das mit Risiken verbunden, dass die Türkei dann einen kurdischen Staat nicht tolerieren würde, dass auch man Konflikte mit den arabischen Bürgern kriegen würde. Und gleichzeitig, solange man aber den Staatspräsidenten stellt, wie Herrn Talabani, und Zugriff auf manche staatlichen Machtpositionen hat, ist natürlich der Anreiz der Abspaltung geringer. Ähnliches gilt eben auch für die anderen Bevölkerungsgruppen. Das heißt, man wägt den eigenen Spielraum ab, den man in diesem Staat hat. Die Gefahr ist aber tatsächlich, dass im Moment die verschiedenen Gruppen drin gehalten werden in diesem gemeinsamen Staatsverband, weil sie sich jeweils die Taschen vollstecken können mit Geld, mit Jobs, mit Möglichkeiten von klientelistischen Netzwerken, und das ist einerseits, sagen wir mal, Staatszusammenhalt durch eine Art von Bestechung, aber das ist natürlich mittelfristig lähmend für einen Staat und macht ihn nicht handlungsfähig.
Barenberg: Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Jochen Hippler heute Mittag hier in den "Informationen am Mittag". Herr Hippler, danke für das Gespräch.
Hippler: Sehr gerne, Herr Barenberg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Jochen Hippler: Guten Tag, Herr Barenberg.
Barenberg: Erleben wir jetzt, wie dort alte Gräben wieder aufbrechen?
Hippler: In gewissem Sinne schon. Diese Gräben sind besonders nach dem Krieg von 2003 und folgende entstanden, in dieser fürchterlichen Bürgerkriegssituation Mitte des Jahrzehnts. Sie sind dann so ein bisschen zurückgetreten und im letzten Jahr, kann man vielleicht sagen, nach der letzten Parlamentswahl, verschärfen sie sich wieder. Und das ist jetzt wirklich die nächste Runde, die halt tatsächlich für viele etwas überraschend kommt.
Barenberg: Überraschend, oder war das erwartbar, nachdem die USA abziehen und – ich habe es eben erwähnt; ich weiß nicht, ob Sie die Einschätzung teilen – dass die USA jedenfalls dafür gesorgt haben, dass sie eine Art Puffer bilden zwischen den verschiedenen Parteien?
Hippler: Ja, das ist sicher zutreffend. Das Überraschende ist eben die bestimmte Form. Dass es halt zunehmende Konflikte zwischen Kurden und arabischen Politikern gegeben hat, zwischen den beiden verschiedenen großen arabischen Bevölkerungsteilen von Schiiten und Sunniten, das ist eigentlich zu erwarten gewesen. Aber dass es jetzt so einen Dreh kriegt, dass die Spitze des Staates, der Ministerpräsident vorgehen lässt gegen einen der beiden Vizepräsidenten des Landes, das ist dann in der Form die Überraschung gewesen, nicht die Sache an sich.
Barenberg: Das Weiße Haus, die Regierung in Washington äußert sich schon besorgt, spricht von einer politischen Krise im Irak. Wie groß ist Ihre Besorgnis?
Hippler: Das ist ein Ausdruck einer tiefer liegenden Krise. Das Problem besteht nicht so sehr in diesen persönlichen Fragen, ob jetzt dieser Vizepräsident Verbrechen begangen hat oder nicht. Das Problem besteht darin, dass es immer noch nicht gelungen ist, den irakischen Staatsapparat auf feste Füße zu stellen. Wir haben immer noch Spaltungen innerhalb des Staates, wo bestimmte Milizen, bestimmte auch konfessionelle Richtungen Teile des Staatsapparates sich herausbrechen, sozusagen als Beute benutzen und dann auch benutzen, andere ethnische Gruppen oder andere konfessionelle Gruppen damit zu bedrängen. Das ist mehr so ein Grundproblem, dass der Staatsapparat noch sehr zersplittert ist, noch nicht wirklich an einem Strang zieht, und der Ausdruck, der ist dann manchmal in solchen einzelnen Krisen ... Es gab letztes Jahr und vorletztes Jahr mehrmals fast kriegerische, fast gewaltsame Zusammenstöße um die Stadt Kirkuk zwischen kurdischen und arabischen Gruppen. Dieses Mal ist es eben wirklich die alte Rechnung, die gegen sunnitische Politiker jetzt von Herrn Maliki beglichen wird.
Barenberg: Sie sprechen in einem Aufsatz von der Ethnisierung, von der Konfessionalisierung des Irak, und Sie haben die These aufgestellt, dass das keine Selbstverständlichkeit ist in dem Land, sondern dass das erst politisch hergestellt ist. Können Sie uns das ein wenig erklären?
Hippler: Ja. Wissen Sie, wir denken immer, es gibt halt Schiiten, Sunniten und Kurden, und die sind so halbwegs geschlossene politische Einheiten. Aber das ist natürlich nicht der Fall, und häufig sind diese konfessionellen Gruppen, also etwa Schiiten, Sunniten, eher kulturell und nicht religiös gemeint. Ich erinnere mich zum Beispiel an Gespräche in der Stadt Nadschaf im Irak - das wichtigste Heiligtum der Schiiten ist da -, wo mir viele Schiiten mit großen leuchtenden Augen sagten, die Blütezeit der Schiiten im Irak wäre eben die kommunistische Partei gewesen. Und das ist ein bisschen verwirrend, weil die natürlich nicht religiös geprägt gewesen ist, die kommunistische Partei, aber sie hat eben viele Schiiten organisiert, die wirtschaftlich schwach waren, die marginalisiert an den Rand gedrückt waren, und viele Schiiten betrachteten damals die Kommunisten zu Beginn von Saddams Zeit als ihren Ausdruck. Also wenn wir über so Konfessionsgruppen sprechen, dann sollten wir es nicht immer theologisch meinen, und diese haben einfach auch zugenommen im Zuge des Bürgerkrieges, weil verschiedene Politiker dann auf die religiöse Karte gesetzt haben, weil verschiedene Gruppen dann sich als Ober-Schiiten, als besonders schiitisch, besonders sunnitisch dargestellt haben, während viele Menschen sich eher als Iraker oder eher als Muslime, aber nicht so sehr als Konfessionsmitglieder wahrgenommen haben.
Barenberg: Religion also als Instrument im Kampf um die Macht. Das kennen wir ja auch aus anderen Gegenden der Welt. Wie groß beurteilen Sie die Gefahr für die Einheit des Landes jetzt nach dem Abzug der USA?
Hippler: Ich glaube, dass es jetzt wirklich sich in den nächsten zwei Jahren mit entscheiden wird. Wir haben immer noch im kurdischen Norden Bedürfnisse, die Autonomie bis über die Schwelle der Unabhängigkeit zu verstärken. Das erfordert aber wahrscheinlich als wirtschaftliche Basis das Öl des Nordiraks, und das liegt in Kirkuk. Da wird es dann möglicherweise Konflikte geben. Wir haben im Moment Versuche im Süden des Iraks, durch extremistische schiitische Gruppen um Mukdar el Sadr, Gegenstaatlichkeit aufzubauen, wo eben diese Miliz auch wieder versucht, sich sozusagen am Staat vorbei als Gegenstaat zu organisieren. Ich glaube, dass im Moment wirklich die Frage ist, ob die Lähmung, die wir seit den letzten Wahlen haben – denken Sie daran, dass es neun Monate gedauert hat, bis es eine neue Regierung gab nach den Wahlen und dass seitdem wirklich sich nichts mehr bewegt, dass wirklich alles gelähmt ist in der politischen Ebene und die wichtigen Fragen nicht entschieden werden -, wenn diese Situation der Lähmung noch ein, zwei Jahre weitergeht, dann besteht wirklich die Gefahr, dass es wieder mehr Gewalt geben wird und dass es möglicherweise auch zu einer Schwächung des Staates, oder zu Abspaltungen kommen könnte.
Barenberg: Sie haben ja davon gesprochen, dass es jedenfalls bemerkenswert ist, dass die Konflikte, über die wir sprechen, jetzt auch gleich an der Staatsspitze, an der Regierungsspitze aufgebrochen sind. Was schützt das Land dann vor einem neuen Bürgerkrieg noch?
Hippler: Im Moment noch eine Überlappung von gemeinsamen Interessen – in dem Sinne, dass etwa die Bedürfnisse von Kurden, aus dem Land auszusteigen, abgewogen werden. Einerseits hätte man dieses Interesse auf einer allgemeinen Ebene, andererseits aber ist das mit Risiken verbunden, dass die Türkei dann einen kurdischen Staat nicht tolerieren würde, dass auch man Konflikte mit den arabischen Bürgern kriegen würde. Und gleichzeitig, solange man aber den Staatspräsidenten stellt, wie Herrn Talabani, und Zugriff auf manche staatlichen Machtpositionen hat, ist natürlich der Anreiz der Abspaltung geringer. Ähnliches gilt eben auch für die anderen Bevölkerungsgruppen. Das heißt, man wägt den eigenen Spielraum ab, den man in diesem Staat hat. Die Gefahr ist aber tatsächlich, dass im Moment die verschiedenen Gruppen drin gehalten werden in diesem gemeinsamen Staatsverband, weil sie sich jeweils die Taschen vollstecken können mit Geld, mit Jobs, mit Möglichkeiten von klientelistischen Netzwerken, und das ist einerseits, sagen wir mal, Staatszusammenhalt durch eine Art von Bestechung, aber das ist natürlich mittelfristig lähmend für einen Staat und macht ihn nicht handlungsfähig.
Barenberg: Der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Jochen Hippler heute Mittag hier in den "Informationen am Mittag". Herr Hippler, danke für das Gespräch.
Hippler: Sehr gerne, Herr Barenberg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.