Dreidimensional wie ein schwarzer Kubus hebt sich der Schatten von der lichtgemusterten Wand ab. Als lehne an der frühlingslichten Fläche eine Art Kaaba. Oder als öffne sich im Lichtraum das Tor zur Unterwelt oder wohin auch immer. Dabei ist alles nur das Spiel von Sonnenlichtreflexen in einem Wohnraum. Die Holzdielen sind zu sehen, sogar die Fußleiste. Dennoch bleibt diese Fotografie auf dem Einband von Péter Nádas' Foto- und Erzählungsband "Lichtgeschichte" in der Schwebe. Ruhe, Leichtigkeit und etwas Unheimliches gehen von ihr aus, zudem eine Materialität, als könne man Licht, Schatten, Holz und die Oberfläche der Wandverputzung mit den Fingerkuppen abtasten.
"Der Schatten des Sessels am Sommernachmittag" heißt die Arbeit aus dem Jahr 2001. Rätselhaft, festlich, programmatisch eröffnet sie den Reigen lyrischer Momentaufnahmen des Lichts – fast alle entstanden um die Jahrtausendwende. Am Anfang aber eine 40-seitige Erzählung: "Aufleuchtende Details. Der Abschied eines greisen Lichtbildners von der analogen Fotografie". Akahito heißt dieser Lichtbildner. Als junger Soldat hatte er noch unter Tränen der Kapitulationsrede Kaiser Hirohitos am Lautsprecher gelauscht. Jetzt im Greisenalter sitzt Akahito meist in seinem kleinen Garten.
Akahito setzte sich auf die Bank, jedoch nicht so, daß er auf den Teich blickte, sondern daß er ihm den Rücken zukehrte. So waren seine Augen auf den weiter entfernten Bach gerichtet, der am Fuße des Gartens zwischen hochgewachsenen Wasserpflanzen dahinplätscherte. Aber man hätte nicht sagen können, was er sah. Es bedarf keiner Aufmerksamkeit, damit das Auge sieht. Vielleicht wusste er selbst nicht, was er sah. Seit einiger Zeit fiel es ihm schwer, zwischen innerem und äußerem Geschehen zu unterscheiden.
Akahito ist keine historische Figur, er erweist sich im Verlaufe der Erzählung als Péter Nádas' Alter Ego, wie auch Akahitos Meister, eine alter, verbitterter, böser Mann, und wie der Erzähler selbst. Nádas entwickelt mittels dieser drei Figuren die Summe seiner Ansichten zur Fotografie.
Wenn unsere Aufmerksamkeit neutral bleibt, wenn wir gerade gar nichts wollen, nicht einmal schauen, folgen wir doch unwillkürlich, instinktiv den Wegen von Licht und Schatten. Im Bruchteil einer Sekunde erfassen wir die dunkelsten und hellsten Partien des Raumes. (…) Tatsächlich reicht der Bruchteil eines Augenblicks aus; dicht auf die Wahrnehmung folgt die Erkenntnis, und im Moment der Erkenntnis ist das Bild fertig. Auch wenn wir nur ganz selten wissen, was wir erkannt haben. Man kann über ein Bild nachdenken, aber ein Bild ist nicht etwas, das aus Gedanken bestünde. Man hat sich daran gewöhnt, nach seiner Aussage zu fragen. Wenn er so etwas hörte oder jemand sagte, daß er ein Bild nicht verstand, tobte Meister Akahito. Wenn sie es nicht verstehen, sollen sie es wohl nicht verstehen, schrie er. Anschauen sollen sie es. Sie sollten sich freuen, es nicht zu verstehen. Ein Bild muß man nicht verstehen, sondern sehen.
Akahito fotografiert seit Jahrzehnten ohne Fotoapparat und "ausschließlich auf den Hirnstamm", wie es an einer Stelle heißt. Die Physiologie des Sehapparates untersucht Nádas' Erzähler, die "evolutionären Schichten der sinnlichen Perzeption", von den das Protoplasma der Zellen durchziehenden Neurofibrillen, über die Sehzellenbündel der Plattwürmer bis zu den Zapfen und Bündel von Stäbchen bei den Wirbeltieren. Mit einem Satz ist der Text dann bei Sokrates und Platons Höhlengleichnis, bei der Fotografiegeschichte und den großen Könnern ihres Fachs: Capa, Cartier-Bresson, Brassai. Und immer wieder donnert Akahitos böser alter Meister mit prophetischem Zorn in die kundige, akribische und Erd- und Kulturgeschichte umfassende Lehrstunde:
Er schimpfte seine Schüler Hurensöhne, Ochsen, Mißgeburten, räudige Hunde, Plattköpfe, die nichts anderes könnten als fressen, kopulieren, sich entleeren, morden, vor Götzen kriechen, und nichts anderes wollten als Geld, nur Geld, betrügen, stehlen und fälschen, aber nicht das Geringste von der Schöpfung verstünden.
Der heilige Zorn der Erzählung führt in biblische und mystische Regionen:
Wer sich nicht mit dem Zusammenhang von zart diffusem Licht, Blendlicht, Gegenlicht und Aufhelllicht beschäftigt, sondern mit den Dingen an sich, mit dem Ursprung des Lichts, der Quelle des Lichts, der Wirklichkeit des Lichts, der zieht den Kürzeren. Also gebt auf euer Augenlicht acht, ihr kleinen Scheißer. (…) Das soll das Credo sein und bleiben. Im Universum der Bildgestaltung soll die Stelle Gottes für immer weiß bleiben. Eine mit menschlichem Auge nicht mehr interpretierbare Leere.
Die folgenden analogen Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografien und Polaroid-Aufnahmen tasten das Licht ab, wie es sich auf Wegen, Pflanzen, Wänden und Möbeln niederschlägt. Nach der Lektüre der Akahito-Erzählung wirken sie wie Wahrnehmungen auf den Sehnerven im Augapfel des Fotografen, wie das elektrochemische Funkeln seines Hirnstammes. Und zugleich sind sie von haptischer Natur. Die Druckfarbe etwa der in Rembrandtsches Dunkelbraun getauchten Variationen eines Schrankes scheint die Substanzen des Motivs, Holz, Metall, Lichtwellen, förmlich in sich aufgesaugt zu haben.
Worin sich auch die drucktechnische Qualität dieses und aller vier im Nimbus-Verlag herausgegebenen Bände zeigt. Es ist ein sinnliches Vergnügen sie in die Hand zu nehmen. Der Band "Schattengeschichte", ohne Text, gefüllt mit fast 300 Schwarz-Weiß-Fotografien, greift weit zurück in die Frühzeit von Péter Nádas' Schaffen. Er eröffnet mit einem Selbstbildnis von 1960. Der Mann mit 18 Jahren. Schon damals wie auf den Hirnstamm fotografiert. Ein geheimnisvolles Bildnis, entwickelt aus dem Instinkt eines vollkommenen Augenmenschen. Denn die Linse der Linhof-Technika schaut nicht in den Spiegel, um den jungen Mann hinter ihr zu sehen, sie sieht weg. Wie Akahitos Augen sich schließen, wenn er fotografiert. Und trotzdem sehen wir Gestalt, Gesicht und eine Hand des Jünglings, wenn auch verschwommen.
Dann aber, im Folgenden, bricht die Schule des ungarischen Realismus durch, des sozialkritischen Blicks auf die Verhältnisse in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren, Bilder wie man sie zum Teil schon in Nádas' Fotoband "Etwas Licht" von 1999 gesehen hat: ausgelassene Hochzeitsfeste auf dem Land, als die Frauen noch Kopftücher und die Alten ausschließlich Schwarz trugen, als Pferde noch Pflüge zogen und Kinder barfuß durch den Lehm gingen. Bäuerliche Einfachheit, Armut, Tristesse, latente Gewalt. Péter Nádas' sicheres Gespür für den richtigen Augenblick steckt in jedem einzelnen dieser Bilder. Zudem scheint er als Beobachter für seine Umgebung unsichtbar zu sein. Seine Gegenwart trübt den Schauplatz nicht. Wo er unter anderem den ruhigen und kühlen Blick für die Wirklichkeit gelernt hat, erfährt man im Essay- und Bildband "Arbor mundi" mit 18 Texten über Maler, Bildhauer und Fotografen, hier erstmals versammelte Ausstellungskatalogtexte und Reden.
Die neuen Fotografen zogen aus den Ateliers ins Freie. Nahmen den Apparat in die Hand, sagten Nein zu allem Gestellten, genossen das starke Licht und die tiefen Schatten, die Bewegungen, die Bewegungsunschärfe, wurden neugierig auf die groben Details, blickten hinter die Schatten, blickten gar in die Nacht. Sie verachteten jede Imitation. Sie sagten den großen fotografischen Schulen des Illusionismus und Piktoralismus den Kampf an. (…) Da lebst du. In einem Land, in dem Leben oder Tod des einfachen Mannes viel weniger bedeuten als Leben oder Tod eines Haustieres. Wo die jungen Männer wie Vieh zur Front getrieben werden.
Beim Nachdenken über die Künste seiner Kollegen erfahren wir manches über Péter Nádas' eigene Bildkunst. Vor allem über den Licht-und-Schatten-Analytiker, etwa wenn er die Architekturfotografien eines Lucien Hervé unter die Lupe nimmt.
Er wischt die Sentimentalität vom Tisch und setzt reflektierte Gefühle an ihre Stelle. Die Wesen auf seinen Bildern sind fast immer einsam. Ein vereinzelter Mensch, eine fischförmige Wolke, ein weißes Pferd, ein einzelner Vogel. Im architektonischen Raum, der durch die gemeinsame Arbeit vieler Menschen entstand, wirken sie allein. In der kühlen Einsamkeit der Individualität.
Wie tief verwurzelt Péter Nádas in der Lichtbildkunst Ungarns ist, macht ein Kapitel im vierten Band, "In der Dunkelkammer des Schreibens", besonders deutlich. Mit "Seelenverwandte" hat Nádas es überschrieben. Auf manche hier abgebildete Landszenen, Stillleben, Porträts und Selbstporträts von Fotografen wie André Kertész, Kata Kálmán, Márta Rédner und Éva Besnyo scheint Nádas sich direkt zu beziehen. Außerdem weitet "In der Dunkelkammer des Schreibens" den Blick auf das gesamte fotografische und schriftstellerische Werk Nádas' und die Beziehungen zwischen beiden, vor allem aus der Sicht kluger und belesener Interpreten wie Matthias Haldemann, Zsófia Bán und Joachim Sartorius. Erste Annäherung an ein großes Werk, dem es ums Ganze geht, um Gegenwart und Geschichte, deren Verschränkung, um Zusammenhänge zwischen Physiologie, Empfindung, Geschlecht, Eros, Kultur, Politik, Individuum und Gesellschaft, wie es sein Jahrhundertroman "Parallelgeschichten" in atemberaubenden Dimensionen und akribischem Forschungsdrang entwirft.
So detailversessen und psychologisch, naturwissenschaftlich, kultur- und philosophiegeschichtlich unterfüttert wie es Péter Nádas auch auf winzigem Raum im titelgebenden Essay "Arbor mundi" über die mythopoetischen Baumformen in der Malerei Alexandre Hollans gelingt. Hollan erreiche in seiner Kunst, so Nádas, den "ewigen Augenblick".
Das universelle Verständnis erfordert, die verschiedenen räumlichen Aspekte der Makro-, Mikro- und Nanostrukturen in eins zu sehen, das heißt, holistisch zu denken.
Die vorliegenden vier hervorragend edierten Bände locken uns in den Kosmos des Holistikers Péter Nádas.
Péter Nádas:
"Lichtgeschichte"
"Schattengeschichte"
"Arbor mundi"
"In der Dunkelkammer des Schreibens"
Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee
"Der Schatten des Sessels am Sommernachmittag" heißt die Arbeit aus dem Jahr 2001. Rätselhaft, festlich, programmatisch eröffnet sie den Reigen lyrischer Momentaufnahmen des Lichts – fast alle entstanden um die Jahrtausendwende. Am Anfang aber eine 40-seitige Erzählung: "Aufleuchtende Details. Der Abschied eines greisen Lichtbildners von der analogen Fotografie". Akahito heißt dieser Lichtbildner. Als junger Soldat hatte er noch unter Tränen der Kapitulationsrede Kaiser Hirohitos am Lautsprecher gelauscht. Jetzt im Greisenalter sitzt Akahito meist in seinem kleinen Garten.
Akahito setzte sich auf die Bank, jedoch nicht so, daß er auf den Teich blickte, sondern daß er ihm den Rücken zukehrte. So waren seine Augen auf den weiter entfernten Bach gerichtet, der am Fuße des Gartens zwischen hochgewachsenen Wasserpflanzen dahinplätscherte. Aber man hätte nicht sagen können, was er sah. Es bedarf keiner Aufmerksamkeit, damit das Auge sieht. Vielleicht wusste er selbst nicht, was er sah. Seit einiger Zeit fiel es ihm schwer, zwischen innerem und äußerem Geschehen zu unterscheiden.
Akahito ist keine historische Figur, er erweist sich im Verlaufe der Erzählung als Péter Nádas' Alter Ego, wie auch Akahitos Meister, eine alter, verbitterter, böser Mann, und wie der Erzähler selbst. Nádas entwickelt mittels dieser drei Figuren die Summe seiner Ansichten zur Fotografie.
Wenn unsere Aufmerksamkeit neutral bleibt, wenn wir gerade gar nichts wollen, nicht einmal schauen, folgen wir doch unwillkürlich, instinktiv den Wegen von Licht und Schatten. Im Bruchteil einer Sekunde erfassen wir die dunkelsten und hellsten Partien des Raumes. (…) Tatsächlich reicht der Bruchteil eines Augenblicks aus; dicht auf die Wahrnehmung folgt die Erkenntnis, und im Moment der Erkenntnis ist das Bild fertig. Auch wenn wir nur ganz selten wissen, was wir erkannt haben. Man kann über ein Bild nachdenken, aber ein Bild ist nicht etwas, das aus Gedanken bestünde. Man hat sich daran gewöhnt, nach seiner Aussage zu fragen. Wenn er so etwas hörte oder jemand sagte, daß er ein Bild nicht verstand, tobte Meister Akahito. Wenn sie es nicht verstehen, sollen sie es wohl nicht verstehen, schrie er. Anschauen sollen sie es. Sie sollten sich freuen, es nicht zu verstehen. Ein Bild muß man nicht verstehen, sondern sehen.
Akahito fotografiert seit Jahrzehnten ohne Fotoapparat und "ausschließlich auf den Hirnstamm", wie es an einer Stelle heißt. Die Physiologie des Sehapparates untersucht Nádas' Erzähler, die "evolutionären Schichten der sinnlichen Perzeption", von den das Protoplasma der Zellen durchziehenden Neurofibrillen, über die Sehzellenbündel der Plattwürmer bis zu den Zapfen und Bündel von Stäbchen bei den Wirbeltieren. Mit einem Satz ist der Text dann bei Sokrates und Platons Höhlengleichnis, bei der Fotografiegeschichte und den großen Könnern ihres Fachs: Capa, Cartier-Bresson, Brassai. Und immer wieder donnert Akahitos böser alter Meister mit prophetischem Zorn in die kundige, akribische und Erd- und Kulturgeschichte umfassende Lehrstunde:
Er schimpfte seine Schüler Hurensöhne, Ochsen, Mißgeburten, räudige Hunde, Plattköpfe, die nichts anderes könnten als fressen, kopulieren, sich entleeren, morden, vor Götzen kriechen, und nichts anderes wollten als Geld, nur Geld, betrügen, stehlen und fälschen, aber nicht das Geringste von der Schöpfung verstünden.
Der heilige Zorn der Erzählung führt in biblische und mystische Regionen:
Wer sich nicht mit dem Zusammenhang von zart diffusem Licht, Blendlicht, Gegenlicht und Aufhelllicht beschäftigt, sondern mit den Dingen an sich, mit dem Ursprung des Lichts, der Quelle des Lichts, der Wirklichkeit des Lichts, der zieht den Kürzeren. Also gebt auf euer Augenlicht acht, ihr kleinen Scheißer. (…) Das soll das Credo sein und bleiben. Im Universum der Bildgestaltung soll die Stelle Gottes für immer weiß bleiben. Eine mit menschlichem Auge nicht mehr interpretierbare Leere.
Die folgenden analogen Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografien und Polaroid-Aufnahmen tasten das Licht ab, wie es sich auf Wegen, Pflanzen, Wänden und Möbeln niederschlägt. Nach der Lektüre der Akahito-Erzählung wirken sie wie Wahrnehmungen auf den Sehnerven im Augapfel des Fotografen, wie das elektrochemische Funkeln seines Hirnstammes. Und zugleich sind sie von haptischer Natur. Die Druckfarbe etwa der in Rembrandtsches Dunkelbraun getauchten Variationen eines Schrankes scheint die Substanzen des Motivs, Holz, Metall, Lichtwellen, förmlich in sich aufgesaugt zu haben.
Worin sich auch die drucktechnische Qualität dieses und aller vier im Nimbus-Verlag herausgegebenen Bände zeigt. Es ist ein sinnliches Vergnügen sie in die Hand zu nehmen. Der Band "Schattengeschichte", ohne Text, gefüllt mit fast 300 Schwarz-Weiß-Fotografien, greift weit zurück in die Frühzeit von Péter Nádas' Schaffen. Er eröffnet mit einem Selbstbildnis von 1960. Der Mann mit 18 Jahren. Schon damals wie auf den Hirnstamm fotografiert. Ein geheimnisvolles Bildnis, entwickelt aus dem Instinkt eines vollkommenen Augenmenschen. Denn die Linse der Linhof-Technika schaut nicht in den Spiegel, um den jungen Mann hinter ihr zu sehen, sie sieht weg. Wie Akahitos Augen sich schließen, wenn er fotografiert. Und trotzdem sehen wir Gestalt, Gesicht und eine Hand des Jünglings, wenn auch verschwommen.
Dann aber, im Folgenden, bricht die Schule des ungarischen Realismus durch, des sozialkritischen Blicks auf die Verhältnisse in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren, Bilder wie man sie zum Teil schon in Nádas' Fotoband "Etwas Licht" von 1999 gesehen hat: ausgelassene Hochzeitsfeste auf dem Land, als die Frauen noch Kopftücher und die Alten ausschließlich Schwarz trugen, als Pferde noch Pflüge zogen und Kinder barfuß durch den Lehm gingen. Bäuerliche Einfachheit, Armut, Tristesse, latente Gewalt. Péter Nádas' sicheres Gespür für den richtigen Augenblick steckt in jedem einzelnen dieser Bilder. Zudem scheint er als Beobachter für seine Umgebung unsichtbar zu sein. Seine Gegenwart trübt den Schauplatz nicht. Wo er unter anderem den ruhigen und kühlen Blick für die Wirklichkeit gelernt hat, erfährt man im Essay- und Bildband "Arbor mundi" mit 18 Texten über Maler, Bildhauer und Fotografen, hier erstmals versammelte Ausstellungskatalogtexte und Reden.
Die neuen Fotografen zogen aus den Ateliers ins Freie. Nahmen den Apparat in die Hand, sagten Nein zu allem Gestellten, genossen das starke Licht und die tiefen Schatten, die Bewegungen, die Bewegungsunschärfe, wurden neugierig auf die groben Details, blickten hinter die Schatten, blickten gar in die Nacht. Sie verachteten jede Imitation. Sie sagten den großen fotografischen Schulen des Illusionismus und Piktoralismus den Kampf an. (…) Da lebst du. In einem Land, in dem Leben oder Tod des einfachen Mannes viel weniger bedeuten als Leben oder Tod eines Haustieres. Wo die jungen Männer wie Vieh zur Front getrieben werden.
Beim Nachdenken über die Künste seiner Kollegen erfahren wir manches über Péter Nádas' eigene Bildkunst. Vor allem über den Licht-und-Schatten-Analytiker, etwa wenn er die Architekturfotografien eines Lucien Hervé unter die Lupe nimmt.
Er wischt die Sentimentalität vom Tisch und setzt reflektierte Gefühle an ihre Stelle. Die Wesen auf seinen Bildern sind fast immer einsam. Ein vereinzelter Mensch, eine fischförmige Wolke, ein weißes Pferd, ein einzelner Vogel. Im architektonischen Raum, der durch die gemeinsame Arbeit vieler Menschen entstand, wirken sie allein. In der kühlen Einsamkeit der Individualität.
Wie tief verwurzelt Péter Nádas in der Lichtbildkunst Ungarns ist, macht ein Kapitel im vierten Band, "In der Dunkelkammer des Schreibens", besonders deutlich. Mit "Seelenverwandte" hat Nádas es überschrieben. Auf manche hier abgebildete Landszenen, Stillleben, Porträts und Selbstporträts von Fotografen wie André Kertész, Kata Kálmán, Márta Rédner und Éva Besnyo scheint Nádas sich direkt zu beziehen. Außerdem weitet "In der Dunkelkammer des Schreibens" den Blick auf das gesamte fotografische und schriftstellerische Werk Nádas' und die Beziehungen zwischen beiden, vor allem aus der Sicht kluger und belesener Interpreten wie Matthias Haldemann, Zsófia Bán und Joachim Sartorius. Erste Annäherung an ein großes Werk, dem es ums Ganze geht, um Gegenwart und Geschichte, deren Verschränkung, um Zusammenhänge zwischen Physiologie, Empfindung, Geschlecht, Eros, Kultur, Politik, Individuum und Gesellschaft, wie es sein Jahrhundertroman "Parallelgeschichten" in atemberaubenden Dimensionen und akribischem Forschungsdrang entwirft.
So detailversessen und psychologisch, naturwissenschaftlich, kultur- und philosophiegeschichtlich unterfüttert wie es Péter Nádas auch auf winzigem Raum im titelgebenden Essay "Arbor mundi" über die mythopoetischen Baumformen in der Malerei Alexandre Hollans gelingt. Hollan erreiche in seiner Kunst, so Nádas, den "ewigen Augenblick".
Das universelle Verständnis erfordert, die verschiedenen räumlichen Aspekte der Makro-, Mikro- und Nanostrukturen in eins zu sehen, das heißt, holistisch zu denken.
Die vorliegenden vier hervorragend edierten Bände locken uns in den Kosmos des Holistikers Péter Nádas.
Péter Nádas:
"Lichtgeschichte"
"Schattengeschichte"
"Arbor mundi"
"In der Dunkelkammer des Schreibens"
Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee