"Zuerst mal ist der Alltag ruhiger, als er momentan so in der Öffentlichkeit erscheint. Es ist fast schon skurril, wie ruhig und gelassen bei uns in der Klinik das Leben ist. Während draußen ja die Nachrichten von Toten, von Katastrophen sich überschlagen, hat man das Gefühl: Hier ist alles im Griff und hier läuft alles."
Thomas Kammerer ist Seelsorger am Münchner Uniklinikum rechts der Isar. Der katholische Pfarrer besucht auch COVID-Patienten auf der Station.
"Gerade in so unfassbaren und so unbegreifbaren Situationen, wie wir sie zurzeit haben, kommen natürlich viele Fragen nach dem Sinn: Warum muss ich leiden? Warum ist überhaupt alles eingeschränkt? Warum hat sich die Welt verändert? Was müssen wir noch alles befürchten? Was kommt auf uns zu? Das sind die Fragen nach dem Lebensfundament."
Seelisches Leiden mindern
Wer wegen COVID-19 stationär behandelt wird, leide unter Isolation, einer ausgeprägten Todesangst und einem rapiden Krankheitsverlauf, so Kammerer. Die Klinikseelsorge habe die psychosozialen und spirituellen Bedürfnisse im Blick. Zum Gesundwerden ist mehr nötig als ein Beatmungsgerät, könnte man sagen. Allerdings gerate dieses umfassende Verständnis, wie es auch die Weltgesundheitsorganisation WHO teilt, in der gegenwärtigen Krise schnell in Vergessenheit, sagt der Münchner Seelsorger:
"Wir hatten gestern eine Sitzung, da ging es um die Triage-Frage, und da hing auch ein Flipchart an der Wand. Das war zur psychosozialen Versorgung. Das ist bei der zusammenfassenden Vorstellung erstmal vergessen worden – als einziges. Bis ich dann darauf hingewiesen habe, dass das auch noch wichtig ist. Also man sieht: Die Aufmerksamkeit ist durchaus da, aber sie ist noch nicht so stark, damit sie durchdringt."
"Nehmen wir uns bei der Hand, wenn die Angst zu groß ist?"
Angst, Alleinsein, Hadern mit der Krankheit – all das kennt auch Lars Wissmann. Der evangelische Pastor arbeitet am Klinikum der Medizinischen Hochschule Hannover.
"Das ist gerade bei COVID-Patienten, die ja unter Atemproblemen zu leiden haben, gar nicht so viel Text", sagt Wissmann. "Sondern die ersten Worte sind zum Beispiel: Ihre Tochter hat mich angerufen und würde Sie am liebsten selber besuchen, und hat mich gebeten, Ihnen herzliche Grüße auszurichten. Dann bekomme ich meistens erstmal stumm die Geste: Bitte setzen Sie sich. Und vielleicht sage ich in manchen Fällen: Wollen wir uns bei der Hand nehmen, wenn die Angst zu groß ist."
Daraus entwickelten sich klassische Seelsorge-Gespräche, erzählt Wissmann: Über Ohnmacht, Wut, schlechtes Gewissen.
"Dann ist die Aufgabe für Seelsorge, dranzubleiben, und nicht zu sagen, das wird schon wieder, machen Sie sich mal nicht so viele Gedanken, Angst brauchen Sie nicht zu haben. Sondern mit den Patientinnen und Patienten mitzugehen, mit ihren Gedankengängen, ihren Gefühlen. Also langsames, behutsames Begleiten, kein hektisches Gespräch, keine schnellen Antworten, sondern dazu ermutigen, Fragen zu stellen. Ambivalenten auszuhalten: Einerseits habe ich Angst, andererseits weiß ich, ich bin gut aufgehoben. Und damit dem Patienten das Gefühl zu geben, da Schritt für Schritt durchzugehen."
Last der Isolation
Die strengen Richtlinien zur Isolation bedeuteten für Kranke und Angehörige zusätzlichen Stress, sagt Lars Wissmann. Sterbende auf den Palliativstationen darf man nur einzeln besuchen, nicht als Familie. Und bei weniger drastischen Verläufen komme manchmal den ganzen Tag niemand ins Zimmer, weil es so aufwändig ist, die Schutzkleidung an- und auszuziehen. Die tragen natürlich auch die Seelsorger.
"Wenn wir ins Zimmer treten, und das Zimmer relativ groß ist, nehmen wir am Anfang, bevor wir auf den Patienten zutreten, unsere Maske einmal kurz ab, damit er unser Gesicht sehen kann. Und dann muss man die Schutzkittel zumeist auch im Zimmer abwerfen, dann sieht man sich nochmal am Schluss des Gesprächs. Und das tut gut, das merken wir – als wenn man verkleidet reinkommt und verkleidet rausgeht und das Gegenüber gar nicht weiß, lächelt der oder wie sieht eigentlich das Lächeln aus in den Augen, wenn ich den Mund nicht sehe", sagt Wissmann.
Und dann sind da noch die Familien: Töchter, Söhne, Partnerinnen und Partner von COVID-Kranken, sagt der Münchner Klinikseelsorger Thomas Kammerer:
"Die Angehörigen leiden unter dem: Ich kann mir kein Bild machen. Ich war vielleicht noch nie in diesem Krankenhaus. Ich weiß nicht mal, wo in diesem großen Komplex mein Angehöriger verschwunden ist. Auch wenn ich nicht direkt zu ihm könnte, würde es schon helfen, wenn ich ungefähr wüsste, da hinter diesem Fenster liegt er."
"Fürchte dich nicht": das Leben in guten Händen wissen
Familie und Freunde sind jetzt zum Nichtstun verdammt. Deshalb raten Seelsorger dazu, sich Aufgaben zu suchen: Etwa Fotos zu machen und sie der Erkrankten zu schicken. Oder sich besonders gut um den Garten zu kümmern, der dem Betroffenen viel bedeutet. Das mag banal klingen. Aber wenn es um Leben und Tod geht, helfe alltagstaugliche Religion mehr als abstrakte theologische Überlegungen, sagt Thomas Kammerer:
"Der häufigste Satz in der Bibel heißt: Fürchte dich nicht. Und dann fragt man sich: Ist das nicht der wichtigste Satz, den wir im Leben überhaupt brauchen? Also die Frage: Was lässt mich Furcht überwinden? Die eigentliche Religion heißt, ich fasse Vertrauen zum Leben, weil ich glaube, dass es in guten Händen ist. Das ‚Inschallah‘ im Islam oder das ‚Vater Unser‘ im Christlichen drückt das aus."
Weil sich abzeichnet, dass die Welt noch länger mit der Pandemie wird leben müssen, ist aus Sicht des katholischen Pfarrers neben der Virologie auch die Seelsorge gefragt:
"Wir wissen ja gar nichts. Und dieses Nichtwissen ist natürlich für uns Seelsorger unser Metier. Da wo man nicht sicher sein, wo man sich mit dem Nicht-Machbaren, dem Nicht-Kontrollierbaren befasst, da kommen spirituelle Aspekte nach oben", sagt Kammerer. "Was macht es mit einer Gesellschaft in dieser Zeit, in der nichts mehr normal ist und in der immer unwahrscheinlicher wird, dass wir zur früheren Normalität zurückkehren werden?"