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Im Mantel der Geschichte

Der Autor eines Buches über Gerhard Schröder soll von den Hochrechnungen am Abend der Bundestagswahl abhängig gemacht haben, welche von zwei Versionen er für den Druck freigab – für Sieg oder Niederlage lag jeweils eine Fassung bereit. Einer solchen Publikationspraxis muß das Buch von Patrick Bahners hoffnungslos veraltet vorkommen. "Im Mantel der Geschichte" heißt es und behandelt, wie der Untertitel verrät, "Helmut Kohl oder Die Unersetzlichkeit". Zwei Wochen vor dem 27. September erschienen, kam es zu spät, als daß es als Handreichung für den Urnengang hätte dienen können. Und seit dem Tag, da eine Mehrheit des Wahlvolks dem CDU-Kanzlerkandidaten per Stimmzettel seine Ersetzbarkeit attestierte, scheint das Buch vollends Makulatur zu sein. Aber warum hätte Bahners es dann geschrieben? Tatsächlich sucht und will er den Anachronismus.

Martin Wiegers |
    "Kein Mensch ist unersetzlich", schrieb der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt vor mehr als 120 Jahren – "aber die wenigen, die es eben doch sind, sind groß." Bahners sucht Burckhardts Kategorie der geschichtlichen Größe auf Helmut Kohl anzuwenden – den Kanzler der Einheit, den Kanzler der sechzehn Regierungsjahre. Was in den Biographien des Pfälzers das letzte Kapitel füllt – die Frage nach seiner Stellung in der Geschichte – das ist alleiniger Gegenstand dieses Essays. Bahners hat sein Buch nicht für den Tag geschrieben, sondern für die Zeit danach; es verfremdet seinen Gegenstand durch die Betrachtung aus einer Distanz, aus der sich die Perspektiven auf überraschende Weise verschieben.

    Burckhardts Ausführungen über historische Größe schaffen Raum für großzügige Begriffsmanöver. "Größe ist das, was wir nicht sind", sagt er, und Bahners kann Kohl mit den großen Griechen und Römern der antiken Geschichtsschreibung assoziieren. Größe ist aber auch das, "ohne das wir nicht wären" – und diese Formulierung erlaubt es Bahners, Kohl in den Begriffen der jüngstvergangenen Jahrzehnte zu beschreiben und nah an uns heranzurücken. "Die Gesprächstherapie", heißt es etwa, "die [Kohl] seiner Partei verschrieb, sah anderen Modellen der Integration durch Kommunikation, die in den siebziger Jahren Mode wurden, zum Verwechseln ähnlich. Den Philosophen hatte der Veteran der Gremienkriege freilich die Erfahrung voraus, daß es selten Argumente sind, die Konsens stiften. Einverständnis stellt sich durch Erschöpfung her; dem Bruch zieht man den Formelkompromiß und die Absichtserklärung vor."

    Erschöpfung stellt sich freilich auch bei manchem Leser ein. Das liegt nicht so sehr daran, daß Kohl sich "auf seinem Weg nach oben weder gegen Institutionen durchsetzen" mußte noch sonstwie "nennenswerten Widerstand erfahren" hat, sondern sich von den Zeitströmungen nach oben tragen ließ. Es liegt eher an der Gelenkigkeit, mit der Bahners weite Assoziationsräume durchmißt und die sich als Sprunghaftigkeit mißdeuten läßt. Ein schneller Rezensent meinte sie sogar noch im Aufbau des Buches zu bemerken: Bahners schreibt "jenseits jeder Chronologie", tadelte er, und "hüpft von Biedenkopf zu Disraeli, von Geißler zu Churchill, von Sueton zu Kohl." Man könnte die Liste mühelos erweitern und sogar noch Entlehnungen aus Loriot-Sketchen und Donald Duck-Geschichten nachweisen. Dennoch trifft die Bemerkung kaum mehr als die Oberfläche des Textes.

    Denn sieht man genauer hin, so bemerkt man, daß Bahners eine Themenliste abarbeitet, auf der neben Posten wie "Arbeitsstil in Partei und Kabinett", "Begriff der Geschichte", "Umgang mit Zeit" eben auch "Herkunft" und "Bildungsweg" nicht fehlen und die insgesamt genommen dem Monolithen nicht nur interessante Seiten abgewinnen, sondern auch seinen Werdegang rekonstruieren. Diese Struktur ist allerdings nicht leicht zu erkennen. Knapp 200 Seiten ohne gliedernde Elemente, ohne Kapiteleinteilung, ohne Fußnoten – und alle Quellennachweise in den Text hineingenommen: das läßt einen Formwillen erkennen, dem es darauf ankommt, Übergänge in eine unendliche Melodie aufzulösen, Widersprüche in den Akkord einer eleganten Formulierung zu überführen.

    Der Harmonisierungswille hat indessen kein Feiertagsbüchlein hervorgebracht. Kohl würde sich kaum geschmeichelt fühlten, wenn er etwa läse, er habe "seinen Vortragsstil so dynamisch" gestaltet, "daß sein verschlungener Satzbau die Unübersichtlichkeit einer auf allen Ebenen demokratisch verfaßten Gesellschaft vorausahnen ließ." Bahners selber neigt zu einem Stil, der Satz neben Satz stellt, ohne seinen logischen Status im Gang der Argumentation zu signalisieren; das stellt Ansprüche auch an das Verständnis kurzer Sätze. Andererseits begünstigt dieses Verfahren eine Neigung zum sententiösen Ausdruck, die nicht selten spöttische Aperçus hervorbringt: "Die Unordnung des neuen Regelwerks" – so heißt es über die Reform der Rechtschreibung – "ist ein erhabenes Denkmal für Kohls Mißtrauen gegenüber allen Schranken der Gestaltungskraft und für seinen kreativen Gebrauch der Sprache."

    Kohls Doktorvater, so erfahren wir auf einer der letzten Seiten, hat über Ranke geforscht. Er war schon auf einer der ersten Seiten eingeführt worden, ohne daß wir die Angabe seines Forschungsgebietes vermißt hätten. Hier am Schluß erwähnt Bahners ihn allein deshalb, um sich ein Stichwort zu geben: "Ranke teilt in seiner Weltgeschichte von den größten Persönlichkeiten fast nichts Persönliches mit. Das Leben Konstantins oder Karls des Großen war vollständig mit dem historischen Prozeß verschmolzen; deshalb ließen sie sich aus der Geschichte nicht wegdenken und trugen den Ehrentitel des Großen zurecht." Diese Bemerkung läßt sich als Hinweis auf ein mögliches Selbstverständnis verstehen – ebensowenig wie Ranke geht es auch Bahners nicht darum, Anekdoten mitzuteilen –, und als Summe seiner Ausführungen zu Kohl: Am Ende ist er groß, weil er nicht wegzudenken ist.

    Aber wie lange? Jacob Burckhardt bemerkt einmal, daß es "auch leere Jahrhunderte" gibt, wo ein Mann ohne "innere Geschichte", ohne "Entwicklung", ohne "Werden" dem "Bedürfnis der Unterwürfigkeit und des Staunens" als groß erscheinen mag. Er denkt dabei an den byzantinischen Kaiser Justinian, in dem man immerhin "tausend Jahre lang" einen großen, guten und heiligen Mann gesehen hat – ganz zu unrecht, wie dann Burckhardt findet.

    Bahners Buch kommt nicht zu spät, aber vielleicht kommt es zu früh. Es ist ein geistreiches Buch; wer weiß, ob es ein ganz ernstgemeint ist; und sofern man an virtuoser Gedanken-Akrobatik Gefallen findet, ist es ein unterhaltsames Buch. Es ist ein Buch, daß die Klugheit seines Autors überzeugender belegt als die Größe seines Gegenstandes.