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Wortwechsel zur Gendersprache
Im neuen Turm zu Babel

Seit dem "narcissistic turn" verlangen viele Gruppen, durch gendergerechte Sprache in ihrem Sosein respektiert zu werden. Eine Lektorin und eine Übersetzerin erörtern, ob literarische Texte einen Widerstand gegen diese Vereinbarungen entwickeln, eben weil Literatur potenziell mit allen spricht.

Von Katharina Raabe und Olga Radetzkaja | 24.07.2022
Gendersternchen und Schriftzug "Innen" auf Buchstaben
Wie kann man mit den Forderungen nach einer gendergerechten Sprache im literarischen Bereich umgehen? (imago images/Christian Ohde)
Katharina Raabe ist Lektorin für osteuropäische Literatur im Suhrkamp Verlag, Olga Radetzkaja ist Übersetzerin aus dem Russischen. Beide haben ein Gespräch geführt zur gendergerechten Sprache, das im Netz nachzulesen ist. Wir haben mit Erlaubnis der beiden diesen interessanten Austausch nachgesprochen als Dialog fürs Radio. (www.perlentaucher.de)

Die Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe und die Literatur-Übersetzerin Olga Radetzkaja diskutierten vor einigen Wochen über ihre und über gesellschaftliche Standpunkte zum Umgang mit der gendergerechten Sprache in der Literatur. Verlage müssen bei jeder Veröffentlichung entscheiden, wie sie mit den Forderungen nach einer gendergerechten Sprache umgehen wollen. Auch in den Programmen des Deutschlandradios spielt die gendergerechte Sprache eine zunehmend große Rolle. Wir haben das spannende Gespräch, das bei Perlentaucher.de erschienen war, mit Erlaubnis der Urheberinnen nachträglich mit den Schauspielerinnen Hildegard Meier und Susanne Reuter als Radiogespräch aufgenommen.
Olga Radetzkaja: Als wir uns neulich darüber unterhielten, wie unsere Sprache sich vor unseren Augen und in unseren Händen verändert, hast du eine Art Chandos-Moment erwähnt, etwas wie ein Fremdwerden der Worte - habe ich das richtig verstanden, und was hat es damit auf sich?
Katharina Raabe: Fremdwerden der Worte - das wäre zu hochgegriffen. Als Lektorin habe ich meine Chandos-Momente, wenn mich Sprachklischees und schlampige Formulierungen ermüden. Oder wenn ich Texte lesen muss, deren Verfasser nichts zu sagen haben.
Das „unerklärliche Unbehagen“, das Lord Chandos in Hofmannsthals Brief empfindet, gilt dem Gebrauch von Wörtern wie „Geist“, „Seele“ oder „Körper“ und wie gedankenlos die Menschen sich abstrakter Begriffe bedienen, die ihm, dem jungen Dichter, im Munde zerfallen wie „modrige Pilze“. Der radikale Erkenntniszweifel - dass nichts so ist, wie es scheint -, hat sein Verhältnis zur Sprache ergriffen.
Hugo von Hofmannsthal beschreibt die Urszene des Künstlers: das Aufbrechen der Wahrnehmungsroutinen. Das Überhandnehmen des Unselbstverständlichen - alle guten Schriftsteller durchlaufen diese Krise: die Wörter werden sinnlos, weil sie abgenutzt sind, ideologisch korrumpiert oder einfach nur hässlich und stumpf.
Das Unbehagen, das ich meinte, ist aber ein anderes. Es gilt nicht der Frage, ob meine Worte dem adäquat sind, was ich beschreiben und gedanklich fassen will. Es betrifft die Adressierung und damit auch die Art und Weise, wie ich über Personen spreche. Bevor ich einen Satz sage oder schreibe, denke ich an mögliche Empfindlichkeiten meines Gegenübers und zögere: Soll ich das wirklich so sagen? Ohne dieses Innehalten - „erst denken, dann sprechen“ - gibt es kein vernünftiges Gespräch.
Neuerdings geht dieses Zögern aber über das Taktgefühl, das für höfliches und umsichtiges Miteinander selbstverständlich ist, weit hinaus. Das betrifft etwa Genderstern, Unterstrich, Binnen-Doppelpunkt, aber auch ethnische und andere Identitätsmarkierungen, wie sie „politisch korrektes“ Sprechen erwarten lässt.
Ich nehme mithin eine kränkende, befremdende, irritierende oder sogar provozierende Wirkung meiner Ausdrucksweise vorweg, bevor ich überhaupt einen Satz zu Ende gebracht habe. Ich unterstelle, dass diese Wirkung stärker ist als die des Gesagten selbst. Was natürlich unsinnig ist, denn noch, so scheint mir, erreiche ich die Adressaten auch ohne derlei Identitätsmarkierungen.
Die Sache ist sogar noch komplizierter - in dem kurzen Innehalten meldet sich die Sorge, wie ich in meinem Sprechen und Schreiben von den anderen wahrgenommen und verortet werde. Welche Rückschlüsse auf meine politische Haltung zu bestimmten Fragen lege ich durch Übernahme oder Ablehnung dieser Markierungen unwillentlich nahe? Auf einmal sind Distinktionsmerkmale im Spiel, die dem Anspruch des Sprechens, Unterschiede zu überbrücken, im Weg stehen. Teilst du diese Erfahrung?
Radetzkaja: Ich kenne jedenfalls das Zögern in bestimmten Kontexten und die eigene Irritation über diesen kommunikativen Seitenblick in den Spiegel. Dass ich das große Chandos-Geschütz aufgefahren habe, hängt mit einem intuitiven Unbehagen angesichts der aktuellen Sprachkämpfe zusammen, das mich gelegentlich befällt: dem Gefühl, dass eine so stark mit sich selbst beschäftigte, so selbstreferentielle Sprache zumindest vorübergehend Gefahr läuft, als Erkenntnisinstrument und Medium der Auseinandersetzung mit Sachthemen, mit der Welt, unbrauchbar zu werden. Und auch die kommunikative Funktion - Unterschiede zu überbrücken, wie du sagst - wird geschwächt.
Es geht in den Debatten um „gerechte Sprache“ nach meinem Eindruck sehr viel um Abgrenzung und Festschreibung von Zugehörigkeiten. Als Übersetzerin bin ich gewohnt, viel mehr auf andere Dinge zu achten als auf solche einzelnen Wörter: Ich schaue auf syntaktische Strukturen, auf die Ausrichtung und Perspektive eines ganzen Satzes oder Absatzes.
Bei einer Solidaritätskundgebung für Belarus habe ich vor einiger Zeit die durchs Megaphon gerufene Parole „Keine Verhandlungen mit Terrorist:innen!“ gehört, und ich bin wirklich ins Grübeln gekommen. Ich weiß natürlich, dass das ein Aufruf an den Westen, die EU und so weiter war, dem belarussischen Staatsterrorismus entschieden entgegenzutreten - aber ich habe angefangen zu überlegen, wer eigentlich die weiblichen Vertreter dieses Regimes sind (von den non-binären zu schweigen) ... Was ich sagen will: Man kann diesen Aufruf in der gegenderten Form natürlich immer noch verstehen, aber die Botschaft wird unklarer. Nicht nur der Rhythmus ist gebrochen - für eine Parole ist das ja wichtig, sie muss ins Ohr gehen! -, sondern auch das argumentative Gewicht, der Fokus im Satz ist verschoben: von der eigentlichen Forderung „keine Verhandlungen“ auf die Personen, mit denen nicht zu verhandeln ist, auf ihre konkrete Beschaffenheit, ihre sexuelle Identität. Der ganze Impuls wird diffus. Das ist natürlich ein Einzelfall, aber mein Eindruck ist generell, dass durch die „geschlechtergerechte“ und diskriminierungssensible Sprache oft mehr Klarheit verlorengeht als an anderer Stelle vielleicht gewonnen wird.
Raabe: Ist es aber nicht eigentlich erfreulich, dass so viel über Sprache nachgedacht wird? Fast jeder hat eine Meinung, regt sich auf, fühlt sich angegriffen, gegängelt, missverstanden oder sogar beleidigt. Andererseits haben wir als Gesellschaft, vielleicht zum ersten Mal überhaupt seit Einführung des Privatfernsehens, ein großes gemeinsames Thema, dem man nicht entkommt, egal, auf welchen medialen Kanälen man sich informiert: die Pandemie. Jeder und jede war und ist davon betroffen. Die Sprache, in der über die Angst vor der Krankheit, den Umgang mit ihr und die damit verbundenen Freiheitseinschränkungen, über Leiden und Tod gesprochen wird, ist ja gerade nicht mit sich selbst beschäftigt. Wie Kinder und Jugendliche die erzwungene Isolation verkraften, was sich in armen Familien abspielt, unter welchen Bedingungen gearbeitet wird, welche sozialen Brüche sichtbar geworden sind - all das sind doch universale Themen.
Paradoxerweise haben gerade in dieser Zeit die „Sprachkämpfe“ eine neue Intensität erreicht. Wir erleben, neben, unter und mit der Pandemie als Dauerthema, eine Debatte um Identitäten und Zugehörigkeiten, die sich an der Idee festmacht, jede Person habe ein Recht darauf, in einer gruppenspezifischen Besonderheit von allen anderen Personen sprachlich gewürdigt zu werden.
Jede Person soll von allen anderen in ihrem So-Sein sprachlich anerkannt werden. Die Zeichen, die für diese Sichtbarkeit sorgen sollen, reichen von Genderstern über neue Pluralformen bis zur umkodierten Groß- und Kleinschreibung von Adjektiven wie „schwarz“ und „weiß“.
Es ist ein Sprachwandel „von unten“, der von bestimmten Communities mit einer emanzipatorischen Agenda ausgeht. Aber das Vorgehen als solches breitet sich rasant aus und vermittelt auch mir den Eindruck, Zeuge eines narcissistic turn der Sprache zu sein. Je mehr Gruppen sich innerhalb einer Sprache partikulare Regeln geben, desto größer die Gefahr, dass sich „nichts mehr … mit einem Begriff umspannen“ lässt, wie es im Chandos-Brief heißt, und die Empfindlichkeiten gegeneinander zunehmen. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein schreibt:
„Die Sprache funktioniert als Sprache nur durch die Regeln, nach denen wir uns in ihrem Gebrauch richten.“
Dieses „wir“, das für eine Instanz über allen speziellen Communities stand, zerfällt vor unseren Augen.
Radetzkaja: Ja, und eben deshalb hält sich meine Freude über das neue Nachdenken über Sprache, mit dem wir es derzeit zu tun haben, in Grenzen. Denn es geht dabei meist nicht um die Qualität der Sprache als Ausdrucksmittel, sondern um ihre moralische Integrität in einer ganz bestimmten Hinsicht: Wird sie mir und meinesgleichen gerecht? Wobei „gerecht werden“ heißen kann, neue Diskriminierung zu vermeiden, punktuell aber auch: vergangenes Unrecht auszugleichen. Als ungerecht empfundene Machtverhältnisse sollen nicht nur in der sozialen und politischen Realität korrigiert werden - denken wir an Black Lives Matter oder die MeToo‑Bewegung -, sondern auch oder sogar zuerst in der Sprache.
Aber anders als im politischen Raum, wo die Neuverteilung von Macht grundsätzlich Verhandlungssache ist, wird die Sprache von denen, die sie gerecht oder „diskriminierungssensibel“ gestalten wollen, letztlich einer radikalen Subjektivität überlassen: Wer außer mir sollte entscheiden können, ob ich „in meinem So-Sein“ gewürdigt wurde.
Um das klar zu sagen: Ich finde es nicht falsch, die eigene Sprache auch an moralischen Maßstäben zu messen. Problematisch wird der Anspruch auf richtiges Sprechen meines Erachtens dann, wenn die Kriterien des Richtigen nicht mehr zur Diskussion gestellt werden, weil es sich letztlich um eine private Gefühlssache handelt, zum Beispiel geäußert im „sich gemeint fühlen“. Das hat in der Tat etwas Narzisstisches. Und ich habe Schwierigkeiten damit, wenn dieser Anspruch sich im Pochen auf sprachliche Repräsentation - sei es der eigenen Community oder einer anderen, mit der man sich solidarisiert - erschöpft. Mir scheint, darin artikuliert sich - paradoxerweise, trotz aller revolutionären Energie! - ein merkwürdig statisches Verständnis von Sprache: als ginge es um eine Immobilie, ein Haus, in dem für jeden ein Zimmer zur Verfügung stehen muss. Natürlich kommt einem dabei auch der Turm zu Babel in den Sinn: Je höher das Haus und je größer die Zahl der Zimmer, desto schwieriger wird es, einander darin zu besuchen …
Was uns offensichtlich beide mit Sorge erfüllt, ist das Gefühl, dass die gemeinsame Sprache, in der man sich über politische, ästhetische, ethische Differenzen hinweg verständigen, mehr noch: in der man diese Differenzen als solche überhaupt diskutieren kann, verlorenzugehen droht.
Raabe: Du berührst einen zentralen Punkt: Je artikulierter einzelne Gruppen ihr So-Sein, ihre „Identität“ zur Geltung bringen, desto größer die Anforderungen an eine allseits geteilte, „all-gemeine“ Sprache, in der sich jede dieser „Identitäten“ den anderen verständlich machen und Differenzen überbrücken kann. Haben wir es hier nicht mit der Urszene des Übersetzens zu tun: dem ständigen Hin und Her zwischen dem Identischen und dem Nicht-Identischen? Das Reizvolle daran oder überhaupt an Kommunikation, ganz gleich, ob wir uns mit Menschen oder mit Texten auseinandersetzen, ist doch, dass alle füreinander anders und fremd sind.
Je tiefer sie einander erforschen, desto mehr verändern sie sich, und zwar gemeinsam. Stattdessen beobachten wir das Gegenteil: Ob LGBTQIA+, People of Color, Menschen mit Behinderungen und so weiter - Communities entwickeln ihre sensiblen, rücksichtsvollen und „gerechten“ Sprachformen untereinander und erwarten, dass auch andere Menschen diese Formen übernehmen.
Doch der Wunsch, selbstbestimmt Vielfalt zur Geltung zu bringen und Inklusion anstatt Exklusion zu praktizieren, führt gesamtgesellschaftlich zu einer immer tieferen Partikularisierung. Ist das nicht ein paradoxer Befund?
Einstweilen sollten wir vielleicht einen Schritt zurücktreten und unterscheiden: Ob ich eine Person anspreche, darauf bedacht, sie nicht zu verletzen, und mich dabei erlernter Wörter oder einer neuen Artikulation bediene; oder ob ich mit anderen über ein Thema rede, das weder mit Gender noch mit Diskriminierung zu tun hat, und auf die entsprechenden Markierungen verzichte - das ist zweierlei.
Ich stimme dir, Olga, zu: die Diskussion um gerechte Sprache dreht sich bezeichnenderweise nur um Substantivformen, Artikel und Pronomina, nie um das, was differenziertes Sprechen ausmacht - Perspektivierung, syntaktische Strukturen, Kontextualisierungen. Kann es sein, dass es gar nicht so sehr um die vielen speziellen identitätspolitischen Diskurse geht, jeder mit seinen eigenen emanzipatorischen Zielen, sondern um eine grundsätzliche Aufteilung:
Die einen sehen in der Sprache ein Mittel ihrer Wirklichkeitsherstellung; sie schaffen einer Person ihren „Ort“ in der Sprache, durch Gendergap, neuartige Suffixe etcetera - in ihren Augen machen sie die dergestalt „Angerufenen“ erst zu etwas Wirklichem.
Und es gibt die anderen, nach deren Auffassung die Sprache auf soziale Emanzipationsprozesse reagiert und sich entsprechend verändert.
Radetzkaja: Die These von den zwei Sprachkulturen hat etwas unmittelbar Überzeugendes.
Die gemeinsame Sprache findet sich nach meiner Überzeugung einfach dort, wo keine oder möglichst wenig Claims in ihr abgesteckt werden, wo sie offen - bedeutungsoffen, adressatenoffen - bleibt. Es kann gut sein, dass der Wunsch, das Bedürfnis nach einer solchen Sprache, die Platz für alle und zugleich historische Tiefe hat, stärker durch eine analoge Textkultur geprägt ist oder mit ihr korrespondiert, mit dem Modell der Bibliothek und der im Wesentlichen zielgruppen‑unspezifischen Sprechhaltung der Literatur.
Übrigens höre ich von Kolleginnen und Kollegen, die dem Gendern an sich positiv gegenüberstehen, häufig, in literarischen Texten müsse man natürlich anders vorgehen. Klar, das hat offensichtliche Gründe, wo es um Klang und Rhythmus geht: so viele identische zusätzliche Endungen, die die Texte aufblasen, so viele feste Zäsuren und unbetonte Silben, man hätte quasi mit einer neuen Prosodie zu tun - einem Problem, das der Ausgangstext, den ich eigentlich transportieren will, nicht stellt (es sei denn, er gendert selbst in auffälliger Weise).
Aber ich glaube, das ist nicht der einzige Grund. Meine These ist, dass literarische Texte einen gewissen Widerstand gegen die an gruppenspezifischen Empfindlichkeiten und Erwartungen ausgerichteten stereotypen Ansprache-Formeln entwickeln, eben weil Literatur potenziell mit allen spricht. Für die übersetzte Literatur gilt das sogar noch mehr: Wie sonst könnten wir fremde Lebenswelten, fremde ästhetische und Werte-Systeme überhaupt für die Lektüre aufschließen? Vielleicht ist die Sprache, die wir für eine offene, gemeinsame gesellschaftliche Debatte, für Öffentlichkeit brauchen, ja eben das - eine Sprache der Übersetzung? Aber ich warte eigentlich auf deinen feministischen Einspruch, Katharina, gegen meinen naiven Universalismus.
Raabe: 40 Jahre feministische Sprachkritik und Genderlinguistik haben dafür sensibilisiert, dass die soziale Benachteiligung der Frauen, ihre jahrhundertelange Unsichtbarkeit in der Geschichte der Wissenschaft, der Künste, der Politik, sich bis in die Grammatik hinein verfolgen lässt. Dass der Gleichklang zwischen dem geschlechtsübergreifenden und dem exklusiven Maskulinum im Deutschen zumindest ein Problem darstellt, dessen sollte man sich bewusst sein.
Seit Luise Pusch 1984 das „Deutsche als Männersprache“ analysiert und auf den Sachverhalt aufmerksam gemacht hat, gilt, jedenfalls für mich als Feministin, dass sich, je nach Kontext, durch kluges Abwechseln zwischen männlichen und weiblichen Formen der Eindruck vermeiden lässt, nur Frauen seien stets mitgemeint. Ebenso oft sind es auch die Männer. Die üblichen Mittel der Sprache, kontextsensibel eingesetzt, sollten ausreichen. Würdest du bis hierher folgen?
Radetzkaja: Ja und nein. Das Abwechseln – „Autorin wie Leser“, „Übersetzer und Kritikerinnen“ und so weiter - praktiziere ich auch öfter, aber auch das ist bereits Ergebnis des Seitenblicks in den Spiegel: Ich übersetze sozusagen - weil ich eine bestimmte Wahrnehmung vorwegnehme - aus der generischen Form in meinem Kopf, in der eben niemand - das ist mir wichtig! - nur „mitgemeint“, sondern alle gleichermaßen gemeint sind, in die einzelnen spezifischen Formen. Und indem ich das tue, stelle ich mich nicht nur auf den Sprachwandel ein, sondern trage selbst zu ihm bei. Zwar in einer Form, die eleganter wirkt als die umständlichen Beidnennungen und die optisch wie klanglich holprigen grafischen Lösungen, aber letztlich ist das ein Kompromiss, mit dem ich nicht glücklich bin.
Das Deutsche hält bestimmte sprachliche Abstraktionsmöglichkeiten bereit, aber wenn wir diese Möglichkeiten immer weniger nutzen - und von heute aus ist zumindest denkbar, dass irgendwann das grammatische Geschlecht insgesamt zum Problem wird, auch Dinge wie „das Mädchen“, wieso „das“, wenn doch von einer weiblichen Person die Rede ist? -, werden sie umso schneller obsolet. Ich bedaure das, denn diese Form der Abstraktion bedeutet auch Freiheit - und Spielmöglichkeiten, Ambivalenzfutter.
Raabe: Gegen deine innerste Überzeugung verhältst du dich pragmatisch, ja, konformistisch? Weil eine Übersetzerin sich ohnehin in Selbstverleugnung übt und in den Stimmen der anderen spricht?
Radetzkaja: Wieso sollte ich mich als Übersetzerin denn selbst verleugnen? Was ich beschrieben habe, ist einfach ein Abwägen zwischen „meinem Deutsch“ und „unserem“ oder ihrem, also dem der gesamten Sprechergemeinschaft und dem meiner Adressaten. Dieses Abwägen kenne ich sowohl im Übersetzen (wo das allermeiste aber der von mir zu übersetzende Ausgangstext entscheidet) als auch dann, wenn ich in meinem eigenen Namen spreche oder schreibe. Das Bedauern bezieht sich auf einen bestimmten Aspekt des bereits realen Sprachwandels - den ich nicht einfach ignorieren kann.
Aber ich will noch einmal auf die feministische Sprachkritik zurückkommen: An dem Befund, dass Frauen im öffentlichen Leben jahrhundertelang weitgehend unsichtbar und dementsprechend auch in der Geschichtsschreibung unterrepräsentiert waren, gibt es nichts zu deuten. Wenn man die Kategorie der Sichtbarkeit aber auf die Sprache überträgt, wird sie zur Metapher. Diese Metapher stiftet nach meiner Überzeugung eine Menge Verwirrung. Sie ist aber keine Erfindung der Gender und Queer Studies, sondern letztlich nur eine Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung der feministischen Sprachkritik und -politik, oder?
Raabe: Nein! Es gibt einen kategorialen Unterschied zwischen der feministischen und der post-feministischen Sprachkritik. Während es im Zuge der Gleichberechtigung weitgehend Alltagspraxis geworden ist, sich schreibend und sprechend explizit auf Frauen und Männer zu beziehen, bedeutet die „gendersensible“ Sprache eine Radikalisierung, die bei den grammatikalischen Strukturen der Personenreferenz im Deutschen ansetzt und das gesamte System revolutionieren möchte. Kurioserweise läuft beides, sowohl die Entmachtung des generischen Maskulinums als auch die Einführung des „queeren Registers“, wie die Linguistin Helga Kotthoff es nennt, unter der Bezeichnung „gendern“. Das queere Register ruft eine ganze Skala möglicher Geschlechtsidentitäten und non-heteronormativer Lebensweisen auf.
Nach Jahren, in denen das „queere Register“ in speziellen akademischen Kontexten gepflegt wurde, kommt es jetzt zunehmend auch in der öffentlichen Verwaltung, in Unternehmen, in der Werbung und in den Medien zum Einsatz. Ob Pressemitteilungen, Promotionsordnungen, Stellenangebote, Produktwerbung - überall dort, wo kunden- und publikumsorientiert formuliert wird, scheint es sich zu empfehlen.
Was aber bedeutet das eigentlich? Was kommt in dieser Praxis zum Ausdruck? Haben wir nicht ein Musterbeispiel für die Produktion falschen Bewusstseins vor uns? Das Wörterimplantat sorgt für „faire“ Kundenansprache und gilt vor allem bei einer jungen, netzaffinen, „progressiven“ Klientel als potentes Marketinginstrument. Es setzt dort an, wo Menschen sich in ihrer Triebstruktur, in der Art ihres Begehrens und ihrer Körperlichkeit „gemeint fühlen“ sollen. Unpersönliche Instanzen - Verwaltung und Markt - sprechen sie in ihrem So-Sein höchstpersönlich an, was sich übrigens auch in der überbordenden Verwendung des Possessivpronomens der ersten und zweiten Person Singular für angeblich speziell auf mich zugeschnittene Angebote und Dienstleistungen ausdrückt (Mein Tarif, Deine App, Mein Beerdigungsinstitut, Dein Drink für jeden Tag etcetera). Es erstaunt mich, wie wenig dieser Aspekt eines marktförmigen Sprechens thematisiert wird, das mit der Kommerzialisierung und Bürokratisierung unseres Lebens einhergeht. Wer ist dafür verantwortlich? Wer rechtfertigt diese Schritte mit welchen Argumenten?
Ich fürchte, liebe Olga, für deinen „naiven Universalismus“ ist es noch zu früh.
Wie begegnen wir der Zersplitterung der Gesellschaft in viele immer idiosynkratischere Gruppen? In welcher Weise könnte eine „analoge Textkultur“ als Paradigma der Verständigung dienen? Brauchen wir eine neue, un-narzisstische Kultur des Erzählens und Reflektierens? Eine Ökologie des Lesens, Sprechens, Schreibens?
Radetzkaja: Dass die gegenwärtigen sprachpolitischen Bemühungen dazu führen werden, dass eines Tages „Gleichheit hergestellt“ ist - was immer man darunter verstünde - glaube ich nicht; dass das Interesse an diesem Ziel irgendwann wieder abklingt beziehungsweise sich verschiebt, kann ich mir schon eher vorstellen. Auch dass sich am Ende neue allgemeine Formen herausbilden werden, die alle Geschlechter meinen, ohne sie eigens zu benennen, ist gut möglich.
Was wir brauchen, ist vor allem Beweglichkeit, nicht Festschreibung: Ein Verständnis von Sprache nicht als Immobilie, die es in Besitz zu nehmen gilt, sondern als Mobilie, wenn es das Wort gäbe. Sprache ist kein räumliches Gebilde, sie existiert in der Zeit, ist im Fluss. Zu diesem Fluss trägt die gewachsene Vielfalt der Stimmen, die sich aktuell in und zu Literatur äußern - der „neuen Autoren und Mitautoren“, von denen du gesprochen hast - mit Sicherheit bei. Es schwimmen aber - und all das gilt jeweils für die gesellschaftliche und politische Debatte ebenso wie, in konzentrierter Weise, für die Literatur - auch sämtliche älteren Schichten und Stimmen darin mit. Das ist kein bedauerlicher Nebeneffekt, sondern ein zentrales Charakteristikum der Sprache, aus dem sich ihre unerschöpfliche Vielfalt ergibt - aber auch ihre gefährlichen Untiefen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Verständigung setzt Risikobereitschaft voraus, die Bereitschaft, sich und andere unangenehmen Empfindungen auszusetzen - das ist der Preis der Freiheit. Unsere Sprache bleibt lebendig, wenn wir ihr zutrauen und ihr erlauben, über alle menschlichen Dinge zu reden, alle nur denkbaren Erfahrungen zu beschreiben. Alle Fragen zu stellen. Das ist es, worin ich mich als Übersetzerin ständig übe: Meine und auch deine Arbeit, der permanente Umgang mit fremden Stimmen, fremden Texten, kann nur eine Schule des un-narzisstischen Lesens sein.
Raabe: Unsere Arbeit besteht aber nicht nur im Produzieren, sondern auch im Vermarkten von Texten und Büchern. Dein Verständnis von Freiheit - die Bereitschaft, sich und andere auch unangenehmen Empfindungen auszusetzen - scheint selbst in unserer Branche, den Medien und den Verlagen, nicht mehr besonders populär zu sein. Immer häufiger begegnen mir jüngere Leserinnen, die Bücher ablehnen, weil das geschilderte Figurenpersonal sprachlich Anstoß erregt oder verstört.
Fast täglich will jemand wissen, ob er in seiner Übersetzung Gendergap oder Sternchen verwenden soll. Verlage entwickeln bereits „Richtlinien zum politisch korrekten Umgang mit Sprache“, die laufend ergänzt werden.
Warum lassen sich ausgerechnet Verlage und Kulturinstitutionen so bereitwillig auf diese Entwicklung ein? Bücher und Zeitungen sind aus Sprache gemacht. Deshalb kann es uns nicht egal sein, dass der narcissistic turn auch unsere Profession ergreift.
Für die Zukunft sind zwei Szenarien denkbar: wir passen uns diesem Trend an, erlernen ein weiteres Idiom und wechseln in unserer Arbeit ab zwischen marktkonformer Ansprache und den Texten, die für sich stehen sollen und deren Qualität es ausmacht, dass sie aus der unendlichen Vielfalt ihrer Möglichkeiten schöpfen, wie du oben gesagt hast.
Oder aber wir stellen kritische Fragen an uns und unser Tun und fordern auch unsere Kolleginnen und Kollegen auf, Position zu beziehen. Es sind keine anonymen Mächte, die diese neuen Gepflogenheiten einführen. Die Verantwortlichen, die Handelnden sitzen in Geschäftsleitungen und Redaktionen.
Es geht dabei nicht um Asterisk oder Binnendoppelpunkt allein. Ein Blick in die zahlreichen Handreichungen - von geschicktgendern.de bis zu den Empfehlungen für „verständliches und angemessenes Gendern“, die das Handbuch zur geschlechtergerechten Sprache (Duden-Verlag 2020) ausgibt - macht deutlich: Für den konsequenten Versuch, das generische Maskulinum durch neutrale Ausdrucksweisen zu ersetzen, bietet das Deutsche vor allem Abstrakta, Partizipial- und Passivkonstruktionen auf - altbewährte Mittel der Amts- und Kanzleisprache.
Sollten ausgerechnet wir, denen es um Vermittlung durch Sprache und die ständige Verfeinerung dieses Präzisionsinstruments geht, permanent über Vermeidungsstrategien nachdenken, statt an der Freiheit des Ausdrucks, an der Schönheit und Prägnanz eines Gedankens zu arbeiten?
Radetzkaja: Da wären wir wieder beim Chandos-Syndrom, beim Zerfall der Sprache in Einzelteile, in Klischees. Ich sehe tatsächlich einen Zusammenhang zwischen diesem Moment einerseits - der Fixierung auf einzelne Wörter, die an komplexeren sprachlichen Zusammenhängen vorbeischaut - und der bürokratischen und kommerziellen Zurichtung der Kommunikation andererseits. Gleichzeitig denke ich, wir werden auf absehbare Zeit nicht darum herumkommen, auf beiden Feldern zu spielen: Den Sprachwandel, der bereits im Gang ist, zur Kenntnis zu nehmen und in gewissem Maß mit zu vollziehen, und einer neuen Tendenz zur Normierung, wo sie uns als Verödung und Verengung oder als Privatisierung des Mediums der öffentlichen Debatte begegnet, die eigenen Kriterien und die eigene Kritik entgegenzusetzen: Freiheit des Ausdrucks, wie du sagst, Schönheit und Prägnanz des Gedankens, Komplexität und Beweglichkeit der Sprache. Dafür zu sorgen, dass diese Kriterien im Spiel bleiben, und genau hinzuschauen: Wo haben wir es mit einer Kritik an Machtstrukturen zu tun und wo mit einem mehr oder minder offen artikulierten neuen Machtanspruch?
Raabe: Es kommt darauf an, wie man sich zu diesem Anspruch, dieser Agenda verhält: affirmativ oder kritisch, ablehnend oder abwartend. Der rapide Sprachwandel wird von den akademisch sozialisierten Eliten innerhalb der Generation der digital natives vorangetrieben und von den „progressiven“ Kräften in Politik, Verwaltung und Medien unterstützt. Aus ihrer Perspektive ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich die gendersensible Sprache vollends durchgesetzt haben wird.
Am liebsten würde ich allen Kolleginnen und Kollegen in unserer Branche zurufen: Seid euch bewusst, was ihr tut, wenn ihr all diese Neuerungen bereitwillig übernehmt, aus Angst, eurem aufgeklärten politischen Selbstverständnis untreu zu werden. Gebt den Anspruch nicht auf, Vielfalt und Inklusion zu verteidigen, aber fragt euch, welche Mittel dazu taugen und was ihr dafür aufs Spiel setzt. Fragt euch, ob eine Sprache, die unentwegt auf die jeweilige Sprecherposition reflektiert und auf deren Anerkennung pocht, ob eine solche Sprache in der Lage ist, die großen Themen wie Freiheit, globale Gerechtigkeit und die Unverletzlichkeit der universalen Menschenrechte fruchtbar und handlungsorientiert zu diskutieren.
Radetzkaja: Und genau solche Effekte muss ein kritisches Bewusstsein für Sprache reflektieren! Eine freie Gesellschaft, in der die Menschen fähig sind, „ohne Angst verschieden zu sein“, das ist ein Zitat von Adorno, lebt nicht zuletzt aus der Freiheit der Rede. In diesem Sinn ist Sprachkritik immer auch Zeitkritik.