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Im Reich der Riesenschlange

Paläontologie. - Schwer wie ein modernes Mittelklasseauto und lang wie ein Omnibus, so wälzte sich die größte Schlange der Welt vor rund 60 Millionen Jahren durch Südamerika. In der aktuellen "Nature" wird sie vorgestellt.

Von Michael Lange |
    Boas und Anakondas von heute würden neben dieser Urzeitschlange aussehen wie Regenwürmer. Selbst Hollywood hat noch kein derartig gewaltiges Ungeheuer geschaffen. Die Riesenboa "Titanoboa cerrejonensis" lebte vor 58 bis 60 Millionen Jahren in den Regenwäldern Südamerikas. Beim Abbau von Kohle mit einem Bagger wurden in Kolumbien die Fossilien von insgesamt acht Riesenschlangen entdeckt, außerdem einige Jungtiere. Gemeinsam mit Paläontologen und Biologen aus den USA hat Jason Head von der Universität von Toronto in Kanada die versteinerten Überbleibsel des Monsters untersucht.

    "Die Größe der Riesenschlange können wir abschätzen - anhand der Wirbel-Fossilien, die wir gefunden haben. Die Schlange war etwa 13 bis 15 Meter lang und wog eineinviertel Tonnen. Größer als alle lebenden oder ausgestorbenen Arten, die wir kennen."

    Etwa so schwer wie ein Mittelklassewagen und so lang wie ein Autobus. Schon der Durchmesser der Riesenschlange war beeindruckend. Einem Menschen würde sie bis zur Hüfte reichen. Um dieses wechselwarme Reptil am Leben zu erhalten, war eine Menge Nahrung notwendig. Head:

    "Die Felsen, in denen wir die Fossilien finden, lagen einst in einem gewaltigen System von Flüssen und Seen - vielleicht vergleichbar mit dem heutigen Amazonas-Delta. Die Tiere lebten in Regenwäldern und glichen in ihrer Lebensweise den heutigen Anakondas. Ihre bevorzugte Nahrung waren wohl Krokodile. Denn wir haben auch eine große Anzahl primitiver Krokodile in der Nähe entdeckt."

    Aus den Funden ziehen die Forscher nicht nur Schlüsse über die Lebensweise der Riesenschlangen und ihren Lebensraum. Sie können sogar Aussagen über das Klima vor 58 bis 60 Millionen Jahren machen. Head:

    "Von heutigen Schlangen wissen wir, dass eine bestimmte Temperatur notwendig ist, damit wechselwarme Tiere wie Schlangen eine bestimmte Größe erreichen können. So lässt sich eine Gleichung aufstellen. Sie beschreibt den Zusammenhang zwischen der durchschnittlichen Temperatur sowie der Größe der Schlange und deren Stoffwechsel."

    So errechneten die Forscher aus der Größe der Schlange die damalige Durchschnittstemperatur, wie sie in der Nähe des Äquators herrschte. Sie betrug 32 bis 33 Grad Celsius. Das ist etwa sechs bis sieben Grad höher als die heutigen Durchschnittstemperaturen in dieser Region. Head:

    "In den Wärmeperioden der Erdgeschichte - wie vor 58 bis 60 Millionen Jahren - waren die Eiskappen der Pole vollkommen abgeschmolzen. Nun wissen wir, dass genau zu dieser Zeit auch die Temperaturen in Äquatornähe deutlich höher waren als heute."

    Kaum vorstellbar: Noch wärmer und noch feuchter als im tropischen Regenwald von heute. Genau richtig, damit 15 Meter lange Schlangen sich wohlfühlen und ausreichend Nahrung finden. Für Menschen wäre das sicher kein angenehmer Lebensraum gewesen.