Am Morgen des 9. Oktober 1941 erhielt Howard Smith, amerikanischer Korrespondent in Berlin, einen Anruf aus dem Propagandaministerium: Er solle um zwölf Uhr mittags zu einer Sonderpressekonferenz in die Wilhelmstraße kommen; es handle sich um etwas außerordentlich Wichtiges. Was er dort zu hören bekam, war in der Tat eine Sensation: Die letzten Reste der Roten Armee seien, so hieß es, eingekesselt worden und gingen ihrer Vernichtung entgegen. Die Sowjetunion sei damit "militärisch erledigt". In seinen Erinnerungen beschreibt Smith die Reaktion der versammelten Journalisten:
Die Agenturleute stürzten durch den Gang zu den Telefonen und gaben kurze, brandheiße Meldungen an ihre Büros durch. Die Korrespondenten der Achsenmächte klatschten und jubelten.
Was als Propagandacoup inszeniert wurde, war in Wirklichkeit eines der größten Informationsdesaster des NS-Regimes. Denn nur wenige Wochen später, im Dezember 1941, erwies sich, dass die Sowjetunion noch keineswegs besiegt war. Im Gegenteil: das Scheitern des deutschen "Blitzkriegs" vor den Toren Moskaus bedeutete den Anfang vom Ende des "Dritten Reiches". Der Mann, der die voreilige Siegesmeldung in die Welt setzte, war kein anderer als Otto Dietrich, Hitlers Pressechef. Mit ihm hat sich die historische Forschung bislang kaum beschäftigt. Er stand ganz im Schatten von Josef Goebbels, dem scheinbar alle Medien des NS-Staates kontrollierenden Propagandaminister. Eine nun erschienene Biografie bemüht sich, hier korrigierende Akzente zu setzen. Ihr Autor, der Historiker Stefan Krings, hatte als Erster Zugang zum persönlichen Nachlass Otto Dietrichs. Darüber hinaus hat er in zahlreichen Archiven des In- und Auslands geforscht, darunter im Russischen Staatlichen Militärarchiv Moskau, in dem umfangreiche Bestände des Propagandaministeriums aufbewahrt werden, welche die Rote Armee 1945 erbeutet hatte. Krings schildert den 1897 geborenen Sohn eines Essener Kaufmanns als typischen Vertreter der jungen Frontgeneration. Im März 1915 meldete sich der 17-jährige Unterprimaner freiwillig zum Kriegseinsatz; dreieinhalb Jahre lag er mit seinem Regiment in vorderster Linie an der Westfront. Die "Gemeinschaft des Schützengrabens" wurde für ihn zur prägenden Erfahrung. Von hier aus führte auch eine Brücke zum Nationalsozialismus. 1928, zehn Jahre nach der militärischen Niederlage und dem Ende des Kaiserreichs, schrieb Dietrich:
Erst wenn aus dem Geist der Front heraus das freie, nationale und soziale Großdeutschland der Zukunft geboren ist, wird den gefallenen Helden das Denkmal errichtet sein, das ihrer Opfer wert ist.
Wie viele andere Frontkämpfer hatte Dietrich zunächst Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen. Nach Studium und Promotion fand er erst Mitte der 20er-Jahre eine Anstellung als Redakteur bei der "Essener Allgemeinen Zeitung". Dank der Protektion seines Schwiegervaters, des Essener Verlegers und radikalen völkischen Nationalisten Theodor Reismann-Grone, wurde er 1928 leitender Handelsredakteur bei der "München-Augsburger Abendzeitung". Im folgenden Jahr trat er der NSDAP bei – zu einem Zeitpunkt, als die Hitler-Partei kurz vor ihrem Durchbruch zur politischen Massenbewegung stand. Im April 1931 berief ihn Hitler zum Leiter der neugegründeten Reichspressestelle. Im Dauer-Wahlkampfjahr 1932 zählte er bereits zu Hitlers ständiger Begleitung. Er organisierte die spektakulären "Deutschlandflüge", mittels derer der Parteiführer von einer Massenkundgebung zur nächsten eilen konnte. In seinem 1933 erschienenen Buch "Mit Hitler in die Macht" feierte er den "Führer" der NSDAP als den gottgesandten "Erlöser" und "Retter der Nation". Selbst bei schwerem Unwetter habe er "absolute Ruhe" ausgestrahlt:
In jeder Stunde der Gefahr beherrschte ihn der felsenfeste Glaube an seine weltgeschichtliche Mission, die unerschütterliche Zuversicht, dass die Vorsehung ihn für die Erfüllung seiner großen Aufgabe vor Unheil bewahren wird.
Mit diesem Buch, das sich binnen sechs Wochen 100.000 Mal verkaufte, trug Dietrich nicht unwesentlich dazu bei, den Führer-Mythos zu popularisieren. Umso enttäuschter war er, dass Hitler nach der Machteroberung nicht ihn, sondern seinen wirtschaftspolitischen Berater Walther Funk zum Pressechef der neuen Reichsregierung ernannte. Dietrich blieb offiziell nur für die Parteizeitungen zuständig, tatsächlich aber übte er, wie gezeigt wird, einen erheblichen Einfluss auf die Gleichschaltung der gesamten deutschen Presse aus. Stefan Krings wirft ein Schlaglicht auf eines der trübsten Kapitel der deutschen Mediengeschichte: Ende April 1933 wählte eine Delegiertenversammlung des "Reichsverbandes der Deutschen Presse" Otto Dietrich zum neuen Vorsitzenden; gleichzeitig fasste sie den Beschluss, Juden und sogenannte "Marxisten" nicht mehr in der Organisation zu dulden. Ausführlich erörtert der Autor die Motive für diesen Akt der Selbstunterwerfung unter die Ansprüche des sich erst formierenden totalitären Staates. Er unterstreicht die Angst vor Repression, die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes, vor allem aber die Tatsache, dass sich die politischen Vorstellungen der bürgerlichen Journalisten partiell mit denen der Nationalsozialisten deckten, etwa was die Revision des Versailler Vertrages betraf. Einen großen Teil seines Buches widmet Krings dem Kompetenzgerangel zwischen den verschiedenen Partei- und Regierungsstellen auf dem Pressesektor, vor allem zwischen Dietrich und Goebbels selbst. 1938, nach dem Ausscheiden Walther Funks, holte der Propagandaminister den Konkurrenten als Staatssekretär und neuen Reichspressechef in sein Ministerium, in der Hoffnung, ihn dadurch unter Kontrolle halten zu können.
Dietrich muss bei uns eingeschmolzen werden, notierte er in sein Tagebuch. Doch dieses Kalkül ging nicht auf. Zwar war Dietrich nun formal dem Minister unterstellt, tatsächlich agierte er aber weiter sehr selbstständig, ja selbstherrlich. Dabei besaß er gegenüber Goebbels einen Vorteil, nämlich den des leichteren Zugangs zu Hitler. Vor allem in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs, als er ständig in der Nähe des Diktators im Führerhauptquartier weilte, konnte er immer wieder "Führer"-Weisungen in seinem Sinne einholen und eigene Wünsche auch gegen Goebbels durchsetzen. Sein Ziel, Chef eines eigenen Presseministeriums zu werden, erreichte Dietrich allerdings nicht. Und in den letzten Kriegsjahren verlor er im Machtkampf mit Goebbels zusehends an Boden. Der Propagandaminister vermochte Hitler schließlich davon zu überzeugen, dass sein Pressechef für die nun zu bestehenden Krisenzeiten nicht die nötige Härte mitbringe. Ende März 1945 wurde Dietrich "beurlaubt"; die letzten Wochen des "Dritten Reiches" verbrachte er in einem Berchtesgadener Hotel. Im August stellte er sich freiwillig den Alliierten. Wie viele andere hohe NS-Funktionäre leugnete er, von den Verbrechen des Nationalsozialismus gewusst zu haben. Und er versuchte, seine eigene Rolle bei der Gleichschaltung und Lenkung der Presse herunterzuspielen: Er habe Hitler nur als eine Art "Postbote" gedient. Seiner Tochter schrieb er aus dem Nürnberger Gerichtsgefängnis:
Ich handelte stets in gutem Glauben und aus vaterländischen Motiven. Wenn das ein Verbrechen ist, dann bin ich ebenso schuldig und ebenso wenig schuldig wie 70 Millionen Deutsche.
Im Wilhelmstraßen-Prozess wurde Dietrich 1949 zu sieben Jahren Haft verurteilt, schon ein Jahr später im August jedoch aus der Landsberger Anstalt entlassen. Er starb im November 1952. In seinen posthum veröffentlichten Erinnerungen "12 Jahre mit Hitler" stellte er sich wie auch die Deutschen insgesamt als verführt und missbraucht dar. Stefan Krings' aufschlussreiche Biografie rückt nicht nur das Bild zurecht, das Dietrich von sich selbst gezeichnet hat, sondern sie korrigiert auch die bisherige Fixierung der historischen Forschung auf Goebbels als die Zentralfigur der NS-Propaganda. Auf dem Felde der Pressepolitik war Dietrich zeitweilig seinem Rivalen durchaus ebenbürtig. So ist dieses Buch über die rein biografische Darstellung hinaus auch ein wichtiger Beitrag zur Mediengeschichte des "Dritten Reiches".
Volker Ullrich war das über: Stefan Krings: Hitlers Pressechef Otto Dietrich, 1897 bis 1952. Eine Biografie. Erschienen im Wallstein- Verlag, 544 Seiten und kostet 58,00 Euro, ISBN 978-3-8353-0633-2.
Die Agenturleute stürzten durch den Gang zu den Telefonen und gaben kurze, brandheiße Meldungen an ihre Büros durch. Die Korrespondenten der Achsenmächte klatschten und jubelten.
Was als Propagandacoup inszeniert wurde, war in Wirklichkeit eines der größten Informationsdesaster des NS-Regimes. Denn nur wenige Wochen später, im Dezember 1941, erwies sich, dass die Sowjetunion noch keineswegs besiegt war. Im Gegenteil: das Scheitern des deutschen "Blitzkriegs" vor den Toren Moskaus bedeutete den Anfang vom Ende des "Dritten Reiches". Der Mann, der die voreilige Siegesmeldung in die Welt setzte, war kein anderer als Otto Dietrich, Hitlers Pressechef. Mit ihm hat sich die historische Forschung bislang kaum beschäftigt. Er stand ganz im Schatten von Josef Goebbels, dem scheinbar alle Medien des NS-Staates kontrollierenden Propagandaminister. Eine nun erschienene Biografie bemüht sich, hier korrigierende Akzente zu setzen. Ihr Autor, der Historiker Stefan Krings, hatte als Erster Zugang zum persönlichen Nachlass Otto Dietrichs. Darüber hinaus hat er in zahlreichen Archiven des In- und Auslands geforscht, darunter im Russischen Staatlichen Militärarchiv Moskau, in dem umfangreiche Bestände des Propagandaministeriums aufbewahrt werden, welche die Rote Armee 1945 erbeutet hatte. Krings schildert den 1897 geborenen Sohn eines Essener Kaufmanns als typischen Vertreter der jungen Frontgeneration. Im März 1915 meldete sich der 17-jährige Unterprimaner freiwillig zum Kriegseinsatz; dreieinhalb Jahre lag er mit seinem Regiment in vorderster Linie an der Westfront. Die "Gemeinschaft des Schützengrabens" wurde für ihn zur prägenden Erfahrung. Von hier aus führte auch eine Brücke zum Nationalsozialismus. 1928, zehn Jahre nach der militärischen Niederlage und dem Ende des Kaiserreichs, schrieb Dietrich:
Erst wenn aus dem Geist der Front heraus das freie, nationale und soziale Großdeutschland der Zukunft geboren ist, wird den gefallenen Helden das Denkmal errichtet sein, das ihrer Opfer wert ist.
Wie viele andere Frontkämpfer hatte Dietrich zunächst Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen. Nach Studium und Promotion fand er erst Mitte der 20er-Jahre eine Anstellung als Redakteur bei der "Essener Allgemeinen Zeitung". Dank der Protektion seines Schwiegervaters, des Essener Verlegers und radikalen völkischen Nationalisten Theodor Reismann-Grone, wurde er 1928 leitender Handelsredakteur bei der "München-Augsburger Abendzeitung". Im folgenden Jahr trat er der NSDAP bei – zu einem Zeitpunkt, als die Hitler-Partei kurz vor ihrem Durchbruch zur politischen Massenbewegung stand. Im April 1931 berief ihn Hitler zum Leiter der neugegründeten Reichspressestelle. Im Dauer-Wahlkampfjahr 1932 zählte er bereits zu Hitlers ständiger Begleitung. Er organisierte die spektakulären "Deutschlandflüge", mittels derer der Parteiführer von einer Massenkundgebung zur nächsten eilen konnte. In seinem 1933 erschienenen Buch "Mit Hitler in die Macht" feierte er den "Führer" der NSDAP als den gottgesandten "Erlöser" und "Retter der Nation". Selbst bei schwerem Unwetter habe er "absolute Ruhe" ausgestrahlt:
In jeder Stunde der Gefahr beherrschte ihn der felsenfeste Glaube an seine weltgeschichtliche Mission, die unerschütterliche Zuversicht, dass die Vorsehung ihn für die Erfüllung seiner großen Aufgabe vor Unheil bewahren wird.
Mit diesem Buch, das sich binnen sechs Wochen 100.000 Mal verkaufte, trug Dietrich nicht unwesentlich dazu bei, den Führer-Mythos zu popularisieren. Umso enttäuschter war er, dass Hitler nach der Machteroberung nicht ihn, sondern seinen wirtschaftspolitischen Berater Walther Funk zum Pressechef der neuen Reichsregierung ernannte. Dietrich blieb offiziell nur für die Parteizeitungen zuständig, tatsächlich aber übte er, wie gezeigt wird, einen erheblichen Einfluss auf die Gleichschaltung der gesamten deutschen Presse aus. Stefan Krings wirft ein Schlaglicht auf eines der trübsten Kapitel der deutschen Mediengeschichte: Ende April 1933 wählte eine Delegiertenversammlung des "Reichsverbandes der Deutschen Presse" Otto Dietrich zum neuen Vorsitzenden; gleichzeitig fasste sie den Beschluss, Juden und sogenannte "Marxisten" nicht mehr in der Organisation zu dulden. Ausführlich erörtert der Autor die Motive für diesen Akt der Selbstunterwerfung unter die Ansprüche des sich erst formierenden totalitären Staates. Er unterstreicht die Angst vor Repression, die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes, vor allem aber die Tatsache, dass sich die politischen Vorstellungen der bürgerlichen Journalisten partiell mit denen der Nationalsozialisten deckten, etwa was die Revision des Versailler Vertrages betraf. Einen großen Teil seines Buches widmet Krings dem Kompetenzgerangel zwischen den verschiedenen Partei- und Regierungsstellen auf dem Pressesektor, vor allem zwischen Dietrich und Goebbels selbst. 1938, nach dem Ausscheiden Walther Funks, holte der Propagandaminister den Konkurrenten als Staatssekretär und neuen Reichspressechef in sein Ministerium, in der Hoffnung, ihn dadurch unter Kontrolle halten zu können.
Dietrich muss bei uns eingeschmolzen werden, notierte er in sein Tagebuch. Doch dieses Kalkül ging nicht auf. Zwar war Dietrich nun formal dem Minister unterstellt, tatsächlich agierte er aber weiter sehr selbstständig, ja selbstherrlich. Dabei besaß er gegenüber Goebbels einen Vorteil, nämlich den des leichteren Zugangs zu Hitler. Vor allem in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs, als er ständig in der Nähe des Diktators im Führerhauptquartier weilte, konnte er immer wieder "Führer"-Weisungen in seinem Sinne einholen und eigene Wünsche auch gegen Goebbels durchsetzen. Sein Ziel, Chef eines eigenen Presseministeriums zu werden, erreichte Dietrich allerdings nicht. Und in den letzten Kriegsjahren verlor er im Machtkampf mit Goebbels zusehends an Boden. Der Propagandaminister vermochte Hitler schließlich davon zu überzeugen, dass sein Pressechef für die nun zu bestehenden Krisenzeiten nicht die nötige Härte mitbringe. Ende März 1945 wurde Dietrich "beurlaubt"; die letzten Wochen des "Dritten Reiches" verbrachte er in einem Berchtesgadener Hotel. Im August stellte er sich freiwillig den Alliierten. Wie viele andere hohe NS-Funktionäre leugnete er, von den Verbrechen des Nationalsozialismus gewusst zu haben. Und er versuchte, seine eigene Rolle bei der Gleichschaltung und Lenkung der Presse herunterzuspielen: Er habe Hitler nur als eine Art "Postbote" gedient. Seiner Tochter schrieb er aus dem Nürnberger Gerichtsgefängnis:
Ich handelte stets in gutem Glauben und aus vaterländischen Motiven. Wenn das ein Verbrechen ist, dann bin ich ebenso schuldig und ebenso wenig schuldig wie 70 Millionen Deutsche.
Im Wilhelmstraßen-Prozess wurde Dietrich 1949 zu sieben Jahren Haft verurteilt, schon ein Jahr später im August jedoch aus der Landsberger Anstalt entlassen. Er starb im November 1952. In seinen posthum veröffentlichten Erinnerungen "12 Jahre mit Hitler" stellte er sich wie auch die Deutschen insgesamt als verführt und missbraucht dar. Stefan Krings' aufschlussreiche Biografie rückt nicht nur das Bild zurecht, das Dietrich von sich selbst gezeichnet hat, sondern sie korrigiert auch die bisherige Fixierung der historischen Forschung auf Goebbels als die Zentralfigur der NS-Propaganda. Auf dem Felde der Pressepolitik war Dietrich zeitweilig seinem Rivalen durchaus ebenbürtig. So ist dieses Buch über die rein biografische Darstellung hinaus auch ein wichtiger Beitrag zur Mediengeschichte des "Dritten Reiches".
Volker Ullrich war das über: Stefan Krings: Hitlers Pressechef Otto Dietrich, 1897 bis 1952. Eine Biografie. Erschienen im Wallstein- Verlag, 544 Seiten und kostet 58,00 Euro, ISBN 978-3-8353-0633-2.