Im Nahostkonflikt ist der Holocaust allgegenwärtig: Der Staat Israel versteht sich als Antwort auf die Vernichtung der europäischen Juden und die Palästinenser fragen sich bis heute, warum sie unter den Folgen eines Verbrechens in Europa zu leiden haben. Beim Umgang mit dem Holocaust wird gerade im Nahen Osten deutlich, wie politisch die Deutung der Geschichte ist. Der gebürtige Libanese Gilbert Achcar – Professor für Entwicklungsstudien und Internationale Beziehungen in London – stellt sich diesem Problem. Er beleuchtet in seinem Buch "Die Araber und der Holocaust" den Umgang der verschiedenen politischen Strömungen im arabischen Raum mit der Vernichtung der europäischen Juden von der Zeit des Nationalsozialismus bis heute. Dabei verfällt er selbst niemals in Schwarz-Weiß-Denken, schon im Vorwort seines Buches macht er deutlich:
"Selbstverständlich war der Holocaust unvergleichlich grausamer und blutiger als die Nakba. Diese Feststellung mindert allerdings in keiner Weise die Tragödie der Palästinenser, insbesondere, da sie als Volk keinerlei Schuld für die Vernichtung der europäischen Juden trifft."
Achcar argumentiert sachlich und betrachtet beide Seiten auf einer breiten Quellenbasis. Damit schafft er eine Diskussionsgrundlage, der eine breite Rezeption zu wünschen ist. Immer wieder stellt der Politologe dabei das grundsätzliche Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern dar, das von der Nakba, also der Vertreibung der Palästinenser durch die Israelis 1948, und eben vom Holocaust geprägt ist.
"Was die israelisch-palästinensische Problematik heraushebt, ist vor allem die Tatsache, dass es keine andere Bevölkerung gibt, die aktiv an einem kolonialen Siedlerprojekt beteiligt ist und zugleich selbst einer derart dauerhaften und brutalen Form der Verfolgung wie dem europäischen Antisemitismus entkommen ist, oder die aus Überlebenden eines derart abgründigen Verbrechens gegen die Menschlichkeit bestand."
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil befasst sich Achcar mit der zeitgenössischen Reaktion der Araber auf den Holocaust. Im zweiten Teil geht es dann um die Zeit seit der Nakba 1948 bis heute. Besonders interessant ist aus hiesiger Sicht, welch unterschiedliche und vielfältige politische Strömungen es zur Zeit des Nationalsozialismus im arabischen Raum gab. Von "den Arabern" kann nicht die Rede sein, darauf weist der Autor hin. Gleichzeitig wendet er sich gegen vereinfachende Darstellungen aus dem Westen, nach denen letztlich alle Araber die Juden angeblich ins Meer treiben wollten. Dabei waren laut Achcar die meisten der politischen Strömungen Gegner der Nationalsozialisten. Liberale, Marxisten und Nationalisten im Nahen Osten lehnten in der überwältigenden Mehrheit die Politik Hitlers ab. Als vierte Strömung beschreibt Achcar die Pan-Islamisten, die einen einheitlichen islamischen Staat anstrebten. Tendenziell – so der Autor - sah diese Strömung alle Juden als Zionisten an, die Palästina den Palästinensern entreißen wollten. Dieses Einfallstor für den Antisemitismus nutzten radikale Kräfte wie der Großmufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini, der auch die Vernichtung der europäischen Juden befürwortete. Die Politik des religiösen Führers war nach Achcars Meinung verheerend. Nach seinen Worten stand sie einer einvernehmlichen Lösung zwischen Palästinensern und Juden im Weg und bereitete so die Vertreibung der Palästinenser vor.
"Durch die zahlreichen Niederlagen unter Husseinis verhängnisvoller Führung hätten die Palästinenser nach 1945 die Katastrophe der Nakba nur verhindern können, wenn sie den politischen Einfluss dieser unrühmlichen Persönlichkeit ein für alle Mal gebrochen und sich auf der Grundlage des von den arabischen Regierungen 1946 formulierten Programms um eine Abmachung mit den jüdischen Anhängern eines bi-nationalen Staats bemüht hätten."
Aufgrund eines fehlenden palästinensischen Staates setzte sich auf Seiten der Palästinenser bis heute insbesondere der Islamismus als wichtigste Ideologie durch. Dies lässt sich aus Achcars Analyse im zweiten Teil des Buches ablesen, wobei er selbst zu wenig auf diesen Zusammenhang hinweist. In drei Abschnitten beschäftigt sich der Autor in diesem Teil seines Werks zunächst mit der Zeit des nationalistischen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser bis zum Sechstagekrieg von 1967, dann mit der PLO im Exil und schließlich mit der Zeit seit der ersten Intifada 1988. Dabei gehört es bis heute quasi zum Alltag, die jeweils andere Seite mit den Nationalsozialisten zu vergleichen. Er schreibt:
"Ein maßloser Vergleich steht gegen den anderen: Warum ist es weniger schockierend, wenn man eroberte Völker, die besetzt, entwurzelt und zu Flüchtlingen gemacht wurden, mit den Nazis vergleicht, als wenn man eine Besatzungsarmee, die Gebiete von vier Nachbarländern erobert hat, mit diesem Vergleich belegt? Wodurch wird die Erinnerung an die Opfer des Holocaust schlimmer missachtet: durch den Vergleich des Staates, der das Erbe dieser Opfer zu verkörpern behauptet, mit dem Nationalsozialismus oder durch das Verhalten dieses Staates, der als expansionistischer Eroberer ganze Bevölkerungen unterworfen und auf diese Weise diesen irritierenden Vergleich provoziert hat?"
Nach Achcars Meinung kann man einem unterdrückten und weniger gebildeten Volk wie den Palästinensern den Vergleich des Gegners mit den Nazis eher nachsehen als den gebildeten Israelis. Das mag sein, dennoch: Der Nazi-Vergleich hilft niemandem. Dies hätte der Autor noch deutlicher machen sollen, denn die Haltlosigkeit des Vergleichs der Politik aller Seiten im Nahen Osten mit dem Holocaust ist schließlich sein Thema. Weder wollen "die Palästinenser" "die Juden" vernichten noch umgekehrt. Sicher gibt es radikale Strömungen im arabischen Raum, die nicht nur den Holocaust leugnen, sondern auch Vernichtungsfanatien anhängen. Auf der anderen Seite gibt es in der heutigen israelischen Regierung Politiker, die den Transfer der Palästinenser aus Israel respektive Palästina hinaus befürworten. Achcar kritisiert in seinem Buch beide Seiten, aber auch den Umgang des Westens mit dem Thema auf einer breiten analytischen Basis. Für den Frieden im Nahen Osten ist solch eine Aufarbeitung von Geschichte und Gegenwart unerlässlich wichtig. Deswegen ist die nicht immer einfache Lektüre des Buches von Gilbert Achcar uneingeschränkt zu empfehlen.
Gilbert Achcar: "Die Araber und der Holocaust – Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen"
Edition Nautilus,
368 Seiten, 28,00 Euro
ISBN: 978-3-89401-758-3
"Selbstverständlich war der Holocaust unvergleichlich grausamer und blutiger als die Nakba. Diese Feststellung mindert allerdings in keiner Weise die Tragödie der Palästinenser, insbesondere, da sie als Volk keinerlei Schuld für die Vernichtung der europäischen Juden trifft."
Achcar argumentiert sachlich und betrachtet beide Seiten auf einer breiten Quellenbasis. Damit schafft er eine Diskussionsgrundlage, der eine breite Rezeption zu wünschen ist. Immer wieder stellt der Politologe dabei das grundsätzliche Verhältnis zwischen Israelis und Palästinensern dar, das von der Nakba, also der Vertreibung der Palästinenser durch die Israelis 1948, und eben vom Holocaust geprägt ist.
"Was die israelisch-palästinensische Problematik heraushebt, ist vor allem die Tatsache, dass es keine andere Bevölkerung gibt, die aktiv an einem kolonialen Siedlerprojekt beteiligt ist und zugleich selbst einer derart dauerhaften und brutalen Form der Verfolgung wie dem europäischen Antisemitismus entkommen ist, oder die aus Überlebenden eines derart abgründigen Verbrechens gegen die Menschlichkeit bestand."
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil befasst sich Achcar mit der zeitgenössischen Reaktion der Araber auf den Holocaust. Im zweiten Teil geht es dann um die Zeit seit der Nakba 1948 bis heute. Besonders interessant ist aus hiesiger Sicht, welch unterschiedliche und vielfältige politische Strömungen es zur Zeit des Nationalsozialismus im arabischen Raum gab. Von "den Arabern" kann nicht die Rede sein, darauf weist der Autor hin. Gleichzeitig wendet er sich gegen vereinfachende Darstellungen aus dem Westen, nach denen letztlich alle Araber die Juden angeblich ins Meer treiben wollten. Dabei waren laut Achcar die meisten der politischen Strömungen Gegner der Nationalsozialisten. Liberale, Marxisten und Nationalisten im Nahen Osten lehnten in der überwältigenden Mehrheit die Politik Hitlers ab. Als vierte Strömung beschreibt Achcar die Pan-Islamisten, die einen einheitlichen islamischen Staat anstrebten. Tendenziell – so der Autor - sah diese Strömung alle Juden als Zionisten an, die Palästina den Palästinensern entreißen wollten. Dieses Einfallstor für den Antisemitismus nutzten radikale Kräfte wie der Großmufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini, der auch die Vernichtung der europäischen Juden befürwortete. Die Politik des religiösen Führers war nach Achcars Meinung verheerend. Nach seinen Worten stand sie einer einvernehmlichen Lösung zwischen Palästinensern und Juden im Weg und bereitete so die Vertreibung der Palästinenser vor.
"Durch die zahlreichen Niederlagen unter Husseinis verhängnisvoller Führung hätten die Palästinenser nach 1945 die Katastrophe der Nakba nur verhindern können, wenn sie den politischen Einfluss dieser unrühmlichen Persönlichkeit ein für alle Mal gebrochen und sich auf der Grundlage des von den arabischen Regierungen 1946 formulierten Programms um eine Abmachung mit den jüdischen Anhängern eines bi-nationalen Staats bemüht hätten."
Aufgrund eines fehlenden palästinensischen Staates setzte sich auf Seiten der Palästinenser bis heute insbesondere der Islamismus als wichtigste Ideologie durch. Dies lässt sich aus Achcars Analyse im zweiten Teil des Buches ablesen, wobei er selbst zu wenig auf diesen Zusammenhang hinweist. In drei Abschnitten beschäftigt sich der Autor in diesem Teil seines Werks zunächst mit der Zeit des nationalistischen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser bis zum Sechstagekrieg von 1967, dann mit der PLO im Exil und schließlich mit der Zeit seit der ersten Intifada 1988. Dabei gehört es bis heute quasi zum Alltag, die jeweils andere Seite mit den Nationalsozialisten zu vergleichen. Er schreibt:
"Ein maßloser Vergleich steht gegen den anderen: Warum ist es weniger schockierend, wenn man eroberte Völker, die besetzt, entwurzelt und zu Flüchtlingen gemacht wurden, mit den Nazis vergleicht, als wenn man eine Besatzungsarmee, die Gebiete von vier Nachbarländern erobert hat, mit diesem Vergleich belegt? Wodurch wird die Erinnerung an die Opfer des Holocaust schlimmer missachtet: durch den Vergleich des Staates, der das Erbe dieser Opfer zu verkörpern behauptet, mit dem Nationalsozialismus oder durch das Verhalten dieses Staates, der als expansionistischer Eroberer ganze Bevölkerungen unterworfen und auf diese Weise diesen irritierenden Vergleich provoziert hat?"
Nach Achcars Meinung kann man einem unterdrückten und weniger gebildeten Volk wie den Palästinensern den Vergleich des Gegners mit den Nazis eher nachsehen als den gebildeten Israelis. Das mag sein, dennoch: Der Nazi-Vergleich hilft niemandem. Dies hätte der Autor noch deutlicher machen sollen, denn die Haltlosigkeit des Vergleichs der Politik aller Seiten im Nahen Osten mit dem Holocaust ist schließlich sein Thema. Weder wollen "die Palästinenser" "die Juden" vernichten noch umgekehrt. Sicher gibt es radikale Strömungen im arabischen Raum, die nicht nur den Holocaust leugnen, sondern auch Vernichtungsfanatien anhängen. Auf der anderen Seite gibt es in der heutigen israelischen Regierung Politiker, die den Transfer der Palästinenser aus Israel respektive Palästina hinaus befürworten. Achcar kritisiert in seinem Buch beide Seiten, aber auch den Umgang des Westens mit dem Thema auf einer breiten analytischen Basis. Für den Frieden im Nahen Osten ist solch eine Aufarbeitung von Geschichte und Gegenwart unerlässlich wichtig. Deswegen ist die nicht immer einfache Lektüre des Buches von Gilbert Achcar uneingeschränkt zu empfehlen.
Gilbert Achcar: "Die Araber und der Holocaust – Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen"
Edition Nautilus,
368 Seiten, 28,00 Euro
ISBN: 978-3-89401-758-3