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Im Theater: "China Shipping"

In Kartons kann man nur bedingt Theater spielen, meint unser Rezensent Christian Gampert, und das bringt den Gesamteindruck dieser Inszenierung wohl auf den Punkt. Ein bisschen 50er-Jahre-Brecht und das Setzen auf Statuarik kommen hinzu - letztlich alles wohl eine Frage des Geschmacks.

Von Christian Gampert |
    Tschechows drei Schwestern sehnten sich nach Moskau und vertrockneten in der Provinz; heute ist man global mobil und sehnt sich nach einem Zuhause, einer Verbindlichkeit oder zumindest einer Herkunft. Ulrike Syha dreht Tschechows Grundsituation einfach um: Ihre Figuren, bundesdeutsche Mittdreißiger der aufgeklärt-akademischen Sorte, haben halblebige Jobs, halblebige Beziehungen und eben keinen Spaß an gar nichts. Die Kurz-Interviews, die als passbildartige Filmeinspielungen dem Stück Struktur geben sollen, zeigen eine verlegene Verwirrtheit, wenn Fragen nach dem Glück oder nach Kindern gestellt werden.

    Das ist schön, und das ist schon das Beste an Alexander Tulls Tübinger Inszenierung, die Syhas Text ganz naiv vom Blatt spielt. Syhas Stücke zeichnen sich dadurch aus, dass die Autorin ein zweites Stockwerk in die Handlung einzieht, eine Reflexionsebene, in der einzelne Figuren sich selber kommentieren und in Frage stellen. In "China Shipping" ist das die selbstzweiflerische Helene, eine Diplom-Chemikerin, die leicht unterfordert im Vorzimmer eines Pharma-Unternehmens sitzt, auch noch als Schwangerschafts-Vertretung. Sie ist die einzige, die einen Ausbruch zumindest plant: Sie nimmt eine Stelle in China an, die sonst niemand will, während ihre Schwestern im bundesdeutschen Normalmief versacken – die von ihrer apathischen Ehe gefrustete Marie beginnt eine Affäre mit einem Aufschneider, der sie natürlich sitzen lässt; und Irina ist eine rotzige Kunststudentin mit einem emanzipiert-asexuellen Interesse für Asylanten. Halbbruder Till, einst mit Zukunft in der Wissenschaft, lässt sich von einer dauerschwangeren Gattin drangsalieren.

    Die Bezüge zu Tschechow sind locker, die Bezüge zu anderen Syha-Stücken schon deutlicher. Vor allem die ersten Szenen, die von reflektierenden Einschüben der Hauptfigur durchsetzt sind, schaffen eine schöne Spannung zwischen dem, was man denkt, und dem, was man sagt und tut. Natürlich ist das eine filmische Erzählweise, und man fragt sich beim Lesen, wieso diese Texte als Theaterstücke firmieren und nicht als Filmskripte. Es ist die klassische Stimme aus dem Off, die da spricht. Und es ist – bei "China Shipping" - ein sehr alltäglicher, bisweilen witziger und selbstironischer, aber oft auch redundanter bundesdeutscher Schnellsprech, mit dem Ulrike Syha die Figuren durch katastrophenträchtige Familienfeste wie Taufe und Weihnachten jagt. Man hätte also mutig kürzen müssen, was bei Erstaufführungen nur bedingt geht; vor allem aber hätte man für das Flüchtige, Beziehungslose, Verlorene dieser Figuren eine – beiläufige - Erzählweise finden müssen.

    Der Regisseur Alexander Tull dagegen setzt zunächst auf Statuarik. Die gesamte erste Szene (und noch einmal am bitteren Ende) stehen die Schauspieler heroisch herum, blicken mit triefäugiger Bedeutsamkeit ins Publikum und sagen ihre Beziehungs-Konfusionen als Frontalunterricht auf. Was ist das? Ein 50er-Jahre-Brecht, der uns auf einmal "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" nahebringen will? Auch später gelingt es der Inszenierung nicht, die Szenen zu verflüssigen. Die Bühnenbildnerin Gitti Scherer hat eine Art Gebrauchtwarenlager mit sehr vielen Umzugskartons hingestellt, um uns das Ruhelose dieser Existenzen plakathaft aufs Auge zu drücken. Allerdings kann man in Kartons nur bedingt Theater spielen. Zudem quält der Regisseur das Publikum (nicht nur in den Umbaupausen) mit seinen Lieblings-CDs, die zum Teil in voller Länge abgenudelt werden – aus Tschechows sehnsüchtigem "Nach Moskau!" wird, im Zeitalter globalisierter Spießigkeit, nun "Country Roads, take me home".

    Ob die Autorin mit dieser Uraufführung glücklich ist, darf sehr bezweifelt werden – das Unwirkliche, Dunkle, Halluzinatorische, das Syha sonst bedient, bleibt in Tübingen völlig auf der Strecke, der Wunsch, dem Unglück zu entgehen, bleibt flach. Der Regisseur nimmt den Text ganz realistisch, und das ergibt dann nur eine Aneinanderreihung banaler Familiensituationen in kritischer Absicht. Aber auch Syha selber agiert hier unter ihren Möglichkeiten: Ihre drei Schwestern sind eben auch drei ziemliche Schwatzbasen.