Archiv

Juli Zeh und Simon Urban: "Zwischen Welten"
Im Zangengriff der Gegenwart

Die öffentliche Debatte ist vergiftet. Juli Zeh und Simon Urban haben die Sorge um die Gesprächskultur zum Anlass für einen klugen Briefroman genommen, der von gendergerechter Sprache bis zum Ukrainekrieg viele aktuelle Themen aufgreift.

Von Jörg Magenau |
Juli Zeh und Simon Urban: "Zwischen Welten"
Da schwant uns was. Nicht zufällig stehen Juli Zeh und Simon Urban vor leicht bedrohlich wirkendem Stranger-Things-Himmel: Ihr Chatroman "Zwischen Welten" wagt sich klug und lesbar an die brisanten Fragen unserer Zeit. (Portraitfoto: Peter von Felbert / Buchcover: Luchterhand Verlag)
Ein Roman, der aus nichts als E-Mails und WhatsApp-Wortwechseln besteht, klingt eher abschreckend. Schließlich leidet das Dauerrauschen von Social Media doch sowieso unter allzu viel kleinteiliger Dauererregtheit. Soll man sich das auch noch in Romanform antun, 440 Seiten lang?
Die Antwort lautet: Ja, unbedingt. Denn der Briefroman in Emails, den Juli Zeh und Simon Urban gemeinsam verfasst haben, ist nicht nur aufregend und informativ, sondern führt in die Abgründe einer überdrehten Öffentlichkeit, in der jede Nebensache zu eskalieren droht und ein Gespräch immer seltener gelingt.

Nachrichten aus dem Juli-Zeh-Land

Hier versuchen es zwei. Die eine ist die Milchbäuerin Theresa Kallis, 43 Jahre alt, die den Hof ihres Vaters in Brandenburg geerbt hat und gegen jede wirtschaftliche Vernunft und über alle politischen Zumutungen hinweg versucht, mit zweihundert Kühen und ein paar Angestellten, mit Ehemann und zwei Kindern, einigermaßen über die Runden zu kommen. Ihr Hof liegt nur ein paar Dörfer von „Unterleuten“ entfernt, also mitten im fiktiv-realen Juli-Zeh-Land.
Der andere heißt Stefan Jordan, 46 Jahre alt. Er ist Kulturchef des Hamburger Magazins „Der Bote“, das man sich als ein Mittelding zwischen „Zeit“ und „Spiegel“ vorstellen darf. Hochwichtig jedenfalls, vor allem für die, die dort arbeiten. Stefan Jordan gehört dort zur Riege der aufstrebenden Über-alles-Bescheid-Wisser und Welterklärer. Theresa bezeichnet ihn, gehässig aber nicht ganz falsch, als „Volkspädagogen“ in der „Besserungsanstalt Bundesrepublik“.
„Musste laut lachen. Du bist unbezahlbar! Wir reden hier über Existenzfragen unserer Epoche, und du hältst das für Pipifax. Stark.“
„Ich glaube, ihr redet vor allem über euch selbst. Aber ich schreibe dir trotzdem wieder. Hab nur diese Woche viel zu tun.“
Die beiden, die sich in munterem, teils erbittertem Streit austauschen, verbindet zu Beginn nicht viel außer ihrer Vergangenheit in einer Studenten-WG in Münster, die aber schon zwanzig Jahre zurückliegt. Das Verstehen der anderen Lebenswirklichkeit fällt zunächst vor allem Theresa schwer, der die Unmenge von Gendersternchen in Stefans Mails auf die Nerven gehen und die Begriffe wie „White Supremacy“, „CIS-Mann“ oder „Thermomix“ erst einmal googeln muss.

Zwei konträre Aktivisten, die im Gespräch bleiben

Stefan befindet sich in seiner journalistischen Kulturblase in der Hamburger Society im andauernden Kampf gegen Sexismus, Rassismus und Klimazerstörung. Er macht in seiner Redaktion einen Generationenkonflikt aus, bei dem es um die Konfrontation eines altbewährten, auf Objektivität beharrenden Journalismus der Älteren und einem parteilichen, sich auf der Seite des Guten und Wahren sehenden Aktivismus der Jüngeren geht. Stefan steht nicht nur altersmäßig in der Mitte. Wahrheit, so begreift er allmählich, ist auf beiden Seiten vor allem ein Karrierefaktor und eine Spielkarte im Machtpoker.
Die Welt des Bauernhofs ist dagegen überschaubar, könnte man meinen. Doch was Theresa von Milch- und Stillegeprämien, von Schweinepest und Bodenpreisen, Bio-Mais und Pachtverträgen erzählt, verdichtet sich zu dem Gefühl, dass die alleingelassenen Landwirte die letzten Trottel sind, denen es systematisch an den Kragen geht. Ökologie ist, wie sich zeigt, nicht mehr als die Produktion des schönen Scheins für Städter. So wird aus der doch auch dem Guten dienen wollenden Bäuerin Theresa, die zunächst noch ganz auf politische Lösungen setzt, eine Aktivistin, die sich von Stefan als „Jean d’Arc der Querdenker“ beschimpfen lassen muss.
Am Beginn der gemeinsamen Arbeit von Simon Urban und Juli Zeh stand die Sorge um die Debattenkultur in Deutschland, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung glauben, ihre Meinung nicht äußern zu können, ohne sich in Schwierigkeiten zu bringen, dabei aber alle alles lautstark heraustrompeten. Wie Menschen in einem Shitstorm zu Grunde gehen – auch das erzählt der Roman. Zugleich erleben Theresa und Stefan selbst, wie ihnen die Argumente vor allem per WhatsApp entgleisen. Das hat etwas mit der Kürze und Schnelligkeit des Mediums zu tun.

Das Inszenierte ist nicht zu spüren

Es ist also nur konsequent, dass „Zwischen Welten“ in eher epischen E-Mails und knackigen WhatsApp-Wortwechseln erzählt wird. Die Form bestimmt den Inhalt. Die ideologische Verengung der Positionen wird vorgeführt, indem sämtliche aktuellen Debatten um Diversität, Biologismus, kulturelle Aneignung und so weiter aufgegriffen werden. Auch der Krieg in der Ukraine eignet sich als Tummelplatz der Meinungen und Eitelkeiten.
„Für dich ist Putins Einmarsch wahrscheinlich vor allem ein journalistisches Ereignis. Groß, schlimm, skandalös, aber letztlich etwas, über das ihr schreiben werdet.“
Es ist offensichtlich, dass Juli Zeh, die in einem Dorf in der Prignitz lebt, für die Schilderung der bäuerlichen Welt zuständig war und Simon Urban, der in Hamburg wohnt, seine Erfahrungen aus dem dortigen Medienmilieu einbrachte. Das sorgt für Authentizität und Lebendigkeit. Die beiden Figuren haben sie dennoch gemeinsam entworfen und auch den Handlungsverlauf in vielen Arbeitssitzungen gemeinsamen entwickelt. Der Streit zwischen den Figuren ist also in jedem Augenblick kalkuliert. Umso erstaunlicher, dass das Inszenierte an keiner Stelle spürbar wird. Der Handlungsverlauf nimmt alle Positionen geschmeidig in sich auf.

Abbildung des Zeitgefühls der Verlustängste

„Zwischen Welten“ handelt von Annäherungen und vom Sich-Verpassen. Juli Zeh und Simon Urban gelingt es spielerisch leicht, das von Verlusten und Untergangsängsten bestimmte Zeitgefühl unserer klima- und kriegsversehrten Gegenwart sichtbar zu machen, indem sie es in den Zangengriff der Doppelperspektive von Stadt und Land, West und Ost, Mann und Frau, Beobachtung und Teilhabe nehmen. So ist ein brisantes, spannendes, kluges und ganz sicher bestsellertaugliches Stück Gegenwartsliteratur entstanden.
Juli Zeh, Simon Urban: „Zwischen Welten“
Luchterhand, München 2023
444 Seiten, 24 Euro