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Im Zeichen des Zyklus

Die Reihe der deutschen Literaten, die den Weg nach Indien suchten und dort ihr Sehnsuchtsland fanden, ist lang. Als Hermann Hesse Anfang des 20. Jahrhunderts indischen Boden betritt, scheint dieser ihm in aller Magie das nötige Korrektiv für das an der eigenen Zivilisation kränkelnde Europa. Als Günter Grass Ende der 80er Jahre seinen Kalkutta-Bericht Zunge zeigen vorlegt, hat eine zweifelhafte Ästhetisierung des Elends die Überhand genommen, die in der Armut das Insignium des Echten sehen möchte, um es der westlichen konsumgetränkten Selbstverwirklichung entgegenzuhalten.

    An der Konsensgesellschaft namens Westen leidet auch Lukas, der junge Indienfahrer in Ulla Lenzes Debutroman Bruder und Schwester . "Alles verlieren. Die ganzen Voraussetzungen", lautet sein Vorsatz, mit dem er sich nach Indien aufmacht. Nun kehrt er zurück, nach einem Jahr und versucht seiner Schwester verständlich zu machen, was geschehen ist mit ihm. Denn, so seine Worte gleich zu Beginn: "Etwas ist geschehen."

    Tatsächlich hat auch Lukas das unvermeidliche Initiationserlebnis in Indien gehabt: Dort nämlich ist er einem blinden Guru begegnet, dessen Spuren er folgt, bis sie ihn nach Varanasi bringen, wo er die Asche eines längst verstorbenen englischen Offiziers, in dessen Haus Lukas für kurze Zeit lebt, dem Ganges übergeben soll und wo er erfährt, dass er die Reinkarnation dieses Offiziers ist, von dessen Karma er sich zu befreien hat.

    Ulla Lenze aber ist schlau genug, nicht Lukas, sondern seine Schwester Martha zur Erzählinstanz zu erheben. Weil sie, wie auch ihre Figur Lukas weiß, dass das Sprechen über die Erfahrung des Anderen immer nur zum Klischee gerinnen kann. Daher wird Martha, die sich für Indien nicht wirklich interessiert, für uns von Anfang zur Botschafterin dieser Reise in die östliche Welt. Einer Reise, gegen die Martha sich auch aus anderem Grund spürbar sperrt: weil sie, wie man bald ahnt, zugleich einen stillen Kampf mit diesem Bruder auszufechten hat. Denn wie dieser auf der Suche nach einer Wahrheit ist, die er in Indien zu finden hofft, ist auch Martha eine Suchende: eine, die hofft, dem Moment auf die Spur zu kommen, in dem sich das Verhältnis zu ihrem Bruder von Liebe und Vertrauen in Schweigen und den Satz "Ich hasse dich" gewandelt hat. Allein daher sagt sie ja, als Lukas wenige Monate nach seiner Rückkehr selbst erblindet und sie bittet, ihn nach Indien zu begleiten, weil das Skotom ihm Zeichen ist, dass er allein dort wieder zu sehen lernt.

    Die Geschichte von Bruder und Schwester, das leise Drama ihrer Liebe, um die sie wie im Märchen gegenseitig ringen, ist die unerwartete Gegenkraft in diesem Indienroman, der damit auf untypische Weise seine beiden Hemisphären gekonnt in der Waagschale halten kann. Denn Indien und Deutschland, östliche und westliche Philosophie, Vergangenheit und Gegenwart, zyklische und dialektische Muster der Erfahrung von Zeit und vom Erzählen finden auf wortwörtlich wundersame Weise zusammen von dem Moment an, als Martha und Lukas gemeinsam den indischen Boden betreten:

    Da ist zum einen der eher kühle, fast rapporthafte Ton von Marthas indischen Impressionen, die sich dem Klischee durch gezielte Reduktion widersetzen und dennoch so erfahrungsgesättigt sind wie von poetischer Suggestion zugleich. Und da ist Lukas, dessen Körper Ulla Lenze immer mehr zum Schauplatz selbst werden wird, der eine eigene Sprache spricht: die Sprache dessen, was jenseits der ratio liegt. Da ist die gewagte mehrfache Überblendung der erzählerischen Ebenen selbst: Einerseits die Geschichte des englischen Offiziers, dessen Leben sich in Lukas' Reise magisch wiederholt und das umso mehr, da Martha und Lukas in ihrem Fahrer Viju auf einen leibhaftigen Wiedergänger, den Enkelsohn des Offiziers treffen; Martha wiederum erinnert sich mehr und mehr an jene frühen Kindheitstage, da die Entzweiung mit Lukas eintritt und als die geliebte Großmutter stirbt, begleitet von jenem Schweigen, das dem Tod im Westen so eigen ist, wie er in Indien allgegenwärtig ist.

    Tatsächlich ist der Tod, die Frage, welchen Umgang man mit ihm und damit auch mit dem Leben pflegt, das Schlüsselmotiv im gesamten Roman, das beide Hemisphären: den Westen und den Osten, aber auch Bruder und Schwester, im Trennenden unaufdringlich miteinander verfugt. Denn Martha und Lukas werden erneut zueinander finden, gerade weil sie sich am Ende der Reise aus den Augen verlieren. Martha wird Indien am eigenen Leib erfahren und lernen, dass auch sie unter der ordnenden Oberfläche des Intellektuellen von atavistischem Glauben getrieben ist: Spät erst erfährt sie aus dem Munde des Bruders die Erlösung, dass es nicht ihre Worte waren, die einst den Tod der Großmutter bewirkten.

    Geschickt vermischt Lenze somit letztlich die Konstellationen, hebt die vermeintlich strikten Gegensätze auf. Eine schlichte Auflösung findet dennoch bis zum Schluss dieses wundersamen Debuts nicht statt. Eher scheint es, als ziehen sich Bruder und Schwester, als zöge dieser Roman selbst sich zurück in ein rätselhaftes Schweigen, ein undurchschaubar orientalisches Lächeln. Weder exotischer Reisebericht noch schwülstiger Seelentrip, war selten so wenig und selten soviel Indien zugleich wie in diesem Indien-Roman namens Bruder und Schwester .

    Ulla Lenze: !Bruder und Schwester
    Dumont, 224 S., 19,90 E