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"Imaginary Europe"
Europa inszeniert sich selbst

Theaterregisseur Oliver Frljić ist bekannt für seine provokanten Stücke mit politischen Themen. In seinem neuen Werk "Imaginary Europe" geht er in Stuttgart dem Kern des Kontinents auf den Grund - mit vielen nackten Schauspielern, Riesengemälden und einer Christus-Figur, die um Deo bittet.

Von Cornelie Ueding |
Schauspieler des Schauspiel Stuttgart auf der Bühne in bunten Kostümen. Ein Schauspieler am Bühnenanfang trägt eine Krone und reckt seinen Arm nach oben. Er hält ein Mikrofon und spricht.
Uraufführung "Imaginary Europe" am Schauspiel Stuttgart (Björn Klein)
Am Ende verlangt Christus am Kreuz nicht nach einem Schwamm, sondern nach Deo und erklärt sich bereit, Kontakt zu den Zuschauern aufzunehmen, die bereit wären, sich nackt auszuziehen. Da keiner im Parkett diesem unmoralischen Angebot nachkommt, muss es wohl oder übel beim Deospray bleiben.
Eine der mittlerweile üblichen Provokationen von Schauspielern, die selber die meiste Zeit der fast zweistündigen Aufführung nackt herumturnen? Nein. Die Kreuz-Szene, eine Mischung aus Monty Python und Pasolini, ist nur eine der Facetten, die in bisweilen atemberaubend schneller, zirzensisch virtuoser Abfolge förmlich über die Bühne wirbeln.
Dokumentarteile, Klamauk und Performance
Das "imaginierte Europa" von Oliver Frljić und seiner plurikulturellen Theatertruppe versteht es, rasant alle Register des europäischen Theaters zu ziehen und zugleich zu ironisieren: Auf performance-lecture-artige Exkurse folgen knallige Showteile nach dem Motto "we wish to entertain you". Zitate aus Politrevuen, Kunstgeschichtslektionen, Dokumentarteile, wilde Parodien und augenzwinkernder Klamauk wechseln einander in vielfacher Kostümierung und traumtänzerischer Verwandlung ab.
Es geht, soviel wird rasch klar, nicht um Individuen, sondern um permanente Verwandlungen. Uniformfetzen, Trachtenteile, Drapierungen auf hohen Postamenten, grelle Phantasiekostüme – alles bedeckt flüchtig und partiell die nackte weiße Haut des europäischen Menschen, um im nächsten Augenblick einer anderen Teilmaskerade, einer anderen Rolle zu weichen. Europa - das ist nichts anderes als eine Folge von Selbstinszenierungen. Wundersam genug: mit dieser Fähigkeit und einer unstillbaren Neugier nach Unbekanntem gelang es uns Europäern, die gesamte Erde zu kolonisieren und uns - jedenfalls eine Zeitlang - zu den unumstrittenen Beherrschern der Welt aufzuschwingen.
Kuschelkurs und Massaker
Inszenierung, Domestizierung und monströse Ernsthaftigkeit - so suggeriert es dieser Abend - ist das Erfolgsgeheimnis dieses kleinen, zugleich hochenergetischen Kontinents, dem jederzeit alles zuzutrauen ist: Auf der einen Seite eng aneinandergeschmiegte Sentimentalität untereinander, devot-ernsthafter Kuschelkurs in Richtung Publikum an der Grenze zum gerade noch Glaubhaften - akribische Berichte und Vergegenwärtigung vom Massakern und Genoziden auf der anderen.
Europas undurchschaubare Doppelhelix der Gefühle - hier wird sie nicht einfach nur beschrieben oder behauptet: Das Europa-Ensemble bringt diese Eigenart so leichtfüßig auf die Bühne, dass man ebenso gebannt wie angenehm be-fremdet in den Abgrund der kollektiven Seele "unseres" Europa blickt. Dabei zählen nicht nur die "großen Dinge". Besonders berührend ist gerade die Sequenz, in der die sechs jungen Akteure Erinnerungssplitter alltäglicher, privater Erlebnisse ganz locker von Mund zu Mund gehend erzählen. Und es entsteht ein flapsiges Mosaik der Niederungen europäischen Daseins.
Ikonen aus der Kunstgeschichte
Einige Ikonen des kulturellen Gedächtnisses grundieren diesen Schnelldurchlauf durch die europäische Geschichte und geben ihm Kontur: Kasimir Malewitschs "Schwarzes Quadrat" von 1915, das wirklich nur ein schwarzes Quadrat zeigt. Théodore Géricaults ebenso revolutionierendes wie beschämendes Gemälde "Das Floß der Medusa", in dem sich Europa einen Spiegel vorhielt und bis ins Innerste erschrak. Und Eugène Delacroix‘ pathetisch-aggressives Bild der "Liberté", die für die ihr heilige Mission buchstäblich über Leichen zu geht. Beide Riesengemälde liegen in Quadrate zerteilt am Boden, Rudimente einer vergangenen Zeit, die demontiert und, unter Mitwirkung des Publikums, rekonstruiert werden. Zugleich vergessen und unvergänglich.
Und trotz der Befrachtung zum Beispiel mit Reflexionen aus Peter Weiß "Ästhetik des Widerstands" und über Walter Benjamins rückwärts gewandten "Engel der Geschichte", wirkt das Ganze weder belehrselig noch akademisch. Dafür sorgt das ganz junge, gewitzte, improvisationsgeschulte, mehrsprachige Ensemble. Mal auf Englisch, mal auf Deutsch demontieren und montieren die Schauspieler Bruchstücke europäischer Geschichte so geschickt, dass sich trotz aller Skepsis ein kleiner Spalt listigen Hoffens öffnet – jedenfalls für dieses "Projekt Europa".