Karin Fischer: Das Sternsingen, das Kneippen, die Volkstanzbewegung oder das Schützenwesen sind neu ins Verzeichnis des immateriellen deutschen Kulturerbes aufgenommen worden. Diese Liste existiert überhaupt erst seit dem vergangenen Jahr, wiewohl schon 163 Staaten dem UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes beigetreten sind. Es geht um Bräuche oder mündlich überlieferte Traditionen, die sich über viele Generationen erhalten haben.
Gertraud Koch sitzt mit in dem Gremium, das die Vorschläge erarbeitet hat, über die dann vom Kultusministerium entschieden wurde. Sie ist Professorin für Volkskunde und Kulturanthropologie an der Uni in Hamburg. Und ich habe sie zunächst gefragt, ob sie das Immaterielle an diesen Bräuchen etwas genauer beschreiben kann.
Gertraud Koch: Materielles und Immaterielles hängen immer zusammen. Nichts desto trotz geht es uns besonders um das Immaterielle. Es wurde gleichzeitig auch vorgeschlagen, für die Nominierung an die UNESCO nächstes Jahr für die nächste repräsentative Liste den Orgelbau und die Orgelmusik vorzuschlagen. Hieran wird das sehr schön deutlich, wie beides ineinandergreift.
Die Orgel, das ist was Materielles, beeindruckend. Es würde so nicht dastehen, wenn nicht enormes handwerkliches Wissen da wäre, um diese Orgel zu bauen. Musikalisches Wissen dazu und dann gibt es rund um diese Orgel eine unglaublich vielfältige Aufführungspraxis, wo sehr viele Menschen beteiligt sind, nicht nur die Organisten und Organistinnen, sondern auch Chöre, und in diesem Sinne ist hier das Immaterielle das, was uns wichtig ist und was auch besonders herausragt neben diesem wunderbaren Orgelbau.
"Singen ist eine wichtige Kulturtradition mit vielen Variationen"
Fischer: Auch das Choralsingen ist aufgenommen worden auf die Liste. Warum gerade das Choralsingen? Ähnlich wie bei der Volkstanzbewegung würde man vielleicht vermuten, das sei in anderen Ländern als in Deutschland noch viel eher eine Kulturtradition.
Koch: Ja! Das Singen ist eine wichtige Kulturtradition mit ganz vielen Variationen. Wir haben auch Lieder der Arbeiterbewegung bereits auf der nationalen Liste. Das ist durchaus in anderen Ländern auch sehr stark vertreten. Die Nominierung in Deutschland bedeutet nicht, dass wir Exklusivrecht beanspruchen. Im Gegenteil: Die Idee ist, darüber Verbindungen auch sichtbar zu machen und Gemeinsamkeiten zu zeigen.
Fischer: Es wird ja Wert gelegt auch auf eine mündliche Tradierung. Beim Kneippen, um dieses Beispiel auch noch mal als einzelnes herauszuheben, habe ich nicht gewusst, dass es ein Brauch ist. Ich dachte, es sei so eine Art gesundheitserhaltendes Hausrezept und ist doch ganz bestimmt schriftlich niedergelegt.
Koch: Ja, die mündlichen Überlieferungen sind ein Aspekt von mehreren. Das sind durchaus auch Rituale, performative Formen, handwerkliches Wissen, besonderes Wissen im Umgang mit der Natur, die im Bereich des immateriellen Kulturerbes eine Rolle spielen und als solches bezeichnet werden. Das Kneippen, dort geht es ja um Gesundheitsförderung, Wassergüsse, Wassertreten, die Kneippschen Naturheilverfahren, die Jedermann ohne großen Aufwand anwenden kann, die hier als Formen herausgestellt werden, die heute vielfältig praktiziert werden in Kneipp-Vereinen und auch besondere Aufmerksamkeit verdienen, weil sie der Gesunderhaltung des Menschen dienen, ohne dass der dadurch gleich in die große Pharmakiste greifen muss.
"Wir haben eine enorme Vielfalt an Traditionen, die lebendig sind"
Fischer: Die Kneipp-Vereine sind ein gutes Stichwort. Es ist doch so, dass gerade die Vereinstradition, quasi der Erhalt solcher Bräuche in Deutschland weit gediehen ist. Gibt es da noch Defizite, auf die Sie mit dem Finger zeigen würden? Ich frage das deshalb, weil zum ersten Mal in diesem Jahr auch Beispiele guter Praxis ausgezeichnet werden, und da geht es darum, wie man solche Kulturtraditionen noch besser erhalten kann.
Koch: Ja. Traditionen sind in dem Maße lebendig, wie sie praktiziert werden, und wir haben eine enorme Vielfalt an Traditionen, die lebendig sind. Das zeigt der Blick in das bundesdeutsche Verzeichnis. Aber nichts desto trotz ist das ja keine Selbstverständlichkeit. Manche Formen werden auch etwas belächelt, denken Sie an die Volkstanzbewegungen. Und in diesem Sinne geht es darum, hier tatsächlich das Augenmerk darauf zu lenken, wie wichtig immaterielles Kulturerbe, das Praktizieren von lebendigen Traditionen ist als sozialer Kitt unserer Gesellschaft.
Fischer: Die Kulturanthropologin Gertraud Koch aus Hamburg über die neuen Einträge auf der UNESCO-Liste für immaterielles Kulturerbe auf der deutschen UNESCO-Liste.
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