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Immer die gleichen Regeln

Der Mainzer Medienwissenschaftler Hans-Matthias Kepplinger hat vor rund zehn Jahren die Mechanismen der Skandalisierung beschrieben. Sie sind Bestandteil der Mediendemokratie. Rufen die Medien laut Skandal, dann hat das nach Kepplinger auch eine Ursache.

Von Mirko Smiljanic |
    Skandale, wohin man schaut: Cem Özdemir und Gregor Gysi nutzten dienstlich erworbene Bonusmeilen für private Flüge; Verteidigungsminister Rudolf Scharping bekam Geld von der PR-Agentur Hunzinger; Bundesbankpräsident Ernst Welteke feierte Silvester auf Kosten der Dresdner Bank. Manche Skandale hielten die Republik wochenlang in Atem, um sich dann wie auf ein geheimes Kommando hin zu verflüchtigen. Wer kann heute noch die öffentliche Erregung über angeblich verseuchte Birkel-Nudeln nachvollziehen? Wer weiß, was Bundestagspräsident Philipp Jenniger in seiner vermeintlich rechtsradikalen Rede wirklich gesagt hat? "Die Mechanismen der Skandalierung" funktionieren nach den immer gleichen Regeln, schreibt der Mainzer Medienwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger, wobei er eine wichtige Konstante ausmacht.

    "Die Gründe für die selbstgerechte Empörung und ihr selbstvergessenes Versickern liegen weder im Charakter der Menschen, noch in der Natur der Sache, noch in der Bedeutung der verletzten Werte, sondern in der Art und Weise, wie wir in Situationen großer Ungewissheit kommunizieren."

    Wer konnte das Gefahrenpotenzial der BSE-Seuche realistisch einschätzen? Wer kannte alle Hintergründe von Kohls Spendenaffäre? Nur wenige. Alle anderen mussten ihre Urteile auf Basis unsicherer Informationen aus den Medien fällen. Verständlich beschreibt Kepplinger Laborversuche, die schon in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts belegten, wie der Gruppendruck aus einer Meinungsvielfalt eine Gruppennorm macht: Unbemerkt orientiert sich der Einzelne am vorherrschenden Meinungsschema – ein Prozess, der jeder Skandalierung zugrunde liegt.

    "In beiden Situationen erleben die Einzelnen die Annäherung ihrer Urteile als Beleg dafür, dass ihre Ansichten richtig sind. Zur Gewissheit wird diese Einschätzung, wenn sich die Gruppennorm so verfestigt hat, dass alle zum gleichen Urteil kommen. Trotzdem glaubt auch bei Skandalen jeder, er urteile unabhängig von den anderen. Was sie für ein individuelles Urteil halten, ist (aber) Ausdruck einer sich selbst bestärkenden Glaubensgemeinschaft."

    Medien spielen bei Skandalierungen eine entscheidende Rolle, wobei sie immer zwei Funktionen haben: Sie decken auf der einen Seite Missstände und Straftaten auf. Medien sind also ein Korrektiv und übernehmen Aufgaben, die eigentlich Behörden wahrnehmen müssten. Aus diesem Grund genießen investigativ arbeitende Journalisten eine hohe Reputation. Bekannte Beispiele sind der Watergate-Skandal in den USA und der Skandal um das DGB-eigene Wohnungsbauunternehmen Neue Heimat. Auf der anderen Seite fördern sie aber auch eine fatale Eigendynamik: Wer sich dem Mainstream widersetzt, wird isoliert.

    "Skandale zielen auf die Gleichschaltung aller, weil die öffentliche Abweichung einiger den Machtanspruch der Skandalierer und ihrer Anhänger infrage stellen würde. Die großen Skandale kann man deshalb auch als demokratische Variante von Schauprozessen betrachten. In beiden Fällen enthält die Anklage fast immer einen wahren Kern. Das Ziel besteht jedoch in beiden Fällen nicht darin, die Angeklagten zu überführen, sondern darin, sie und mit ihnen alle, die zu ihnen stehen, zu diskreditieren und zu unterwerfen."

    Entsprechend unsicher ist die Situation der "Täter", die sich häufig als Opfer medialer Kampagnen sehen. Von ihren Reaktionen – neudeutsch: von ihrem Krisenmanagement – hängt die persönliche Zukunft ab. Wer sofort reumütig alle Vorwürfe gesteht, hat statistisch eher schlechte Karten. Ein Blick in die deutsche Skandalchronik zeigt, dass die meisten von ihnen ihre Ämter verloren. Entscheidend ist das Zeitfenster für mögliche Reaktionen: Es ist erstaunlich eng.

    "Bei der erfolgreichen Skandalierung der Flugreisen von Lothar Späth stand das Urteil in den Medien nach etwa zwölf Tagen fest: Der Ministerpräsident hatte nach der dominierenden Meinung schwer gefehlt und musste zurücktreten. In Einzelfällen wie der Skandalierung von Werner Höfer wegen eines Kommentars im Dritten Reich verlief die Normbildung sogar noch schneller. Hier genügten circa drei bis sieben Tage."

    "Die Mechanismen der Skandalierung" von Hans Mathias Kepplinger liest sich mit intellektuellem Genuss. Lernerfolge sind nicht ausgeschlossen: Mancher muss vielleicht seine Position bezüglich aktueller Skandale überdenken, auf jeden Fall wird nach der Lektüre der Blick auf künftige Skandale ein anderer sein. Ende Februar erscheint eine zweite, erweiterte Auflage des Buches. Den Skandal um Christian Wulff konnte Kepplinger nicht einarbeiten.

    Hans Mathias Kepplinger: "Die Mechanismen der Skandalisierung"
    224 Seiten, 26, 90 Euro
    ISBN: 978-3-789-28248-5
    Diese überarbeitete Neuausgabe erscheint am 28.02.2012.