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Immer noch nicht vollständig erforscht

Immer mehr Menschen leiden unter chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Rund 300.000 Menschen in Deutschland, schätzen Experten, sind von Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa Betroffen. Die Krankheiten sind damit beinahe so häufig wie Diabetes vom Typ I oder Epilepsie, aber sie sind längst nicht so bekannt. Die Folge: Patienten erhalten im Schnitt erst nach anderthalb Jahren die richtige Diagnose und eine angemessene Therapie.

Von Marion Förster |
    Für Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wird der Alltag zur Qual: Während der Krankheitsschübe leiden sie unter heftigen Bauchschmerzen, sie haben Durchfall und fühlen sich kraftlos und abgeschlagen. Dazu kommt die Scham, über ihre Krankheit zu reden. Die Betroffenen erleben sie wie eine Behinderung, sagt Susanne Kaplan von der Bundes-Selbsthilfevereinigung Morbus-Crohn und Colitis Ulercosa.

    "Denn alleine in den Supermarkt zu gehen, wird zu einer Schwierigkeit. Zumal die Betroffenen eine innere Krankheit haben, die die Umgebung also nicht wahrnimmt: Diese Personen sind krank, so dass dann ein Unverständnis den Leuten entgegengebracht wird, warum man in der Kinovorstellung drei-, viermal rausläuft, eben nicht, weil man sich Popcorn oder Cola holt und alle stört dabei, sondern weil man eine Toilette aufsuchen muss."

    Die Ursachen für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen sind noch nicht vollständig erforscht. Nur soviel: Die Veranlagung dazu wird vererbt. Eine eigentlich harmlose Infektion, Zigarettenrauchen, die Antibabypille oder eine Blinddarmoperation könnten dann den Ausbruch der Krankheit begünstigen, vermuten Wissenschaftler - endgültig nachgewiesen ist das allerdings nicht, betont Axel Dignass, Chefarzt im Magnus-Krankenhaus der Universität Frankfurt am Main und deutscher Repräsentant der medizinischen Fachgesellschaft ECCO.

    "Es kommt dann zu einer Überaktivierung des Immunsystems und damit zu einer Zerstörung der Darmschleimhaut. Das ist ganz anders, als die meisten Menschen vermuten. Es ist nicht ein zu schwaches Immunsystem, sondern ein überaktives, das einfach nicht merkt, dass ein Auslöser nicht mehr da ist und sich nicht wieder von selbst herunterschaltet."

    Bei Morbus Crohn kann der gesamte Magen-Darm-Trakt befallen sein, in manchen Fällen sogar bis zur Speiseröhre. Bei der Colitis Ulcerosa beschränkt sich die Entzündung auf den Dickdarm. Die Ernährung spielt als Auslöser übrigens keine Rolle, so Dignass.

    "Eine ganze Zeit ist postuliert worden, dass man sich keinen Zucker zuführen sollte, weil das ein ganz wesentlicher auslösender Faktor ist. Das wissen wir heute sehr gut, dass das überhaupt nichts ausmacht, und gerade, wenn man Bauchschmerzen hat, wenn der Darm verengt ist, kann man sich durch zuckerreiche Ernährung ausreichend Kalorien zuführen. Es handelt sich häufig um untergewichtige Patienten, und wenn man dann diese wichtige Energiequelle ausschließt, schadet man den Patienten."

    Die Behandlung der chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen beschränkte sich lange auf die Dauergabe von Cortison – mit all ihren Nebenwirkungen. Seit einigen Jahren stehen sogenannte Biologics zur Verfügung. Professor Andreas Rädler, Chefarzt der Inneren Medizin am Asklepios Klinikum West in Hamburg, hat diese Therapie mit entwickelt. Die Biologics sollen gezielt verhindern, dass das Immunsystem überaktiv wird.

    "Im konkreten Fall sind das gentechnologisch hergestellte Antikörper, die Entzündungssignalstoffe neutralisieren. Das hat zur Folge, dass der Haupttäter für diese Entzündung – bei Morbus Crohn, Colitis Ulcerosa, Psoriasis, Morbus Bechterew ist der Haupttäter ein Entzündungsstoff namens TNF - und der wird durch diesen Antikörper neutralisiert."

    Allerdings wirken sie nur bei sechs bis acht von zehn Patienten. Andere Ansätze zielen darauf, die Darmflora günstig zu beeinflussen und das Immunsystem wieder ins Gleichgewicht zu bringen: Zum Beispiel durch die Einnahme von Eiern des Schweinepeitschenwurms, eines für den Menschen unschädlichen Parasiten. Sie sollen die überschießende Immunantwort bei Patienten mit chronischen Darmerkrankungen abmildern. Ob diese Therapien tatsächlich helfen, ist noch nicht erforscht.