Im vergangenen Jahr machte ein Forschungsteam mit Beteiligung der Berliner Charité eine überraschende Beobachtung: Einige Menschen, die noch nie mit SARS-CoV-2 Kontakt hatten, haben Gedächtnis-Immunzellen, die das neue Virus erkennen. Der Erklärungsansatz: Die Immunzellen gehen auf frühere Infektionen mit weit verbreiteten, aber harmlosen Erkältungs-Coronaviren zurück, die gewisse Ähnlichkeiten mit SARS-CoV-2 aufweisen. Unklar war allerdings, wie diese Kreuz-Reaktivität den Verlauf einer späteren SARS-CoV-2-Infektion beeinflusst.
Mit einer neuen Studie habe man bewiesen, dass bereits vorhandene T-Helferzellen, also Steuerzellen des Immunsystems, "wirklich in einer primären SARS-CoV-2-Infektion aktiviert werden", sagte Andreas Thiel, der am Berlin-Brandenburger Centrum für Regenerative Therapien und der Berliner Charité arbeitet, im Deutschlandfunk. Dazu wurden erkrankten Probanden in regelmäßigen Abständen Blutproben entnommen. Ergebnis: Zellen, die bereits vor der Infektion vorhanden waren, würden während der Infektion auch aktiviert. Thiel: "Es entstehen auch neue Immunzellen, letztendlich ist es ein Zusammenspiel von Zellen, die neu aktiviert werden, und Zellen, die bereits in diesen Probanden vorhanden waren."
Lennart Pyritz: Wie beeinflussen frühere Infektionen mit harmlosen Erkältungs-Coronaviren die Reaktion unseres Immunsystems auf SARS-CoV-2?
Andreas Thiel: Unsere Studie hat gezeigt, dass vorangegangene Infektionen mit harmlosen Erkältungsviren zu einer Art Kreuzimmunität führen, sodass das Immunsystem gegen SARS-CoV-2 schneller reagieren kann.
Pyritz: Wie haben Sie denn diesen Zusammenhang in dieser Studie überhaupt nachweisen können?
Thiel: Wir hatten bereits letztes Jahr veröffentlicht, dass ein signifikanter Anteil der Bevölkerung Immunzellen besitzt, genauer gesagt T-Helferzellen, also die Steuerzellen des Immunsystems, die SARS-CoV-2-Bestandteile erkennen können, obwohl die betreffenden Probanden noch nie in Kontakt mit SARS-CoV-2 gekommen waren. Dann haben wir jetzt in der zweiten Studie bewiesen, dass diese bereits vorhandenen T-Helferzellen, also Steuerzellen des Immunsystems, wirklich in einer primären SARS-CoV-2-Infektion aktiviert werden. Das kann man mit bestimmten Methoden darstellen, indem man während einer Infektion Probanden mehrmals in kurzen Abständen Blut abnimmt. Dann sieht man halt, dass bestimmte Zelltypen, die schon da sind, aktiviert werden – und nicht nur neue Zellen praktisch rekrutiert werden.
Über 700 Personen wurden Blutproben entnommen
Pyritz: Das heißt, Sie hatten Blutproben von Probandinnen und Probanden vor der Pandemie gesammelt und konnten dann den Effekt der Erkältungs-Coronaviren jetzt bei einer aktuellen Infektion bei einem Teil dieser Probanden in der Pandemie nachweisen?
Thiel: Ja, wir haben von sehr, sehr vielen, von über 700 Berlinerinnen und Berlinern Blutproben abnehmen können und wussten daher, wie deren Immunstatus gegenüber den endemischen Coronaviren, aber auch gegenüber SARS-CoV-2, also die Kreuz-Reaktivität gegenüber SARS-CoV-2, wie das bei den betreffenden Probanden ausschaut. Und immerhin 17 dieser über 700 Probanden haben uns dann im Verlauf der dritten Welle im Herbst informiert, dass bei ihnen eine SARS-CoV-2-Infektion festgestellt wurde – mit PCR-Nachweis. Und dann konnten wir diese Probanden dann meistens zu Hause besuchen – natürlich in Vollmontur – und bei ihnen dann in regelmäßigen Abständen Blutproben abnehmen. Und wir konnten dann genau sehen, dass die Zellen, die bereits vor der Infektion vorhanden waren, während der Infektion auch aktiviert werden. Es entstehen auch neue Immunzellen, letztendlich ist es ein Zusammenspiel von Zellen, die neu aktiviert werden, und Zellen, die bereits in diesen Probanden vorhanden waren.
Pyritz: Dieser, ich sage mal, schützende Effekt von vorangegangenen Infektionen mit harmlosen Erkältungs-Coronaviren, der ist aber nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt. Könnte der zumindest zum Teil erklären, warum SARS-CoV-2 bei unterschiedlichen Personen so unterschiedlich schwer verlaufen kann?
Thiel: Zumindest haben wir eine sehr starke Assoziation feststellen können. Wir haben bei diesen über 700 Probanden uns sehr unterschiedliche Altersstufen angeguckt, alles über 18 Jahre bis zu 90, 95 Jahren. Wir sind in Kitas gegangen, Betreuerinnen und Betreuer von Kitas haben uns Blutproben gegeben. Wir sind auch in Berliner Altersheimen gewesen. Und wir konnten dann feststellen, dass etwa ab dem Alter von 70 diese T-Helferzellen, also die Steuerzellen des Immunsystems, die spezifisch sind für die endemischen Coronaviren, stark in ihrer Anzahl abnahmen, dass damit aber auch die Kreuz-Reaktivität gegenüber SARS-CoV-2 genau in dieser Altersgruppe sehr stark abnahm.
Und es ist ganz klar, dass das nicht der einzige Faktor ist, der sich im Alter dann, vor allen Dingen bei Menschen über 70, dann auch stark ändert, aber es ist ein auf jeden Fall signifikanter Faktor. Die Änderung war schon sehr drastisch. Man kann also nicht direkt sagen, ausgerechnet die Leute sind alle krank geworden, das haben wir ja nicht festgestellt. Bei der Infektion spielt natürlich auch immer eine Rolle, welche Komorbiditäten sind vorhanden, vor allen Dingen bei alten Leuten. Und ein sehr starker Faktor ist die Virusdosis, die ein Organismus abbekommt. Aber im Zusammenspiel mit diesen Faktoren spielt das sicherlich eine Rolle, wie viel Kreuz-Reaktivität ist da, wie gut kann mein Immunsystem einfach aus dem Stand heraus reagieren.
Man kann nicht "noch immuner" werden
Pyritz: Konnten Sie auch eine Bevölkerungsgruppe erkennen, bei der diese Kreuzimmunität, diese Kreuz-Reaktivität besonders stark ausgeprägt ist, ich denke jetzt zum Beispiel an Kinder, die ja sehr häufig gerade in jüngerem Alter unter Erkältungskrankheiten und -infektionen leiden.
Thiel: Kinder haben wir nicht direkt analysiert, das ist einfach von der Menge der Blutprobe dann problematisch. Was wir indirekt gemacht haben, wir sind in die Kitas gegangen und haben dort die Betreuerinnen und Betreuer um Blutproben gebeten. Und wir hatten die Hypothese, dass dort unter Umständen dann stärkere Kreuz-Reaktivitäten vorhanden sind. Aber das Ergebnis ist ganz klar, dass in allen Bevölkerungsgruppen – und vielleicht ist es auch logisch bei einer hohen Durchseuchung mit den endemischen Coronaviren, wenn jedes Jahr ein Drittel der Erkältungen durch diese Viren, das sind ja harmlose Erkältungen, aber wenn jedes Jahr ein Drittel der Erkältungen durch diese Viren verursacht wird, haben wir alle sehr, sehr regelmäßigen Kontakt. Und Kinder haben vielleicht mehr Erkältungen, aber auch Erwachsene, da reichen diese regelmäßigen Erkältungen immer noch aus, dass unsere Immunität gegen diese Coronaviren stark ist. Es gibt da keine Bevölkerungsgruppe, bei der noch mehr vorhanden ist. Noch mehr geht nicht, noch mehr ist auch nicht notwendig anscheinend. Klingt ein bisschen komisch, sie können eine bestimmte Quantität von Immunität erreichen, aber sie können sozusagen nicht noch immuner werden, das geht nicht.
Pyritz: Das heißt, so eine Kreuzimmunität durch zurückliegende Infektionen mit Erkältungs-Coronaviren schützt auch auf keinen Fall mit Sicherheit vor einer SARS-CoV-2-Infektion?
Thiel: Genau, man muss ganz klar sagen, die schützt auf keinen Fall vor einer Infektion.
Pyritz: Das heißt, auf keinen Fall ein Ersatz für die Impfung?
Thiel: Auf keinen Fall, genau.
Pyritz: Andersherum gefragt: Sie haben gesagt, bei einem Großteil von uns oder bei allen Menschen, die eben Kontakt zu diesen harmlosen Erkältungs-Coronaviren hatten, besteht diese Kreuzimmunität. Was würde es bedeuten, wenn das nicht der Fall wäre?
Thiel: Zumindest hypothetisch würden wir dann davon ausgehen, dass es dann für wirklich die Gesamtheit der Bevölkerung ein komplett neuer Virus, hochinfektiös. Und die Hypothese wäre, jeder, der mit einer entsprechenden Dosis dann infiziert wird, jeder bekommt dann Probleme, weil sozusagen null Ansprechen des Immunsystems, null direktes Ansprechen des Immunsystems vorhanden wäre.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.