Rund 165 Forschergruppen weltweit versuchen derzeit, einen Impfstoff gegen das neue Coronavirus zu entwickeln. Mindestens 19 Impfstoffkandidaten durchlaufen derzeit klinische Phase-eins-Studien, Zwölf potenzielle Vakzine befinden sich bereits in Phase zwei der Erprobung und acht schon in klinischen Phase-drei-Studien, wo sie tausenden Probanden verabreicht werden, um Wirkung und Nebenwirkung zu testen. Über die verschiedenen Impfstoffkandidaten haben wir mit Sebastian Ulbert gesprochen. Er leitet die Arbeitsgruppe Impfstoff-Technologie am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie in Leipzig.
Ralf Krauter: Welche drei Impfstoffkandidaten sind die derzeit am vielversprechendsten?
Sebastian Ulbert: Das kann man so einfach jetzt gar nicht sagen. Wahrscheinlich ist, dass es keinen Kandidaten gibt, der sämtliche Anforderungen, die man an ihn hat, perfekt erfüllen wird. Dafür ist die Entwicklungszeit einfach viel zu kurz. Deshalb halte ich für sehr wichtig, dass verschiedene Technologieplattformen hier eingesetzt und auch vorangetrieben werden, damit man sich da möglichst breit aufstellt. Diese späten Phase-drei-Studien werden ja durchgeführt mit einmal einem inaktivierten, einem chemisch inaktivierten Virus, das ist eine Impfstoffplattform, die es ja schon seit Jahrzehnten gibt, die eigentlich relativ erfolgsversprechend auch ist gegen viele Viren. Ob es jetzt auch gegen SARS-CoV-2 der Weg ist, das werden erst die Phase-drei-Studien zeigen. Dann gibt es die Vektorimpfstoffe an verschiedener Stelle. Das ist auch eine Impfstoffplattform, die auch schon seit Jahrzehnten erforscht wird, wo es aber bisher eigentlich nur sehr wenige Zulassungen gibt. Die mRNA-Impfstoffe, die sind ja noch relativ neu. Ist zwar auch schon jahrelange Entwicklung, aber hier gibt es noch ganz wenig Erfahrungen zur Wirksamkeit.
Krauter: Bei den Vektorimpfstoffen, die Sie als zweites erwähnt haben, da gab es ja letzte Woche die Meldung von Russlands Präsident Wladimir Putin, Russland hätte solch einen Vektorimpfstoff entwickelt gegen das neuartige Coronavirus, und der sei, obwohl wichtige Phase-drei-Studien noch gar nicht stattgefunden hätten oder abgeschlossen seien, jetzt schon zugelassen worden. Wäre das denn aus Ihrer Sicht denkbar, dass die Russen bei der Entwicklung dieser Klasse von Impfstoffen tatsächlich weltweit die Nase vorn haben?
Ulbert: Nein, das kann man so sicherlich nicht sagen. Also die Vektorimpfstoffe, das ist eine Technologie, die weltweit auch schon seit Jahrzehnten entwickelt wird. Da gibt es ganz viele ganz verschiedene Ansätze. Es ist immer noch ein relativ neuer Ansatz in dem Sinne, dass es kaum Zulassungen gibt. Also es gibt zum Beispiel Vektorimpfstoffe, die eingesetzt werden im Bereich Ebolavirus, und auch es gibt die ersten Zulassungen für eine Impfung gegen das Dengue-Fieber. Die basieren auf solchen Vektoren, das sind also genetisch veränderte, an und für sich harmlose Viren, die da eingesetzt werden, aber, wie gesagt, das sind auch noch Techniken, die noch nicht lange im Menschen zum Einsatz kommen, die aber weltweit laufen. Da kann man also nicht von einer Technologieführerschaft Russlands sprechen.
"Ein Messenger-RNA-Impfstoff benötigt auch ein wirklich funktionierendes Immunsystem"
Krauter: Kommen wir auf die mRNA-Impfstoffe zu sprechen. Die machen ja vor allem in Deutschland Wirbel, weil zwei der hier ansässigen Firmen, die die Impfstoffe entwickeln, Curevac und BioNTech, daran arbeiten, aber auch zum Beispiel das US-Unternehmen Moderna. Die Fachwelt scheint ja, was die Erfolgsaussichten angeht, durchaus gespalten. Wie sehen Sie das, wie groß ist das Potenzial dieser sehr neuen Technologie?
Ulbert: Das Potenzial ist bestimmt groß. Also es gibt einen ganz entscheidenden Vorteil gegenüber vielen anderen Impfstoffplattformen, und der ist der, dass man sehr schnell auf einen neuartigen Erreger damit reagieren kann. Also man kann diese Impfstoffe relativ schnell zusammenbasteln. Man muss natürlich trotzdem wissen, gegen welches Teil von einem Virus man da impfen muss. Also auch hier ist eigentlich eine Vorlaufsforschung nötig, aber der eigentliche Teil, daraus dann einen Impfstoff zu bauen, der kann sehr schnell dann durchgeführt werden. Das ist bestimmt ein Vorteil gegenüber klassischeren Methoden wie ein Virusimpfstoff, wo man die Viren erst mal verlangsamen muss in ihrer Kultur und dann langsam erst zu einem Impfstoff züchten muss. Das ist bestimmt richtig. Man muss allerdings sagen, es fehlen einfach noch umfangreiche Studien zur Wirksamkeit. Dazu ist die Technik noch sehr neu. Was vor allen Dingen ich als große Herausforderung betrachte, ist, Menschen damit zu immunisieren, die kein perfekt funktionierendes Immunsystem mehr haben. Wenn man sich gerade bei COVID-19 die Menschen anschaut, die im größten Risiko sind, dann sind das vor allen Dingen die Senioren, deren Immunsystem mit der Zeit abnimmt. So ein Messenger-RNA-Impfstoff benötigt auch ein wirklich funktionierendes Immunsystem, weil er ja quasi auch eine Virusinfektion in einem kleinen Maßstab imitiert. Dazu gibt es einfach noch sehr wenige Daten, und das muss noch gemacht werden. Insofern, die Technik hat ein großes Potenzial, aber sie erfordert auch noch viele Studien.
Krauter: Welche Kriterien bezüglich Wirkungen und Nebenwirkungen müsste eigentlich einer dieser jetzt vielversprechenden Impfstoffkandidaten erfüllen in einer Phase-drei-Studie, damit man dann sagt, wir starten jetzt die Massenproduktion?
Ulbert: Zunächst mal muss ein Impfstoff in so einer Phase-drei-Studie zeigen, dass er die Zahl der Neuinfektionen reduzieren kann und gleichzeitig, dass es auch weniger schwere klinische Verläufe von solchen Infektionen gibt, wobei der Prozentsatz, auf den man da zielt, der kann durchaus variabel sein. Also bei einer Infektion mit jährlich vielen, vielen Todesfällen, da wäre natürlich eine Reduktion um 50 Prozent schon ein signifikanter Vorteil, aber das muss schon irgendwie geleistet werden, denke ich.
Krauter: Ich habe gelesen, diese 50-Prozent-Zahl, die Sie nannten, das ist auch das, was die FDA, die amerikanische Zulassungsbehörde, fordert von so einem Corona-Impfstoff. Ist das korrekt?
Ulbert: Die Zahl liegt mir jetzt so nicht vor, aber ich denke, das ist schon so eine pauschale Zahl, wo man sagen kann, das wäre jetzt für COVID-19 wahrscheinlich ein Prozentsatz, der Sinn machen würde.
Krauter: Das heißt, mindestens einer von zwei Geimpften müsste sozusagen wirklich immun sein gegen das Virus.
Ulbert: Ja. Also ich denke, dann könnte man von einem Impfstoff sprechen, der wirklich eine signifikante Wirksamkeit hat.
"Am einfachsten herzustellen sind eigentlich lebende Viren"
Krauter: Von welcher Klasse von Impfstoffen, über die wir gesprochen haben, ließen sich denn am ehesten, also nach einer positiven Phase-drei-Studie, dann schnell große Mengen herstellen, also Milliarden von Dosen?
Ulbert: Am einfachsten herzustellen sind eigentlich lebende Viren, die sich gut kultivieren lassen in der Zellkultur. Das sieht man zum Beispiel an den Impfstoffen gegen die Kinderlähmung. Die alten auf Viren basierten Impfstoffe, die kann man sehr, sehr schnell und preiswert herstellen. Das würde vielleicht der Fall sein bei Vektorimpfstoffen, wenn so ein Vektor, der ja auch aus einem aktiven Virus besteht, aus einem harmlosen Virus, wenn die schnell wachsen, dann könnte man hier bestimmt durch Upscaling sehr schnell zu sehr hohen Dosen kommen. Bei anderen Techniken, wie zum Beispiel der mRNA, hängt es einfach davon ab, wie schnell die jeweiligen biotechnologischen Produktionsprozesse sind. Das kann man sehr gut planen und sehr gut steuern. Es wird letzten Endes eine Frage sein, wie viel Geld man da investieren möchte, wie viel man dann auch herstellen kann.
Krauter: Das Frappierende ist ja, die Produktionsanlagen werden zum Teil jetzt schon aufgebaut, obwohl noch gar nicht klar ist, ob bestimmte Impfstoffkandidaten dann das Rennen machen werden. Das heißt, schlimmstenfalls haben wir da viele Anlagen gebaut, die wir gar nicht brauchen später?
Ulbert: Ja, das kann natürlich durchaus sein, wobei ich glaube, alles in allem ein Vorteil von dieser ganzen Situation jetzt ist, dass sehr viele Impfstofftechniken jetzt wirklich auch weiterentwickelt werden, und ich glaube nicht, dass dann später irgendwelche Produktionsanlagen auf alle Ewigkeiten umgenutzt rumstehen werden, sondern ich glaube schon, dass das Feld der Infektionsvorsorge nach der Corona-Pandemie ein anderes sein wird, weil wir einfach doch dann Techniken zur Verfügung haben, die wir jetzt in einem sehr schnellen Tempo entwickeln müssen, aber die haben wir dann. Dann sind wir auch für die folgenden Pandemien, die ganz sicher kommen werden, auch besser vorbereitet.
Krauter: Was ist Ihre Prognose, Herr Doktor Ulbert, bis wann könnte ein für die breite Masse verfügbares Vakzin im günstigsten Fall verfügbar sein in Deutschland?
Ulbert: Ich denke schon, dass wir mit den ersten Zulassungen wahrscheinlich Anfang nächsten Jahres rechnen können. Da wird es mehrere geben, da bin ich auch relativ sicher. Es wird auch, wie gesagt, nicht der entscheidende Impfstoff schon dabei sein, der das alles kann, was wir möchten. Es wird sicher so eine Evolution stattfinden. Es werden dann Nachfolgeprodukte kommen, die werden dann auch Schritt für Schritt wirksamer werden, Schritt für Schritt spezifischer werden, aber ich gehe schon davon aus, dass wir in dem nächsten halben Jahr hier die ersten Zulassungen auch haben werden. Ob das dann für jeden ist, ist auch noch nicht sicher. Es kann auch gut sein, dass es erst mal für bestimmte Berufsgruppen zum Beispiel gilt, also zum Beispiel medizinisches Personal oder so etwas.
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