Vermutlich ab Juni 2021 wird es in Deutschland deutlich mehr Impfstoff geben. Deutschland und andere reiche Länder haben sich 80 Prozent der verfügbaren Impfdosen gesichert. Länder wie Israel oder die USA legen Vorräte an für eine dritte, vierte Impfung. Die ärmsten Staaten hingegen haben bis heute gerade mal 0,3 Prozent der verfügbaren Vakzine abbekommen.
Vor einem Jahr hat die Weltgesundheitsorganisation die reichen Länder darauf eingeschworen, Impfstoff mit den ärmeren Ländern zu teilen: mit der Covax-Initiative.
Elisabeth Massute von Ärzte ohne Grenzen kritisierte im Dlf, es bestehe eine Kluft zwischen den Zusagen der Länder und einer Umsetzung der weltweiten Impfinitiative Covax. Es sei besorgniserregend, dass lediglich 1,3 statt drei Prozent der Menschen in 140 Ländern über Covax beliefert werden könnten.
Das Ziel von Covax sei eigentlich gewesen, ein globaler Einkaufs- und Verteilungsmechanismus zu sein, "es war kein Mechanismus, der gedacht war rein für ärmere Länder", so Massute. "Dann wurde das Ganze ja aber schon unterminiert dadurch, dass eben Länder wie die USA, Großbritannien, aber auch die EU und andere parallel bilaterale Abkommen geschlossen haben und den Markt quasi leer gekauft haben."
Gerade im globalen Süden werde nun sichtbar, das jetzt dringend mehr Impfstoff für mehr Menschen produziert werden müsse. Impftechnologie-Transfer, Patentaussetzungen und ein Aufbau von mehr Produktionskapazitäten weltweit seien nötig, um die Pandemie weltweit effektiv zu bekämpfen, so Massute.
Das Interview zum Nachlesen:
Sandra Pfister: Was ist aus Covax geworden?
Elisabeth Massute: Covax gibt es weiterhin, Covax ist auch weiterhin wichtig, Covax hat angefangen, Impfstoffdosen zu verteilen über den Mechanismus. Leider konnten wir Ende des Jahres sehen, dass eben zu wenig Impfstoffe bestellt wurden, weil eben das meiste, was eben produziert werden konnte oder zur Verfügung stand, bereits in Verträgen mit reichen Ländern reserviert war. Und jetzt ist es so, dass eben auch zu wenig tatsächlich an Covax geliefert wird, weshalb ja die WHO auch mehrfach dazu aufgefordert hat inzwischen, dass eben Covax auch bei den Lieferungen von Herstellerfirmen tatsächlich priorisiert wird.
Wir sehen mit Erschrecken, dass Covax aktuell bis Ende März 38 Millionen Impfstoffdosen verteilt hat, sie wollten bis dahin 100 Millionen Impfstoffdosen verteilen. Und es droht, dass das niedrige Ziel, bis Ende Juni 2021 drei Prozent der Bevölkerung in über 140 Ländern zu beliefern, wahrscheinlich gerissen wird und lediglich 1,3 Prozent der Menschen dort geimpft werden können.
Das beobachten wir mit Besorgnis und rufen auch dazu auf, dass das eben schneller gehen muss und da eben auch reiche Länder in die Pflicht genommen werden, dies zu unterstützen.
Effektive Pandemie-Eindämmung unterminiert
Pfister: Die reichen Länder hatten sich ja eigentlich selbst in die Pflicht genommen, aber es war eben nicht mehr als ein Versprechen. Warum glauben Sie, erinnern sie sich nicht an dieses Versprechen?
Massute: Covax war ja dafür aufgesetzt, quasi ein globaler Einkaufs- und Verteilungsmechanismus zu sein, es war kein Mechanismus, der gedacht war rein für ärmere Länder. Dann wurde das Ganze ja aber schon unterminiert dadurch, dass eben Länder wie die USA, Großbritannien, aber auch die EU und andere parallel bilaterale Abkommen geschlossen haben und den Markt quasi leer gekauft haben.
Dadurch konnte Covax seine eigentliche Funktion gar nicht ausführen, und es kam eben zu diesem beschriebenen Wettkampf um Impfstoffe, und dass quasi nationalistische Ansätze gefahren wurden, die ja auch mehrfach von der WHO als Impfstoffnationalismus kritisiert wurden, dass die Länder anfingen, sich gegeneinander auszuspielen. Wir sehen, dass das aus medizinischer Sicht einfach sehr kurzfristig ist und nicht zu einer effektiven Eindämmung der Pandemie beiträgt.
Mutationen machen nicht an Grenzen halt
Pfister: Was Sie damit vermutlich meinen, ist, dass hinter dem vermeintlichen Altruismus, dass wir diesen Impfstoff gleichmäßig verteilen sollten, es ja auch eine Frage gibt, ein Argument gibt, was auch den reicheren Ländern nutzt, denn wenn wir in einer verflochtenen Welt sind, dann sind wir niemals sicher vor Mutanten, die vor allem dort entstehen können, wo der Impfschutz fehlt wie zum Beispiel, wie sehen das jetzt, in Indien. Kurz gesagt: Wir sind nicht sicher, bevor nicht alle einigermaßen sicher sind. Fehlt diese Einsicht?
Massute: Diese Einsicht wird mehrfach auch öffentlich von verschiedenen Entscheidungsträgerinnen weltweit immer wieder betont, wir sehen nur, dass es da eine Lücke gibt zwischen den Aussagen und dem tatsächlich, wie gehandelt wird. Und dieses Argument der Mutationen steht auf jeden Fall im Raum, das ist ein wichtiger Punkt.
Es gibt ja Argumente, dass es wirtschaftlich sinnvoll ist – weltweit für die Weltgemeinschaft –, dass man eben global die Pandemie bekämpft. Also, es gibt mehrere gute Argumente dafür, warum man die Pandemie global eindämmen muss.
Last der Impfstoff-Produktion liegt auf wenigen
Pfister: Sie sprachen gerade das wirtschaftliche Argument an, dass es uns auf Dauer auch im Westen sehr viel teurer zu stehen kommt, wenn wir nicht in allen Ländern die Pandemie bekämpfen. Wenn wir an die Umsetzung denken, würde es reichen, wenn die reicheren Länder einen Teil ihrer Impfstoffe jetzt einfach abgeben?
Massute: Das kann nur eine kurzfristige Lösung sein. Es kann der erste Schritt sein, jetzt schnell Dosen abzugeben, das fordern wir auch von Ländern, die sich eben sehr viele Impfstoffdosen gesichert haben. Aber mittel- und langfristig müssen wir eben auch sehen, es muss mehr Impfstoff produziert werden.
Wir sehen momentan, dass die Last der Produktion auf einigen wenigen Herstellerschultern liegt und die den globalen Bedarf so noch nicht decken können. Und das wird gerade im globalen Süden sichtbar, deshalb muss einfach mehr Impfstoff für mehr Menschen produziert werden. Da muss man mittelfristig schauen, wo können Produktionskapazitäten aus- und umgewandelt werden und wo können eben langfristig auch neue Produktionskapazitäten entstehen.
Auf lokale Mutationen schnell reagieren
Pfister: Da sagen ja viele, ja, da fehlen jetzt auch Fabriken, in denen ärmere Länder Impfstoffe selbst produzieren können, aber die aufzubauen, dauert ja Jahre. Wir haben das hier teilweise im Schnelldurchlauf in sechs Monaten hingekriegt – unter sehr viel besseren Bedingungen. Ist das mittelfristig der richtigen Weg?
Massute: Auf jeden Fall! Es muss dazu kommen, dass es global mehr Produktionskapazitäten gibt und dass es dann das Attraktivste wäre, dann auch lokal auf verschiedene Mutationen eingehen zu können. Gerade mit der Technologie von mRNA-Plattform-basierten Impfstoffen könnte man ja auch schneller auf Mutationen reagieren, diese Impfstoffe sind schneller anpassbar, sie sind übrigens auch kostengünstiger zu produzieren. Und so könnte man dann eben auch auf lokale Mutationen schnell reagieren.
Es gibt übrigens eine Studie, die zeigt, dass es im Durchschnitt sechs Monate gedauert hat, Technologie zu transferieren in dieser Pandemie, das schließt auch mRNA-Impfstoffe ein. Je länger man das nach hinten herauszögert, desto länger dauert es natürlich dann nachher auch, die Produktionskapazitäten auszubauen.
Patentaussetzung leistet ein weiteres Puzzlestück
Pfister: Eine Alternative wäre, die Patente für Impfstoffe freizugeben, damit schnell mehr produziert werden kann, Generika in dem Fall dann statt die Originalprodukte. Das wäre ein sehr starker Eingriff in Eigentumsrechte. Wäre es trotzdem der richtige Weg?
Massute: Als so einen starken Eingriff in die Eigentumsrechte würde ich das gar nicht sehen, weil wir befinden uns in einer globalen Pandemie. Und es wurden auch im vergangenen Jahr Milliarden öffentlicher Gelder nicht nur in Deutschland, sondern global in die Entwicklung dieser Impfstoffe investiert.
Nur deshalb haben wir jetzt auch so viele Impfstoffe auch in der Pipeline, aber auch schon zugelassen auf dem Markt, das ist auch dem zu verdanken, dass wir eben als Öffentlichkeit so stark investiert haben. Und die Aussetzung der Patente, die ja gefordert ist auch von Indien, Südafrika auf Ebene der Welthandelsorganisation für den Zeitraum der Pandemie, der beschränkt sich ja nicht nur auf Impfstoffe, sondern bezieht sich auch auf Medikamente, Diagnostika, Schnelltests, ganz wichtig, und eben auch Beatmungsgeräte oder Schutzkleidung.
Die Patentaussetzung leistet ein weiteres Puzzlestück quasi dazu, dass eben auch Rechtssicherheit für die Produzierenden im globalen Süden dann herrschen kann, um bestimmte Stoffe eben produzieren zu können.
Pandemie nicht "künstlich in die Länge ziehen"
Pfister: Mehr Fabriken bauen, Patente freigeben, wie Sie das ja gerade unterstrichen haben, das sind Dinge, zu denen im Moment weder die Staaten bereit sind noch die Unternehmen, die die Patente haben. Könnte es unter dem Strich darauf hinauslaufen, dass die wohlhabenden Länder erst Impfstoffe freigeben, wenn die quasi nur noch Restposten sind, also etwas, was in den eigenen Ländern eigentlich keiner mehr so richtig haben will – zum Beispiel Impfstoffe, die ein bisschen unbeliebt sind?
Massute: Wir hoffen, dass diese Entwicklung, die wir auch gerade aktuell in verschiedenen Ländern sehen, dass da noch mal entgegengewirkt wird und dass die reichen Länder sich jetzt wirklich dazu bereit erklären, frühzeitig Dosen abzugeben, frühzeitig Technologie zu teilen und da auch weiter Druck auf die Herstellerfirmen gemacht wird, dass das tatsächlich auch schnell passiert. Weil ja, sonst wird es aussehen, dass wir die Pandemie künstlich in die Länge ziehen und dass es nicht dazu beitragen wird, dass wir weltweit schneller aus dieser Pandemie herauskommen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.