Die Europäische Arzneimittelbehörde rechnet damit, dass der Impfstoff der Unternehmen Pfizer und Biontech Ende Dezember 2020 zugelassen werden kann, wenn die Prüfung positiv ausfällt.
In Deutschland wird kontrovers über das Tempo bei der Zulassung von Corona-Impfstoffen diskutiert. Während der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, mehr Tempo forderte, betonte der Europa-Abgeordnete Liese eine sorgfältige Prüfung sei wichtig und brauche Zeit.
Dass Großbritannien schon vorgestern eine Notfallzulassung erteilt hat, nannte Liese "problematisch". Es gehe nur darum, dass 400.000 Briten drei Wochen früher geimpft würden. Das sei die Sache nicht wert. Es gebe insbesondere für jüngere und sehr alte Menschen bisher nur wenige belastbare Daten. Dies sollte nach Lieses Ansicht auch bei der Impfstrategie berücksichtigt werden. Er schlug vor, zunächst das Personal im Gesundheitswesen und jüngere Risikopatienten zu impfen.
Das Interview in vollständiger Länge:
Sandra Schulz: Vier Wochen, um Unterlagen durchzusehen. Finden Sie das auch lang?
Peter Liese: Ich habe das Interview von Herrn Reinhardt gehört und er sagt ja relativ oft "ich glaube" oder "das ist zumindest mein Eindruck", und ich habe mich in den letzten Tagen und Wochen sehr intensiv mit den Zulassungsbehörden im Paul-Ehrlich-Institut, aber auch der Europäischen Arzneimittel-Agentur und mit Biontech direkt unterhalten. Herr Reinhardt glaubt leider falsch.
Es kommen noch Daten, die die Europäische Arzneimittel-Agentur noch nicht hat, und die Daten, die in Großbritannien vorgelegt wurden, sind nicht so umfangreich und nicht so detailliert wie das, was die Europäische Arzneimittel-Agentur braucht. Es ist ein anderes Verfahren und nach meiner festen Überzeugung ein sichereres Verfahren. Das heißt nicht, dass man es nicht um eine Woche noch beschleunigen kann. Ich hoffe, dass das vor Weihnachten klappt. Aber ich glaube, was die Briten gemacht haben, ist wirklich problematisch und sie kriegen dadurch auch nicht mehr Impfstoff. Es werden nur 400.000 Menschen einen Monat früher geimpft, und ich weiß nicht, ob das die Sache wert ist.
"Recht wenige Daten für Menschen unter 18"
Schulz: Denken Sie denn, dass der Impfstoff, der dann in der Europäischen Union zugelassen wird, ein anderer sein wird?
Liese: Nein, das ist der gleiche Impfstoff, aber wir können uns sicherer sein und vielleicht werden die Experten sagen, die ja dann aus der ganzen Europäischen Union sind und vielleicht auch zusätzliche Aspekte mit einbringen, kritische Fragen stellen, auf die ein Land alleine nicht kommt, der wird zugelassen, aber nur unter den und den Bedingungen. Zum Beispiel in Großbritannien ist er ab 16 zugelassen, obwohl man recht wenige Daten für Menschen unter 18 hat. Man könnte zu der Erkenntnis kommen, dann fangen wir doch auch erst mal mit denen über 18 an.
Das gleiche gilt für die ganz Alten. Es gibt 40 Prozent der Studienteilnehmer, die über 65 waren, aber die wurden relativ spät einbezogen, und mir ist noch nicht klar, auch nach Gesprächen mit BioNTech, wie viele über 80-Jährige sind eigentlich in den Studien gewesen und sollten wir wirklich mit den über 80-Jährigen anfangen, oder fangen wir vielleicht besser mit dem medizinischen Personal oder mit jüngeren Risikopersonen an. Ich denke, da können uns die Experten der EMA noch wichtige Hinweise geben, zumal wir am Anfang sowieso nicht genug Impfstoff für alle haben werden.
Schulz: Aber da ist jetzt immer wieder gesagt worden, dass es ohnehin eine offene Flanke gibt, nämlich die – Sie sprechen es gerade an -, dass der Impfstoff gar nicht an Risikopatienten getestet worden ist. Wenn Sie jetzt sagen, wenn wir vier Wochen länger brauchen, dann können wir uns sicherer sein – wie kommen Sie darauf, wenn wir doch diese wichtigen Tests an Risikopatienten, an älteren Menschen auch dann nicht haben werden?
Liese: Na ja. Ich habe nicht gesagt, dass die nicht vorliegen. Ich habe nur gesagt, die Informationen, wie viele über 80-Jährige getestet wurden, habe ich nicht. Ich weiß aber, dass die klinische Prüfung weiterläuft, und wenn in der klinischen Prüfung noch etwas passiert in den nächsten zwei, drei Wochen, muss das natürlich genauso einbezogen werden wie eventuelle Probleme, die jetzt bei dieser ersten Massenimpfung in Großbritannien stattfinden. Ich rechne nicht damit, dass es gravierende Probleme gibt, um das ganz klar zu sagen. Ich werde mich auch, wenn die Behörden in Deutschland das entscheiden, wenn ich an der Reihe bin, sofort impfen lassen.
Aber ich glaube, um das noch mal klarzumachen: Großbritannien kriegt nicht mehr Impfstoff und die meisten Briten werden genauso lange warten müssen wie die meisten Deutschen. Es werden jetzt 400.000 Menschen drei Wochen früher geimpft, als wenn man ein sorgfältigeres Verfahren gewählt hätte. Diese Notfallzulassung ist eigentlich nicht für so was gedacht, sondern für Menschen, die individuell im Krankenhaus liegen und nur durch ein Medikament gerettet werden können. Dann kann man das Risiko natürlich eingehen. Aber hier impfen wir ja Gesunde!
"Herr Reinhardt hat sich zum zweiten Maul unglücklich geäußert"
Schulz: Herr Liese, wir sprechen jetzt über ganz komplizierte Differenzierungen. Der Präsident der Bundesärztekammer, sagen Sie uns jetzt gerade, der hat das Verfahren falsch verstanden. Es ist gar nicht so, dass da jetzt Unterlagen durchgeschaut werden binnen dieser vier Wochen. Wenn wir jetzt darauf schauen und wir sehen, dass die Zahlen der Menschen, die sich impfen lassen wollen, ohnehin ja schrumpfen im Vergleich zum Sommer oder zum Frühjahr, denken Sie, dass diese Menschen jetzt durch diese vier Wochen zu überzeugen sein werden?
Liese: Noch mal zu Herrn Reinhardt. Er ist ja im Grunde auch mein Chef. Deswegen tue ich mich ein bisschen schwer. Aber in der deutschen Ärzteschaft gibt es immer mehr Unmut, wie sich die führenden Vertreter äußern – manchmal unbedacht. Das trifft vor allen Dingen Herrn Gassen, den Chef der Kassenärzte. Aber Herr Reinhardt hat sich jetzt auch zum zweiten Mal aus meiner Sicht unglücklich geäußert und da müssen wir natürlich aufpassen.
Was die Impfkritiker angeht: Ich glaube, wir werden am Ende erleben, dass sich die Schlangen vor den Impfzentren bis in den Sommer hinein halten. Wir werden überhaupt nicht die Frage haben, wen müssen wir überzeugen. Deswegen stellt sich für mich nicht die Frage, ob ich jetzt jemand überzeugen muss, weil wir werden immer zu wenig Impfstoff haben und immer mehr Menschen werden sagen, ich habe mich impfen lassen, ich fühle mich gut, und dann werden immer mehr Freunde und Nachbarn sagen, dann stelle ich mich jetzt auch mal an, oder lassen sich einen Termin geben. Natürlich muss man das koordiniert machen. Das wird meiner Ansicht nach nicht das Problem sein.
"Eine Notfallzulassung muss immer abgewogen werden mit dem Risiko"
Aber trotzdem bin ich doch als Politiker gehalten, für größtmögliche Sicherheit zu sorgen, und eine Notfallzulassung muss immer abgewogen werden mit dem Risiko, was passiert, wenn ich das Medikament nicht zur Verfügung habe. Ich sage: 400.000 Menschen drei Wochen schneller zu impfen – darum geht es, um nichts anderes; in Deutschland werden die Menschen genauso anteilmäßig geimpft ab Januar und der Impfstoff liegt schon im Kühlschrank, den wir im Januar bekommen, wenn das Zulassungsverfahren abgeschlossen ist. Das hat mir Biontech schriftlich versichert. Es geht nicht darum, dass die Briten uns den Impfstoff wegnehmen. Es geht darum, dass 400.000 Menschen drei Wochen früher geimpft werden, und dann müssen in Großbritannien dafür andere umso länger warten. Das ist die Sache doch nun wirklich nicht wert.
Bessere Marktmacht durch vereintes Handeln
Schulz: Jetzt ist Großbritannien ja aus der Europäischen Union Anfang des Jahres ausgeschieden. Aber wir haben ja auch in Europa zum Start der Pandemie durchaus Konkurrenzkampf gesehen. Wir haben Rivalitäten gesehen. Das wird jetzt beim Impfstoff aber klappen, dass der gerecht verteilt wird, wenn wir Großbritannien mal ausblenden?
Liese: Ja, das finde ich auch sehr, sehr wichtig. Es gab viel Ärger am Anfang der Pandemie, dass in Italien keine Masken zur Verfügung standen und die Menschen deshalb massenhaft gestorben sind, auch Ärzte und Pflegepersonal. Das muss jetzt besser klappen und wir machen das aus Solidarität. Aber wir machen das auch, weil wir dadurch eine bessere Marktmacht haben. Die Europäische Union mit 27 Mitgliedsstaaten plus Norwegen kriegt dann auch bessere Konditionen bei den Verhandlungen, als wenn jedes Land für sich alleine verhandelt.
Schulz: Was heißt denn eigentlich gerecht verteilt? Arbeiten Sie da mit einem Länderproporz, oder müsste man, da wir ja auch sehen, dass die Pandemie in unterschiedlichen Wellen aufschlägt, nach Betroffenheit gehen?
Liese: Mit der Betroffenheit ist das sehr, sehr schwierig, weil wenn wir die Entscheidung, was Betroffenheit angeht, im Oktober getroffen hätten, wäre zum Beispiel Irland ganz weit vorne gewesen. Die hatten ganz schlimme Zahlen, viel höher pro Kopf der Bevölkerung als Deutschland. Irland hat es aber durch eine, aus meiner Sicht viel klügere Politik als Deutschland in den letzten sechs Wochen geschafft, auf weniger als ein Drittel pro Kopf der Bevölkerung zu kommen, ohne die Schulen zu schließen, ohne einen totalen Lockdown, mit klugen Maßnahmen. Das ist erstens die Frage an uns, warum können wir das nicht auch so machen. Auch da irrt Herr Reinhardt, wenn er sagt, entweder strenger Lockdown, oder die Zahlen gehen dramatisch nach oben. In Irland sind jetzt die Gaststätten unter Auflagen wieder auf, weil sie es geschafft haben. Aber das zweite ist, dass wir ja jetzt nicht wissen, wie in zwei Monaten das Infektionsgeschehen ist. Im Oktober hätten wir gesagt, Deutschland braucht vielleicht wenig. Im Februar ist es auf einmal so, dass wir vielleicht ein Schwerpunkt der Pandemie sind, wenn wir jetzt nicht klug handeln. Deswegen geht es ganz konkret nach der Bevölkerung: Wie viele Einwohner man hat, so viel Impfstoff kriegt man.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner