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Impfstoffchargen vom Markt

Medizin. - Europaweit sind Grippeimpfstoffe des Pharmaherstellers Novartis aus dem Handel genommen worden. In bereits verkaufsfertigen Impfampullen in Italien waren weiße Ausflockungen entdeckt worden. Der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Professor Klaus Cichutek, erläutert Gründe und Vorgehensweise der Behörden. Der Virologe Professor Stephan Becker von der Universität Marburg, berichtet über die Impfstoffherstellung.

Jochen Steiner im Gespräch mit Professor Klaus Cichutek, Paul-Ehrlich-Institut, und Professor Stephan Becker, Universität Marburg; Fakten zusammengetragen von Lennart Pyritz |
    Italien war das erste Land, das die Grippeimpfstoffe zurückgezogen hat. Dort produziert der Pharmakonzern Novartis Vaccines die Impfstoffe Fluad und Begripal, das in Italien unter dem Markennamen Agrippal vertrieben wird. Nachdem Mitarbeiter von Novartis weiße Partikel in Spritzen festgestellt hatten, informierten sie die italienischen Gesundheitsbehörden.

    Bei den ausgeflockten Partikeln könnte es sich um verklumpte Eiweiß-Bestandteile des Impfstoffs handeln, die unter Umständen schwere Nebenwirkungen auslösen könnten, von allergischen bis hin zu anaphylaktischen Reaktionen. Die italienischen Behörden untersagten daraufhin am Mittwoch, die beiden Impfstoffe in Italien zu verkaufen oder anzuwenden. Am selben Tag zogen aufgrund der Entwicklung in Italien auch die Schweiz und Österreich die Grippe-Impfstoffe aus dem Verkehr. Novartis hat vermutlich schon seit Juli von den Impfstoff-Problemen gewusst. Der italienische Umweltminister Renato Balduzzi warf dem Konzern vor, die Behörden nicht frühzeitig und ausreichend informiert zu haben.

    Auch in Deutschland zog das Paul-Ehrlich-Institut gestern Nachmittag die Freigabe einiger Chargen der Grippe-Impfstoffe zurück. Betroffen sind vier Chargen des Impfstoffes Begripal und eine Charge des Impfstoffes Fluad. Ausflockungen beim fertigen Impfstoff wurden in Deutschland zwar bislang nicht beobachtet. Bei den betroffenen Chargen sind allerdings in den Produktionsvorstufen weiße Partikel ausgeflockt. Berichte über Schadensfälle liegen nicht vor. Auch über mögliche Spätfolgen der zurückgezogenen Impfstoffe ist nichts bekannt. Heute Mittag hat auch Frankreich aus Sicherheitsgründen den Impfstoff Aggripal vom Markt genommen. Ausflockungen in Impfampullen wurden in Frankreich nicht festgestellt.

    Begripal ist in Deutschland seit 1999 zugelassen, Fluad seit dem Jahr 2000. Bislang sind keine unvorhergesehenen Probleme mit beiden Stoffen aufgetreten. In Deutschland sind für die Saison 2012/2013 außer Begripal und Fluad 14 weitere Grippe-Impfstoffe zugelassen. Darunter ist auch der Impfstoff Optaflu, den Novartis Vaccines in Marburg produziert. Bei Optaflu wurden keine Ausflockungen festgestellt; der Impfstoff ist daher nicht von der Rücknahmeaktion betroffen. Das Vorgehen des Paul-Ehrlich-Instituts erläutert sein Leiter, Professor Klaus Cichutek, im Gespräch mit Jochen Steiner.

    Steiner: Herr Cichutek, weiß man schon mehr über die Auswirkungen?

    Cichutek: Was bekannt ist zu den Ausflockungen ist, dass sie einmal in bereits abgefüllten Impfstoffchargen vorhanden waren in Italien, die allerdings nicht auf dem Markt gekommen sind. Zweitens, dass auch in Herstellungsvorstufen, Intermediaten und Zwischenprodukten,solche Ausflockungen vorgekommen sind. Intermediate, aus denen dann die Impfstoffchargen abgeleitet wurden, deren Chargenfreigabe das Paul-Ehrlich-Institut zurückgerufen hat. Die tatsächliche Natur dieser Intermediate scheint zu sein, dass es sich um Antigen der Influenza-B-Stamm-Komponente des Impfstoffes handelt. Die wurde für diese Saison ausgetauscht, und daraus erscheinen die Probleme zu erwachsen, so unser zwischenzeitliches und übergangsweises Assessment.

    Steiner: Also das Antigen, sozusagen ein natürlicher Bestandteil des Impfstoffes, ein toter Virenstamm sozusagen. Ist das richtig?

    Cichutek: Das ist richtig. Bei den saisonalen Impfstoffen handelt es sich um Trivalente, das heißt, sie haben Antigene von drei dominant und am meisten kursierenden Influenzaviren. Alles sind Inaktivat-Impfstoffe, das heißt, das Antigen ist Erregerbestandteil, an sich kein Erreger mehr, abgetötet, kann so selbst keine Infektion auslösen, sondern löst lediglich die Immunreaktionen im Körper aus, die sonst der Infektionserreger auslösen würde.

    Steiner: Man hat das Antigen identifiziert. Ist das eine natürliche Reaktion oder wurde da vielleicht nicht richtig gekühlt? Was weiß man darüber?

    Cichutek: Man weiß darüber, dass es ein ganz normaler Vorgang ist. Es kommt vor aufgrund der unterschiedlichen Proteinzusammensetzung dieser Antigene, je nachdem welche Influenza-Varianten kursieren, dass die unterschiedliche Eigenschaften haben können und somit auch einmal im Herstellungsprozess ausflocken. Solche Chargen sollten selbstverständlich nicht verwendet werden, weil sich da Nebenwirkungen später anknüpfen können.

    Steiner: Es ist also ein bekanntes Problem. Besteht denn eine Gesundheitsgefahr für Menschen, die bereits geimpft wurden, oder die sich noch impfen lassen wollen?

    Cichutek: Die besteht nicht. Und zwar ist es so, dass wir keine Pharmakovigilanz-Signale haben, das heißt, unsere Nebenwirkungs-Beobachtung zur Influenza-Impfung dieses Jahr, gibt da kein Signal her. Von Flocken im Impfstoff herrühren, das wissen wir aus Erfahrung, könnten schwere Lokalnebenwirkung, Lokalreaktion oder auch anaphylaktoide Schocks, das haben wir nicht registriert und aufgrund unserer Reaktion - hier die Chargenfreigabe zurückzunehmen, so dass auch der Impfstoff vom Hersteller freiwillig vom Markt genommen wird - wird nichts mehr passieren. Und es ist in der Vergangenheit auch nichts passiert, denn die entsprechenden Reaktionen sind akut, Kurzzeitreaktionen, die innerhalb von wenigen Stunden auftreten und jetzt schon vorbei sein sollten, wenn sie denn vorgekommen sind. Bei der Gelegenheit möchte ich aber betonen, dass bei allen Chargen, allen Impfstoffen, die in Deutschland bisher auf dem Markt gekommen sind, die Auswirkungen selbst nicht beobachtet wurde. Es handelt sich also um eine Vorsorgemaßnahme.

    Steiner: Gab es denn vergleichbare Fälle in der Vergangenheit?

    Cichutek: Die gab es. Wir haben da Erfahrungen. Vor einigen Jahren gab es einen anderen Influenza-Impfstoff, bei dem wir zunächst ein Pharmakovigilanz-Signal gesehen haben, das schwere Lokalreaktionen registrierte. Und wir haben dann nach den Ursachen gesucht, und eine der Ursachen waren tatsächlich Ausflockungen im Endprodukt, im Impfstoff. Deswegen können wir unsere Reaktion auch sehr gut auf Erfahrungen und tatsächliche Pharmakovigilanz-Beobachtungen basieren.

    Steiner: Die Grippeimpfstoffe müssen ja jedes Jahr neu zugelassen werden. Warum ist das so?

    Cichutek: Das ist so, dass die Neuzulassungen keine wirkliche Neuzulassung, sondern eine Zulassung der neuen Variante ist. Jedes Jahr wird erhoben, welche Influenza-Virusvarianten in der Welt hauptsächlich kursieren und hier schwere Krankheiten hervorrufen. Dann wird zusammengestellt, dass genau die Antigene dieser entsprechenden Influenzavirus-Stämme in den neuen saisonalen Impfstoff aufgenommen werden. Und diese Stamm-Umstellung ist dann auch verbunden mit klinischer Prüfung an einigen Tausend Impfwilligen nach Aufklärung, und auf diese Weise wird der Stoff nicht neu zugelassen, sondern der bereits zugelassene Impfstoff modifiziert und wir nennen das dann, dass eine Variation genehmigt wird.

    Steiner: Doch wie werden Grippeimpfstoffe eigentlich erforscht und hergestellt. Antworten dazu habe ich kurz vor der Sendung von Professor Stephan Becker bekommen. Er ist Virologe an der Universität Marburg. 16 verschiedene Grippeimpfstoffe gibt es in dieser Saison. Das hat sicherlich marktwirtschaftliche Ursachen. Aber gibt es darüber hinaus noch medizinische Gründe?

    Becker: Es gibt sicherlich Unterschiede in der Art und Weise, wie verschiedene Immunsysteme auf die Impfstoffe reagieren. Zum Beispiel alte Menschen, deren Immunsystem nicht mehr so fit ist wie bei den Jungen, benötigen eine stärkere Impfung, also eine stärkere Ansprache ihres Immunsystem. Wohingegen junge Menschen normalerweise das wesentlich besser bewerkstelligen können. Diese Impfstoffe, die wir auf dem Markt haben, unterscheiden sich alle nicht so wesentlich. Es gibt einige, die sind anders, haben vielleicht einen anderen Hilfsstoff drin. Aber die meisten sind sehr ähnlich. Es handelt sich dabei um inaktivierte Viren. Und diese Viren werden dann dem Menschen geimpft.

    Steiner: Sie haben es gerade angesprochen. Inaktive Viren, die geimpft werden. Wie läuft denn die Herstellung eines Grippeimpfstoff im Großen und Ganzen ab?

    Becker: Die meisten der Influenza-Impfstoffe werden auf embryonierten Hühnereiern gezogen. Also die Eier werden mit Viren quasi infiziert und dann vermehrt sich das Virus in den Eiern, und dann werden diese Eier nach einigen Tagen geerntet und dann wird das Virus gereinigt aus dieser Eiflüssigkeit. Und dann wird das Virus inaktiviert, dass es nicht mehr infektiös ist, wird dann gereinigt und dann quasi abgefüllt auf Spritzen und dann hat man den Impfstoff. Er wird zugelassen und dann wird er verabreicht. Einige der Probleme, die wir momentan haben, ist, dass dieser Prozess doch einige Zeit dauert und die meisten Impfstoffhersteller machen diese neuen Impfstoffe etwa im Frühjahr. Und dann wird das Virus verpackt in die Spritzen, das wird dann zugelassen vom Paul-Ehrlich-Institut und dann wird es verkauft. Und das wird dann nicht mehr nachproduziert. Und das ist das, was wir momentan gerade an Problemen haben, dass Sie kaum Impfstoff neu produzieren können. Das würde zu lange dauern.

    Steiner: Das heißt, ein langer Produktionsprozess, der jetzt eben dazu führt, dass man nicht mehr nachproduzieren kann und möglicherweise Engpässe entstehen. Wie sehen Sie das? Gibt es Engpässe?

    Becker: Das sieht ganz so aus. Das liegt jetzt aber nicht nur daran, dass diese Ausflockungen gefunden worden sind, sondern diese Engpässe, die hatten wir schon, vor einigen Tagen waren die in der Presse schon zu lesen, so dass manche Länder einfach zu wenig Impfstoff bekommen haben.

    Steiner: Ist der aktuelle Fall für Sie ein Anlass, in der Impfstoffentwicklung - so wie Sie sie beschrieben haben, ja doch ein aufwändiger Prozess - neue Ansätze vielleicht auszuprobieren?

    Becker: Na, wir haben ja zum Beispiel einen neuen Ansatz mit dem Zellkultur-Impfstoff, den es für Grippe gibt…

    Steiner: Der auf Zellkulturen gezogen wird!

    Becker: Genau, der wird dann nicht mehr auf Eiern eben gezüchtet, sondern auf Zellkulturen. Und da ist es eigentlich möglich schneller zu reagieren auf neue Anfragen von Impfstoffen.

    Steiner: Wer sollte sich denn eigentlich impfen lassen, wenn jetzt der Impfstoff knapp wird? Für wen ist es wirklich notwendig und wer sollte vielleicht im Hinblick auf die anderen darauf verzichten?

    Becker: Also ganz sicher sollten sich ältere Menschen impfen lassen. Ältere Menschen über 60, deren Immunsystem auch eine Influenza nicht gut verkraftet, und die dann möglicherweise schwerer erkranken, also mit einer Lungenentzündung. Das ist bei alten Menschen ein großes Problem. Deswegen sollten die sich auf jeden Fall impfen lassen.