Mit einer gemeinsamen Anstrengung will die Europäische Union das Coronavirus bekämpfen. "'Ich zuerst' taugt nicht als Motto. Nun stellen wir uns solidarisch dieser noch nie dagewesenen Herausforderung", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits im Juni. Das war die Geburtsstunde der EU-Impfstrategie und der Anstoß zur Gründung einer Europäischen Gesundheitsunion, über die Anfang Dezember die EU-Gesundheitsministerinnen und -minister unter dem Vorsitz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn berieten. Der konstatierte anschließend: "Die Europäische Union zeigt ihre Stärke in der Pandemie. Unter dem deutschen Ratsvorsitz haben wir Europas Abwehrkräfte gestärkt und gemeinsam Lehren aus der Pandemie gezogen."
- Was beinhaltet die EU-Impfstrategie?
- Was sind die Vorteile?
- Welche Kritik gibt es an dem Vorgehen der EU-Kommission?
- Wie viele Impfdosen bekommt die EU und wie erfolgt die Verteilung an die Mitgliedsländer?
- Wie werden die Kosten aufgeteilt?
- Warum dauert die Impfstoff-Zulassung in der EU länger als etwa in Großbritannien?
Ziel der EU-Kommission ist es, binnen zwölf bis 18 Monaten wirksame und erschwingliche Impfstoffe für alle EU-Bürger zu sichern. Dazu verhandelt sie im Auftrag aller Mitgliedstaaten mit den Unternehmen, die die vielversprechendsten Impfstoffprogramme auf den Weg gebracht haben. "Indem wir gemeinsam europäisch vorgehen, wollen wir die Wahrscheinlichkeit für alle Mitgliedstaaten erhöhen, einen wirksamen Impfstoff zu finden. Und so können wir auch besser sicherstellen, dass unseren Bürgerinnen und Bürgern die erforderlichen Mengen zu einem erschwinglichen Preis zu Verfügung stehen werden", erklärt von der Leyen.
Wenn die EU-Kommission Impfstoffe für 450 Millionen Bürger kauft, dann hat sie eine viel größere Verhandlungsmacht als jedes Mitgliedsland für sich allein. Das wirkt sich nicht nur auf den Preis einer jeden Impfdosis aus. Die EU war und ist auch in der Lage, Vorabzahlungen zu leisten, mit denen die Pharmaunternehmen ihre Forschungsinvestitionen decken konnten und können. Die Kommission konnte gleichzeitig überzogene Forderungen etwa nach der Streichung von Haftungsrisiken abwehren. So jedenfalls heißt es bei der Kommission. Die Mitgliedsländer erhoffen sich durch das gemeinsame Vorgehen auch mehr Akzeptanz der Bevölkerung für die Impfung.
Die Brüsseler Behörde handelt im Namen aller Mitgliedstaaten Verträge über Impfstoffe aus, von denen noch niemand weiß, ob sie jemals entwickelt werden können. Es besteht immer das Risiko, dass die unterstützten Kandidaten bei den klinischen Prüfungen scheitern, dessen ist sich die EU-Kommission bewusst. Im Europaparlament regt sich Unmut darüber, dass die EU-Kommission die von ihr ausgehandelten Verträge mit Verweis auf das Geschäftsgeheimnis nicht offenlegt. Der grüne Abgeordnete Rasmus Andresen kritisiert etwa: "Das muss sich ändern, denn es ist unsere demokratische Aufgabe und Pflicht, die Vertragsbedingungen überprüfen zu können."
Bislang hat die EU-Kommission sechs dieser Verträge abgeschlossen. Sollten tatsächlich alle dieser Impfstoffe eine Zulassung erhalten, dann würden die EU-Mitgliedstaaten über fast zwei Milliarden Impfdosen verfügen können. So viele würden gar nicht benötigt, selbst wenn jeder EU-Bürger zwei Mal geimpft werden müsste. Die überschüssigen Dosen sollen armen Ländern zur Verfügung gestellt werden, die nicht in der Lage sind, Impfstoffe zu kaufen, so von der Leyen: "Die Europäische Union wird alles in ihrer Macht Stehende tun, damit alle Menschen Zugang zu einem Impfstoff haben, egal, wo auf der Welt sie leben."
Der Zugriff der EU-Länder folgt einem Grundsatz, auf den sich alle im Juni verständigt haben: Wann immer ein Impfstoff lieferbar sein wird, werden alle Mitgliedstaaten gleichzeitig darauf zugreifen können. Die verfügbare Menge wird proportional zur Bevölkerungszahl der EU-Länder aufgeteilt.
In der Vereinbarung über die Impfstrategie ist allerdings auch festgehalten, dass die Mitgliedstaaten keine separaten Verhandlungen mit den Pharmakonzernen führen dürfen. Das hat Deutschland aber getan. Als die EU gerade den Vertrag mit Astra Zeneca ausgehandelt hatte, verkündete Bundesgesundheitsminister Spahn, wie viele Impfstoffdosen Deutschland dadurch erhält: "54 Millionen sind der deutsche bevölkerungsbezogene Anteil aus dem Gesamtvertrag der EU. Das ist aber nur der Astra-Zeneca-Vertrag. Zusätzlich kommen die gut 40 Millionen Dosen aus den Verträgen national im Rahmen der Förderung, die wir hier machen." Schnell stand die Frage im Raum, ob Deutschland sein eigenes Süppchen kocht - trotz aller Brüsseler Abmachungen.
Die Abschlagszahlungen an die Pharmakonzerne bestreitet die EU-Kommission aus dem "Soforthilfeinstrument" - ein Geldtopf für Notsituationen, der 2,7 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt beinhaltet. Weil das nicht ausreicht, hat die Kommission die Mitgliedstaaten um zusätzliche Einzahlungen gebeten. Die Reaktion ist verhalten. Zusätzliche Unterstützung ist durch Darlehen der Europäischen Investitionsbank möglich. Alle übrigen Kosten für die Impfstoffe müssen die Mitgliedstaaten selbst tragen.
Kein EU-Mitgliedsstaat kann im Alleingang einen Impfstoff zulassen - außer durch eine Notfallzulassung. Dabei entscheidet das erteilende Land über die Daten, die es prüft und steht in größerer Verantwortung für die Sicherheit des Impfstoffes. Außerdem kann es nur bestimmten Gruppen eine bestimmte Menge des Impfstoffes zukommen lassen.
Die britische Aufsichtsbehörde für Arzneimittel (MHRA) hat eine Notfallzulassung für den Corona-Impfstoff von Biontech/Pfizer erteilt, sie wurde dazu von der britischen Regierung ermächtigt. Ab dem 1. Januar (nach dem Brexit) wird die neue Behörde endgültig für das Vereinigte Königreich zuständig sein. Der Europa-Abgeordnete Liese kritisierte die Notfallzulassung im Dlf und betonte, eine sorgfältige Prüfung sei wichtig und brauche Zeit. Es gehe nur darum, dass 400.000 Briten drei Wochen früher geimpft würden. Es gebe insbesondere für jüngere und sehr alte Menschen bisher nur wenige belastbare Daten.
Eine EU-weite Vermarktung kann nur durch die Grundlage der Zulassung der für die EU zuständigen Europäischen Arzneimittel-Agentur (Ema) erfolgen. Im Moment laufen mehrere Zulassungsverfahren in der EU mit bedingter Marktzulassung. Die Ema erklärt, dass bis spätestens 29. Dezember mindestens eine Zulassung vorliegen soll. Dann kann die EU-Kommission die Verwendung für alle EU-Länder genehmigen. Allerdings muss dort jeweils die zuständige Bundesoberbehörde den Impfstoff freigeben. In Deutschland prüft das Paul-Ehrlich-Institut die Impfstoffe.
Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, hält die Zeitspanne von vier Wochen für die Prüfung des Impfstoffs in der EU allerdings für zu hoch. Schließlich müsse nur eine Prüfung von in den letzten Monaten stattgefundenen Studien durchgeführt werden und keine weitere Überprüfung des Impfstoffs, sagte er im Dlf.
Auch die Zulassungsanträge für Corona-Impfstoffkandidaten von Moderna und Biontech/Pfizer werden in einem schnelleren Verfahren, dem "Rolling-Review" bewertet. Die Beurteilung des Impfstoffkandidaten wird bereits begonnen, bevor alle erforderlichen Daten eingereicht wurden. Trotz der Beschleunigung bleiben die Anforderungen an Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit der betreffenden Arzneimittel nach Aussage der Ema unverändert hoch. Die Vorteile eines Covid-19-Impfstoffs müssen nach EU-Arzneimittelgesetzgebung weitaus größer sein als alle Nebenwirkungen oder potenziellen Risiken.
Quellen: Peter Kapern, Olivia Gerstenberger, EU-Kommission, dpa