In Gegenden mit schwierigen hygienischen und medizinischen Verhältnissen ist die Schluckimpfung immer noch das Mittel der Wahl gegen Polio, denn sie ist billig und leicht anzuwenden. Der entscheidende Vorteil ist gleichzeitig ein Nachteil. Denn die Schluckimpfung enthält – im Gegensatz zum gespritzten Impfstoff – zwar abgeschwächte, aber dennoch lebende Viren. Daraus können sich neue ansteckende Erreger entwickeln. Das macht die Schluckimpfung aber woanders wieder wett, sagt Dr. Hamid Jafari, der bei der Weltgesundheitsorganisation WHO die Einsätze und die Forschung zu Polio leitet.
"Die Schluckimpfung sorgt anders als der gespritzte Impfstoff dafür, dass die Darmschleimhaut immun ist gegen das Virus. Es kann sich darin nicht vermehren. Das verhindert die Verbreitung auf andere Menschen. Doch diese Immunität lässt mit der Zeit nach. Danach sind so geimpfte Menschen zwar selbst weiterhin vor schwerer Erkrankung geschützt, sie können das Virus aber weitergeben. Das war vor allem im Endemiegebiet in Nord-Indien ein Problem."
Bisher hat man die Schluckimpfung wiederholt, um die Schleimhäute erneut zu immunisieren. Jafari und seine Kollegen untersuchten im Jahr 2010, ob das besser funktionierte, wenn sie beide Impfstoffe kombinierten. Alle knapp 1000 Kinder der Studie waren bereits ein- oder mehrmals mit den abgeschwächten Viren geimpft worden. Ein Teil erhielt in diesem Test keine weitere Impfung, ein zweiter Teil eine neuerliche Dosis Schluckimpfung und ein dritter Teil stattdessen eine Spritze mit dem Totimpfstoff, kurz IPV. Danach untersuchten die Forscher, wie sich die Schutzwirkung zwischen den drei Gruppen unterschied.
Schluck- und Spritzimpfung steigern Wirkung
"In der IPV-Gruppe schieden danach weniger Menschen das Virus aus, und die, die es taten, weniger lange und in kleineren Mengen. Sie waren in jeder Hinsicht weniger ansteckend als die Kontrollgruppen."
Ein wichtiger Erfolg für die Polio-Kampagne, sagt Dr. Bruce Aylward, der bei der WHO stellvertretender Generaldirektor für Polio ist. Bisher habe man stets in einem ersten Schritt die wilden Polio-Viren ausgerottet und sich dann in einem zweiten um die Viren gekümmert, die sich aus dem Lebendimpfstoff entwickelt hatten.
"Diese Studie hat unser Wissen über den Totimpfstoff revolutioniert und uns gezeigt, wie er in unsere Polio-Kampagne passt. Die WHO hat IPV deshalb in ihre Strategie aufgenommen. Wir bekämpfen jetzt beide Risiken – die wilden Viren und die Viren aus dem Impfstoff – parallel, damit die Ausrottung endlich abgeschlossen wird."
Denn trotz aller Erfolge – noch immer zirkuliert das Virus in den Krisenregionen von Afghanistan, Pakistan und Nordnigeria. Sie sind schwer zu erreichen, und dort bestehen große Vorbehalte gegen die Kampagne. Auch in Syrien häufen sich wieder Fälle von Kinderlähmung. Ein anderer Vorfall aus dem Jahr 2010 unterstreicht die Probleme, sagt Professor Christian Drosten, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn.
Neuer Virenstamm entstanden
"Im Kongo gab es eine große Polio-Virus-Epidemie, das ungewöhnliche daran war, dass in großem Maße Erwachsene betroffen waren, und dass diese Erwachsenen auch in hohem Maße verstorben sind. Fast die Hälfte der Infizierten ist gestorben."
Wie Drosten und seine Kollegen herausgefunden haben, waren die Stellen an der Oberfläche des Virus verändert, an denen menschliche Antikörper andocken. Die Virologen untersuchten im Labor an Blutproben von Menschen, die frisch gegen Polio geimpft waren, wie gut sie gegen die Kongo-Viren geschützt waren.
"Von denen hatte ein bedeutender Anteil keinen im Labor nachweisbaren Schutz gegen dieses abweichende Virus aus dem Kongo, während normale Polio-Viren gut geschützt waren, also so wie man sich das vorstellt von der Impfung. Wenn dieses Virus in eine westliche Bevölkerung käme, dann wäre das wahrscheinlich ein Problem."
Noch fehlen Daten, um zu sagen, ob solche Mutationen häufiger auftreten. Es sei eine sehr kritische Zeit für die Polio-Kampagne. Die WHO-Forscher hätten aber in der neuen Studie gezeigt, so Drosten,
"dass durch eine relativ einfache Zusatzmaßnahme, eine möglicherweise bessere Kontrolle der Verbreitung in der Bevölkerung zu erzielen ist, dass man dadurch eine ganz wichtige neue Option gewonnen hat, und es war sehr gut von der WHO, dass sie das jetzt sofort in die Impfempfehlung mit eingeführt haben, dass jetzt sofort umgeschaltet wird zu einer zusätzlichen Applikation von IPV."