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Imre Kertész: Die exilierte Sprache. Essays und Reden

Drastischer, unerbittlicher, kompromissloser könnte man über das abgelaufene 2o. Jahrhundert nicht urteilen:

Hans Martin Lohmann | 13.10.2003
    In diesem Jahrhundert hat sich alles entlarvt, hat wenigstens einmal alles sein wahres Antlitz gezeigt, sich als das offenbart, was es eigentlich ist. Der Soldat als berufsmäßiger Mörder, die Politik als kriminelle Machenschaft, das Kapital als menschenvernichtendes, mit Leichenverbrennungsöfen gerüstetes Großunternehmen, das Recht als Spielregel fürs schmutzige Geschäft, die Weltfreiheit als Völkergefängnis, der Antisemitismus als Auschwitz, das Nationalgefühl als Völkermord.

    Notiert hat diesen monströsen Befund, dem man freilich ernsthaft nicht widersprechen mag, der ungarische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész. Nach seinen großen Romanwerken über die Zerstörung des Menschen im 2o. Jahrhundert – genannt seien Kaddisch für ein nicht geborenes Kind und Roman eines Schicksallosen – hat Kertész jetzt einen Band mit Reden und Essays herausgebracht, allesamt nach der Wende 1989/9o entstanden, in denen er unablässig der Frage nachgeht, welchen Ort das moderne Individuum inmitten einer Welt hat, in der, so Kertész’ nicht unbegründete Behauptung, "die Daseinsform des Mordens eine lebbare und mögliche Daseinsform" geworden, in der sie also "institutionalisierbar" ist. Auschwitz, Chiffre für das Verbrechen schlechthin, ist für ihn keine Ausnahmeerscheinung, kein historischer Betriebsunfall, der quer und fremd zur europäischen Geschichte steht, vielmehr "die letzte Wahrheit über die Degradierung des Menschen im modernen Dasein" – eine Wahrheit, die, einmal zum Ereignis geworden, sich jederzeit wieder ereignen kann. Nichts schützt uns laut Kertész davor, dass es genauso schlimm oder noch schlimmer kommen kann.

    Auch wenn man als Leser dieser Essays den manchmal vielleicht ermüdenden Eindruck gewinnen mag, dass der Schriftsteller eigentlich immer wieder das Gleiche sagt, dass sich sein Denken in einer geradezu monotonen Bewegung stets um ein und dieselbe Sache bewegt, so ist man auf der anderen Seite doch festzustellen genötigt, dass die intellektuelle Insistenz, mit welcher Kertész seinen Gegenstand einkreist, erst die Voraussetzung dafür schafft, dass dieser Gegenstand in der Routine von Beschwörungs- und Erinnerungsritualen nicht gänzlich verschwindet. Wenn Kertész, der Jude, z.B. über Auschwitz schreibt, es sei in seiner absoluten Negativität "das einzig bleibende Werk", das der Nationalsozialismus hinterlassen hat, so wirkt das zunächst ungeheuer befremdlich, ja provokativ. Darf man im Hinblick auf den NS und seine katastrophale Hinterlassenschaft wirklich von einem "bleibenden Werk" sprechen? Erst beim zweiten oder dritten Lesen dieses Satzes wird einem deutlich, was damit gemeint ist: Wir können, ob wir wollen oder nicht, aus dem Schlagschatten von Auschwitz nicht heraustreten oder - mit der Paraphrase eines Wortes des französischen Historikers Fernand Braudel:

    Ein wirklich bedeutendes historische Ereignis lässt sich daran erkennen, dass es eine Fortsetzung hat.

    Auschwitz ist für Kertész, keine Frage, ein solches historisches Großereignis, welches im Modus der mythischen Erzählung, d.h. im Geschichtsfundus einer Zivilisation fortbesteht. Seine andauernde Wirkungskraft liegt darin, dass keine politische oder moralische Instanz darüber zu entscheiden vermag, ob und wie es thematisiert wird – dank seiner Monstrosität ist es nicht aus der Welt zu kriegen, weder auf dem Wege der Verleugnung und Verdrängung noch auf dem der wie immer gutgemeinten "Wiedergutmachung". Jenseits dieser für Kertész falschen Alternative liegt der Sinn oder der "Wert" von Auschwitz, von dem er an einer Stelle, ein bekanntes Diktum Theodor Adornos variierend, anmerkt, nach Auschwitz könne man nur noch Gedichte über Auschwitz schreiben:

    Der Holocaust ist ein Wert, weil er über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt.

    So problematisch es sein mag, aus Auschwitz einen positiven "Sinn" pressen zu wollen, so hoch muss man es dem ungarischen Schriftsteller gleichwohl anrechnen, dass er vor Auschwitz nicht kapituliert, wenn er darauf hinweist,

    ... dass der Holocaust in seiner kathartischen Entfaltung – deren erschütterte Zeugen wir seit Jahrzehnten sind – nicht trennt, sondern vereint, weil das Universelle des Erlebnisses immer stärker ans Licht tritt.

    Auschwitz könnte, mit einem Wort, insofern kulturbildend sein, als wir in ihm das moderne Universelle und Allgegenwärtige von Vernichtung und Tod erkennen. Das ist ganz im Geist des späten Freud formuliert, der in dem, was die Menschen verbindet, die Macht des Eros, des Lebendigen, letztlich den Sieg der Kultur über die Kräfte der Zerstörung erkannte. Mehr als eine schöne Hoffnung ist das freilich nicht, denn es dürfte fraglich sein, ob jene "moralische Reserve", die Auschwitz birgt, von uns wirklich in Gebrauch genommen wird.

    Kertész’ Texte bewegen sich auf einem höchst unsicheren und schmalen Grat, und die Gefahr des Absturzes ist demensprechend groß. Seine Essays sind einerseits der Versuch, als überlebender Zeuge und als Schriftsteller das Unsagbare immer wieder zur Sprache zu bringen und es damit der Gleichgültigkeit und dem Vergessen zu entreißen. Aber genau in diesem Versuch steckt andererseits auch die Möglichkeit des Verrats. Kertész selber beklagt ja die unerträgliche Banalisierung und Stilisierung dessen, was einem allgemeinen Sprachgebrauch zufolge "Holocaust" heißt – eine Abstraktion, welche die direkter und brutaler klingenden Wörter "Vernichtungslager" oder "Endlösung" elegant vermeidet und dadurch einem gedankenlosen Sprechen Vorschub leistet, das der Ungar abwechselnd als "Holocaust-Konformismus", "Holocaust-Sentimentalismus" und "Holocaust-Kanon" geißelt. Es wäre seltsam, wenn sich nicht auch die Texte von Kertész gelegentlich der Gefahr aussetzten, durch Benutzung und Wiederholung bestimmter Klischees ins Unverbindliche abzugleiten. Man steht vor dem Paradox, dass, was eigentlich immer wieder gesagt werden muss, nicht immer wieder gesagt werden darf.

    Ihren Titel Die exilierte Sprache verdankt diese Sammlung von Essays der Erfahrung des Schriftstellers, als grundlos-zufällig Überlebender in einem Raum zu denken und zu schreiben, der exterritorial zu dem Raum steht, der gewöhnlich Heimat genannt wird. Dies kann man im Falle von Kertész nicht nur im übertragenen Sinne, sondern durchaus auch wörtlich nehmen. Jahrzehntelang galt es im stalinistischen und nachstalinistischen Ungarn als verpönt, mehr als nur andeutungsweise über das deutsche Verbrechen an den Juden zu sprechen, in das ja auch die Ungarn verstrickt waren. Als dem anderen totalitären System des 2o. Jahrhunderts war es dem real existierenden Kommunismus, der seinerseits das Verbrechen zur Staatsraison erhoben hatte, nicht gerade eine Herzensangelegenheit, derlei auf die Tagesordnung zu setzen. So lebte Kertész, wie er schreibt, in einem freiwillig gewählten geistigen Exil, das er mit einer verstreuten Minderheit teilte – genannt seien hier Jean Améry, Paul Celan, Primo Levi, Tadeusz Borowski und Albert Camus, deren Namen bei Kertész immer wieder auftauchen. Wie ein Resümee der existentiellen Erfahrung von Heimatlosigkeit liest sich jener Satz, den er in dem Essay mit dem Titel "Wer jetzt kein Haus hat" niedergelegt hat:

    Mit dem Gefühl der Verlorenheit zu leben: das ist wohl der moralische Zustand heute, bei dem verharrend wir unserer Epoche getreu sein können.

    Einer der schönsten und anrührendsten Essays des Bandes ist Kertész’ Landsmann Sándor Márai gewidmet, der hierzulande vor allem mit seinem Roman Die Glut bekannt geworden ist. Marai, auch er ein Exilant, der 1948 Budapest verließ, um schließlich in den Vereinigten Staaten zu landen, vermerkte in seinem Tagebuch, dass er erst Ungarn verlassen musste, um ein ungarischer Schriftsteller sein zu können. Im übertragenen Sinne kann man das auch von Imre Kertész sagen. Er musste alles verlassen und aufgeben, was Heimat bedeutet – in seinen eigenen Worten: "Auschwitz als Welterfahrung" –, um zu dem ungarischen Schriftsteller zu werden, den man heute auch in Deutschland lesen kann.