Zwei zentrale Fragen bestimmen das literarische und essayistische Werk des Imre Kertész: Wie kann die Literatur angesichts dessen, was sich nicht darstellen lässt, dem Vorwurf der Lüge entgehen? Und was, so Kertész weiter, ist eine Kultur wert, die zu Auschwitz geführt hat? Deren humanistisches Wertesystem, das Opfern wie Mördern von Kindesbeinen an gelehrt wurde, sich offensichtlich als nutzlos erwiesen hat?
Ähnliche Zweifel hatten Theodor W. Adorno umgetrieben, als er 1949 seinen berühmt gewordenen, polemischen Satz formulierte, dass das Schreiben eines Gedichts nach Auschwitz barbarisch sei. Die Kritik eines Gedichts allerdings ebenso – diese Ergänzung wird meist unterschlagen. Kultur und Kulturkritik würden gleichermaßen vom Grauen ablenken. Nur wer sich dieser Widersprüchlichkeit stelle, komme der Wahrheit ein Stück näher.
Kertész, einer der wichtigsten Interpreten der Welt nach dem Holocaust, stellt Adorno vom Kopf auf die Füße: Jedes Gedicht, jeder Roman, jede kulturelle Äußerung müsse, wolle sie nicht heucheln, den Stachel und die Reflexion von Auschwitz in sich tragen. Eine Reflexion, die quälend und provozierend, kalt, hässlich, atonal sein soll. Unversöhnlich gegen den Schreibenden selbst, gegen den Leser und ohne Ergebnis, wie Kertész es jetzt noch einmal formuliert hat:
"Ich will keine Lösung, ich will das zwischen mir und der Welt klaffende Massengrab nicht zuschütten."
Radikal wie kein anderer hat Kertész den Massenmord an den Juden als eine Bankrotterklärung unserer abendländischen Zivilisation verstanden. Für ihn war die Katastrophe des Holocaust kein "Fehler" im System, sondern ein Teil unserer Kultur. In seinem letzten Buch von 2014, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt, ist Kertész mit seinem Vorhaben, die Bedingungen eines "Überlebens nach dem Überleben" zu beschreiben und zu hinterfragen, an einem Endpunkt angekommen, wenn er die menschliche Existenz als Lüge ausweist:
"Das Leben ist ein Irrtum, weil der Mensch seine Existenz auf moralische Prinzipien gründet, obwohl das Funktionsprinzip und die Praxis des Lebens amoralisch sind. Dabei ist der Mensch weder im gesellschaftlichen noch im persönlichen Leben imstande, sich an die von ihm selbst festgesetzten moralischen Prinzipien zu halten. Der Mensch errichtet sein Leben auf der Lüge, weil er nicht anders kann. Der Tod macht zwar der Lüge ein Ende, setzt jedoch nicht die Wahrheit an ihre Stelle, er dient höchstens zum bestürzten Erkennen der Lüge."
Nachdem wegen der schweren Erkrankung des Autors gemutmaßt wurde, dass die vor zwei Jahren erschienenen Tagebücher der Jahre 2001 bis 2009 sein Abschlusswerk gewesen sein könnten, hat Kertész diese jetzt in einen "Tagebuchroman" transformiert. Beide Werke tragen den Titel "Letzte Einkehr". Dahinter steckt eine autofiktionale Konzeption, die Kertész schon 1992 im "Galeerentagebuch" erprobt hat und die bereits seinem "Roman eines Schicksallosen" von 1975 zugrunde liegt. Über diesen Roman, der meist autobiografisch gelesen wurde, heißt es nun im Rückblick:
"Ich begann zu schreiben, brauchte aber noch vier Jahre, um auf jene scheinbar einfache Idee zu kommen, die mir langsam immer lieber wurde: ein ironischer, als private Autobiografie getarnter Roman, der sich der bis zum Überdruss bekannten Lagerliteratur, ja, der Literatur an sich widersetzt."
Eine Literatur, die sich widersetzt – treffender kann man die Kertész'sche Poetik kaum beschreiben. In der Danksagung zu seinem Tagebuchroman nennt der Autor das neue Buch die Krönung seines Werkes. Die ist es wohl eher nicht geworden; es sei denn, der Autor hat mit dieser Formulierung einen Schlusspunkt seiner publizistischen Arbeit gemeint. Der Unterschied zwischen den 450 Seiten starken Tagebüchern und dem um 100 Seiten reduzierten Tagebuchroman ist so groß nicht. Kertész hat die vormals unbearbeiteten Tagebucheinträge redigiert, verdichtet und mit einem weiteren Romanfragment versehen, das sich nun zu dem aus den Tagebüchern gesellt.
Diese Fragmente hatten ursprünglich in einen ebenfalls "Letzte Einkehr" betitelten Roman münden sollen, der davon handelt, wie das Schreiben vergeht und ein Leben erkaltet. Das Scheitern dieses Romans – für eine durchgängige Fiktion habe er keine Kraft mehr gefunden – macht Kertész nun zum Thema. Ein weiteres Beispiel seiner Vorliebe für romantische Ironie. Dass dieser spielerische, experimentelle Zug in vielen Texten des Autors im Kontext des Holocaust verstörend wirkt, ist beabsichtigt.
Kertész schreibt über den herrschenden Antisemitismus in Europa, der sich oft hinter einer fadenscheinigen Israelkritik verstecke. Über Ungarn, in dessen postkommunistischer Entwicklung er früher als alle anderen die antidemokratischen Auswüchse erkannte. Und über seine zeitweilige Wahlheimat Deutschland. Hier führt er nach der Verleihung des Nobelpreises ein Leben in ungekanntem Wohlstand und höchster Anerkennung; zugleich aber wird das Gefühl der Selbstentfremdung immer größer. Kertész sieht sich zum "Holocaust-Clown" verkommen und bekennt:
"Nie hätte ich geglaubt, dass das Leben eines Erfolgsschriftstellers dermaßen ekelhaft ist. Welche Verblendung, welches Gaukelwerk! Am besten nicht mehr davon reden. Am besten, wenn ich niederschreibe, was ich sehe und erlebe; für alles bleibt verflucht wenig Zeit."
Die Zeit, fast rennt sie dem Leser mit davon, wenn von der Parkinsonerkrankung, dem Schwinden der Kräfte im Alter, der Verzweiflung und dem näher rückenden Tod erzählt wird. Teilweise ist Kertész so schwach, dass auch seine Notate holpriger, oder wie er selbst sagt, platter werden. Umso aufbauender sind Momente des Glücks. Neben den Gesprächen mit Freunden und dem Genuss von Musik sind dies fast immer Momente, die mit dem eigenen Schreiben oder der Lektüre zusammenhängen: Nietzsche, Kafka, Thomas Mann und Jean Améry bezeichnet Kertész als seine Lehrmeister.
Wie die ungarische Gesellschaft unterzieht Kertész auch Deutschland, das ihn einst auslöschen wollte, einer sehr präzisen Beobachtung. Einiges von dem, was er zu Beginn des Jahrtausends erahnt hat, scheint heute manifest geworden:
"O Deutschland, das seine moralische Überlegenheit wiedergefunden hat. Wie hübsch."
Es gibt zwei Passagen im Buch, die dem Kertész-Kenner einen Stich versetzen. Man liest dort von der drohenden Gefahr einer Überschwemmung Europas mit Muslimen, die den Kontinent in Besitz nehmen und zerstören würden. Von "selbstmörderischem Liberalismus" und der Tatsache, dass man über all dies nicht öffentlich reden dürfe. Eine Terminologie, die heute auch zum Grundvokabular von NPD und Pegida gehört. Die Textstellen, nur schwach geschützt durch die Autofiktion, belegen auf irritierende Weise, dass auch der hellsichtige Autor nicht frei von Verblendung ist.
Apropos NPD. Als im März der Bürgermeister von Tröglitz unter Drohungen eines NPD-gesteuerten Pöbels zurücktrat und kurz darauf die Flüchtlingsunterkunft im Ort brannte, wird Imre Kertész ganz genau hingehört haben. Denn er war schon einmal dort gewesen – vor 70 Jahren. In Rehmsdorf bei Tröglitz befand sich das Außenlager "Wille", das zum Konzentrationslager Buchenwald gehörte. Nachdem Kertész Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte, war er als 15-Jähriger zur Zwangsarbeit nach "Wille" gebracht worden. In seinem "Roman eines Schicksallosen" erzählt er davon. Fast 6.000 Inhaftierte wurden ermordet, darunter viele ungarische Juden. Nach Ende des Krieges – aus Sicht der aktuellen Tröglitzer Ereignisse eine böse Pointe – wurden die Baracken als Auffanglager für Vertriebene genutzt, das heißt: für deutsche Flüchtlinge.
Imre Kertész: Letzte Einkehr. Ein Tagebuchroman. Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm. Rowohlt Verlag, Reinbek 2015. 349 Seiten, 10,99 Euro.